Die Anthroposophische Gesellschaft in Bremen 1904-1945

Charter der "Theosophischen Gesellschaft Adyar" vom 6.2.1906 für die Loge Bremen, unterzeichnet von Dr.Rudolf Steiner und H.S.Olcott P.T.S.

Vorgeschichte und Gründung

      Die Gründungsurkunde des Bremer Zweiges bezeugt, „daß der Zweig Bremen mit den folgenden Vorstandsmitgliedern

       Herrn Jakob von Känel, als ersten Vorsitzenden,

       Herrn Fritz Hansen als Schriftführer, 

       Herrn Heinrich Schröder als Kassenwart

als ein integrierender Zweig der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft zugelassen worden ist im 3.Monat ihres 31. Jahres.[i]

       Unterschrieben wurde sie von Rudolf Steiner, versehen mit dem Vermerk Eingetragen zu Berlin,  6.II.1906. Ferner trägt die Urkunde eine Unterschrift von H.S.Olcott PTS, dem Gründer und Präsidenten der Theosophical Society. Diese war bereits auf der Urkunde vollzogen worden, als die Zentrale in Adyar Rudolf Steiner als dem deutschen Generalsekretär eine größere Zahl solcher Urkunden zur Verfügung stellte, um nicht durch die langen Postwege zu Wasser unnötige Verzögerungen in Kauf zu nehmen.

         Die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft erfuhren im August 1906 aus den „Mitteilungen“, die Mathilde Scholl herausgab, das folgende:

Die Bremer Loge hat seit Dezember eine sehr rege Tätigkeit entfaltet. Am 8.Dezember v.J. sprach Herr Dr.Steiner in einem öffentlichen Vortrage über die ‚Weisheitslehren des Christentums’; am 5.Februar über ‚Bruderschaft und Daseinskampf’; am 6.Februar wandelte sich die Theosophische Vereinigung in den Zweig Bremen der Theosophischen Gesellschaft; die Loge wurde mit 20 Mitgliedern ins Leben gerufen, jetzt zählt sie 21 Mitglieder und 4 Freunde, die regelmäßig die Sitzungen besuchen. Vorsitzender der Gesellschaft ist Herr J.von Känel, Brandtstrasse 8, Schriftführer Herr F.Hansen, Georgstrasse 37.“[ii]

     Es handelte sich also nicht um eine Neugründung, sondern es bestand vor der Gründungsversammlung eine Theosophische Vereinigung in Bremen, die sich nunmehr der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft an-schloß. Diese Theosophische Vereinigung hatte auch die Vorträge Rudolf Steiners im Dezember 1905 in Bremen veranstaltet. Sie wurde von Mathilde Scholl als „die Bremer Loge“ bezeichnet.

    Der Name Theosophische Vereinigung weist auf einen bestimmten  Ursprung des Bremer Kreises hin. In Elberfeld war am 27.Juli 1884 der erste Versuch unternommen worden, eine theosophische Gesellschaft im deutsch-sprachigen Kulturraum zu begründen.[iii] Abends um 7.06 wurde unter dem Vorsitz des extra angereisten Henry Steel Olcott die Theosophische Societät Germania gegründet. Ihr Präsident wurde Dr.Wilhelm Hübbe Schleiden, die Vizepräsidentin wurde Mary Gebhard, ihr Mann Franz Gebhard wurde Sekretär der kleinen Gesellschaft. Der Societät war kein langes Leben beschieden. Im Dezember 1885 veröffentlichte der Engländer Richard Hodgson einen Bericht in den Proceedings der Society for Psychical Research, in welchem er eine Reihe von unerklärlichen Begebenheiten, die sich im Umfeld H.P.Blavatzkis ereignet haben sollten, als Betrug „entlarvte“. Diese Untersuchung schadete bezeichnenderweise der Theosophie im wissenschaftsgläubigen Deutschland mehr als in dem mehr empirisch ausgerichteten England. Hätte jemand bewußt die junge Gesellschaft in Elberfeld zerstören wollen, er hätte es nicht besser anfangen können. Der Bericht schlug in Deutschland hohe Wogen und selbst der Präsident Wilhelm Hübbe Schleiden verließ bereits im Februar 1886 die Gesellschaft. Für ihn war der Name Theosophie fortan derart diskreditiert, daß er meinte, man dürfe ihn in Deutschland nie mehr benutzen. Bis Ende des Jahres 1886 verließen 18 von 33 Mitgliedern die Societät und sie wurde aufgehoben. 

     Wilhelm Hübbe Schleiden hielt die Fackel der Theosophie weiterhin hoch, indem er mit der Zeitschrift Sphinx, die er noch 1886 gründete, das Interesse wachhielt und viele neue Interessenten gewann. Nachdem er später die Leser der Sphinx aufgerufen hatte, sich enger zusammenzuschließen, und viele zu-stimmende Antworten darauf erhalten hatte, gründete er 1892 in Berlin eine Theosophische Vereinigung. Die Mitglieder waren an der Verbreitung theosophischer Wahrheiten interessiert, erhielten das Vereinsorgan Sphinx zu einem Vorzugspreis, waren aber zunächst in keiner Weise der Theosophical Society (Adyar) angeschlossen oder deren Europäischer Sektion mit Sitz in London. Solche Vereinigungen bildeten sich im Laufe der Neunziger Jahre an mehreren Orten. Leider wissen wir nicht, wann die Bremer Theosophische Vereinigung entstanden ist.

   1894 gründete Wilhelm Hübbe Schleiden in Berlin die Deutsche Theosophi-sche Gesellschaft (D.T.G.), die nun eine Gruppe, ein Zweig der Theosophical Society (Headquarter Adyar) war. Diesen Schritt konnten zunächst viele der Theosophischen Vereinigungen nicht mitgehen. 1899 übernahm Gräfin Sophie von Brockdorff die Leitung der D.T.G. Ein Jahr später lud sie Rudolf Steiner zu Vorträgen in die Theosophische Bibliothek ein.

      Wie es scheint war die Bremer Theosophische Vereinigung eine jener Vereinigungen, die nach 1892 entstanden sind, und die Dr.Hübbe Schleidens 1894 vollzogenen Anschluß an die internationale Theosophical Society aus ihnen geltenden Gründen nicht mit vollziehen konnten. Diese Gruppen wurden von den Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft brüderlich als gleichstrebende Logen oder Zweige angesehen. So war die Eingliederung der Vereinigung ein fast normaler Vorgang und wurde von Mathilde Scholl nicht weiter kommentiert


 [i] Abbildung in „100 Jahre Anthroposophische Arbeit in Bremen und  umzu“. Herausgegeben von Christoph Gädeke. S.6.

[ii] Mitteilungen für die Mitglieder der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (Hauptquartier Adyar) Hrsg.von Mathilde Scholl. No.III, August 1906, S.6, Nachdruck S.28.

[iii] Vgl. dazu: Norbert Klatt. Theosophie und Anthroposophie. Neue Aspekte zu ihrer Geschichte. Göttingen 1993. S.64-65.

 

Rudolf Steiners erstes Wirken in Bremen

     Die ersten mit Sicherheit bekannten Vorträge Rudolf Steiners in Bremen hatten zwei Monate vor der Gründung stattgefunden, am 8. und 10.Dezember 1905.[1] Der erste wurde öffentlich im großen Saal des Gewerbehauses abgehal-ten und hatte das Thema Die Weisheitslehren des Christentums. Der zweite fand an unbekanntem Ort statt vor der kleinen Gruppe der Theosophischen Vereinigung, die Anschluß an die Theosophische Gesellschaft suchte. Sein Thema ist nicht bekannt. Nachschriften liegen von beiden Vorträgen nicht vor. Rudolf Steiner hat die Bremer Loge also schon vor dem Beitritt so behandelt, als wäre sie ein Teil der Theosophischen Gesellschaft und hat vor ihren Mit-gliedern sogar einen internen Vortrag gehalten. Muß er die Gruppe zu diesem Zeitpunkt nicht bereits gut gekannt haben? Es ist daher möglich, ja sogar recht wahrscheinlich, daß Rudolf Steiner schon vor dem Dezember 1905 in Bremen gesprochen hat.

   Zudem ist es ganz unwahrscheinlich, daß die Bremer Theosophen aufgrund einer einmaligen Begegnung im Dezember 1905 spontan einen kurzfristigen Beitritt ihrer Loge für einen Zeitpunkt zwei Monate nachher verabredet haben sollen. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt schon einige Bücher aus der Feder des Doktors erschienen: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens, Das Christentum als mystische Tatsache und zuletzt die Theo-sophie.

      In diesem Zusammenhang ist auch ein Kurzbesuch Marie von Sivers in Bremen zu bedenken[2], den sie auf der Rückreise vom Londoner Kongreß unternahm. Während Rudolf Steiner in Hannover Dr.Hübbe Schleiden aufsuchte5a, fuhr sie am 13.7.1905 nach Bremen. Ein Anlaß oder Ziel dieses Abstechers ist unbekannt.

      Sieben Monate vor Marie von Sivers Besuch datiert eine Anfrage an Rudolf Steiner, ob er nach Bremen kommen könne. Am 10.12.1904 schrieb die Schriftführerin der Theosophischen Vereinigung Bremen[3]:

                                                                                                      

                                                                                       Bremen, d.10.Dec.04

Sehr geehrter Herr Doctor!

Im Auftrage der ‚Theosophischen Vereinigung’ Bremen erlaube ich mir die Anfrage, ob wir Sie wohl um einen Vortrag im Januar 1905 bitten dürfen. Wenn ‚ja’ so wäre es erfreulich,  (aber nicht unbedingt erforderlich), wenn Ihnen der Dienstag, unser gewöhnlicher öffentlicher Versammlungsabend, paßte. Ungünstig für uns würden Montag und Mittwoch sein, da dann unser Vereinslokal nicht frei ist.- Da wir gegenwärtig mit der Aufstellung des näch-sten Vierteljahresprogrammes beschäftigt sind, würden wir für möglichst rasche und hoffentlich zusagende Antwort sehr dankbar sein.

                                                                         Mit hochachtungsvollem Gruß

                                                                                         E. Surborg

 

An diesem Brief ist neben der Anfrage als solcher besonders interessant, worüber Elsbeth Surborg nicht spricht. Auffallend ist, daß sie weder von einem Thema spricht, noch von der Bezahlung. Rudolf Steiner brauchte nur zuzusagen, Datum und Thema zu nennen – alles andere scheint klar gewesen zu sein. Deutet das nicht ebenfalls auf eine bereits seit längerem bestehende Arbeitsbeziehung hin?

      Untersuchungen zur Geschichte des Hamburger Zweiges [4] haben zudem ergeben, daß Rudolf Steiner bereits früher außerhalb Berlins ge-sprochen hat als bislang angenommen wurde. Beispielsweise hat er in Ham-burg nicht erstmals am 24.11.1903 gesprochen, sondern bereits im Sommer 1901, wo er in der alten Hafenstadt einen ersten öffentlichen Vortrag über Goethes Faust gehalten hat. In den folgenden Jahren war er regelmäßig in Hamburg, mehrmals im Jahr. Zeitungsanzeigen und Briefwechsel zu einzelnen Vorträgen liegen vor.

    Da Rudolf Steiner sowohl im Dezember 1905 als auch im Februar, April und November 1906 nacheinander sowohl in Bremen als auch in Hamburg sprach, liegt die Vermutung nahe, daß er auch früher schon seine Aufenthalte in Hamburg mit solchen in Bremen verbunden hat, zumindest in einzelnen Fällen. Mehrfach hat er auch in beiden Städten über dasselbe Thema gespro-chen. Am 23.1.1905 hat er in Hamburg über „Das Wesen des Christentums“ vorgetragen. Er könnte demnach, wie von der Theosophischen Vereinigung gewünscht, am Dienstag, den  24.1.1905, auch in Bremen einen öffentlichen Vortrag gehalten haben. 

      Aus der Schilderung eines Augenzeugen des ersten Hamburger Vortrages6 vom Sommer 1901 mögen hier einige Passagen wiedergegeben werden, da Rudolf Steiners erste Auftritte in Bremen ähnlich verlaufen sein dürften. Auf Anregung der Gräfin Brockdorff war es zur Einladung Rudolf Steiners nach Hamburg gekommen, dessen Vorträge über Nietzsche, über Goethe und über die Mystik die Gräfin sehr gelobt hatte. Der Präsident der am Karfreitag 1898 gegründeten Hamburger Loge, Bernhard Hubo, hatte, ihrer Empfehlung fol-gend alle Verabredungen getroffen. Richard Krause, ein Mitglied des erst drei Jahre alten, 12 Mitglieder umfassenden Zweiges, schreibt unter anderem:

   „Mittlerweile wussten wir, wann der Herr Vortragende in Hamburg eintref-fen sollte und so waren einestags drei oder vier Herren, unter denen ich auch figurierte, am Klostertorbahnhof, um nach Eintreffen des Berliner Nachmit-tagszuges den Herrn Doktor in Empfang zu nehmen.“

  „Nachdem sich so gut wie alles verlaufen hatte und in uns schon leise Zweifel aufstiegen, ob der besagte Herr etwa den Zug versäumt haben könnte, kam da noch ein Herr mit weichem Hut, Lavattié und kleinem Köfferchen, auf den wir zugingen und durch Frage und Antwort beruhigt feststellen konnten, daß der auf großen Plakaten angekündigte Vortrag über Goethes Faust von Herrn Dr. Rudolf Steiner, Berlin, stattfinden würde.“

  „Nach kurzer gegenseitiger Fühlungnahme rief Herr Hubo eine Droschke heran, um mit dem Herrn in seine Wohnung zu fahren – wir anderen verkrü-melten uns und waren abends im Patriotischen Gebäude zum ersten Vortrag Dr.Steiners in Hamburg. Wir hatten gut vorgearbeitet und doch etwa hundert, vielleicht auch hundertfünfzig Menschen auf die Beine gebracht, sodaß der Doktor vor einem gut besetzten Auditorium sprechen konnte. Dr. Steiner sprach damals sehr laut, so wie wir es nicht gewöhnt waren. Der Vortrag wurde gut aufgenommen. Der Beifall am Schlusse war spontan. Wir, als Arrangeure, waren sehr befriedigt, daß sich die Hamburger theosophische Loge vor der Hamburger Öffentlichkeit nichts vergeben hatte. Nach dem Vor-trag gingen wir mit dem Doktor in das Café am Alsterdamm, um das Erlebte im Gespräch nachklingen zu lassen.“

       Über den Inhalt des Gehörten wußte Richard Krause nichts mehr zu sagen, „sei es wegen der Offenbarung von bisher nie gehörten Geheimnissen, sei es wegen der Fülle.

       Was Richard Krause über die Folgen dieses ersten Vortrags in Hamburg weiter zu sagen hat, legt den Gedanken nahe, daß Rudolf Steiner auch in Bremen und anderen Orten schon früher gewirkt hat als angenommen wird. „Diese erste Berührung Dr. Steiners mit Hamburg führte dann zu weiteren Einladungen, bei denen außer einem öffentlichen auch allmählich ein intime-rer im Kreise der Mitglieder folgte, wobei der Doktor jeden Einzelnen mit Händedruck begrüßte (sich am Schluß auch verabschiedete) und so jeden Einzelnen kennen lernte.“

   „Der erwähnte Vortrag [über Goethes Faust] muß meines Erinnerns nach in der warmen Jahreszeit von 1901 stattgefunden haben und war der erste, Ber-lin wohl ausgenommen, in Deutschland. Dann folgten Vorträge in andern Städten, wie Hannover, Leipzig, München, etc. und somit entstand der Gedan-ke die theosophische Arbeit in Deutschland in einer Sektion zusammenzufas-sen.“[5]

    Der Ingenieur Krause beschreibt das Entstehen  jener Arbeitsform, die Rudolf Steiner in den Jahren des Aufbaus der Theosophischen Gesellschaft an vielen Orten angewendet hat. Erst hielt er öffentliche Vorträge, dann folgte „allmählich ein intimerer“ Vortrag. Das Verfahren, nacheinander einen öffent-lichen und einen internen Vortrag zu halten, war nicht nur aus praktischen und wirtschaftlichen Erwägungen sinnvoll, es entsprach zugleich den Bedürfnis-sen. Und schließlich spiegelt sich darin der Impuls, tiefste Esoterik mit größt-möglicher Öffentlichkeit zu verbinden.

    In Hamburg und Leipzig, wo die Verhältnisse dem Autor bekannt sind, konnte „ein intimerer“ Vortrag sowohl heißen, daß Inhalte behandelt wurden, die Rudolf Steiner noch nicht öffentlich behandeln wollte, als auch, daß er eine Form wählte, die nicht voraussetzungslos war und die zu verstehen einer schrittweisen Vorbereitung bedurfte. Sollte er in Bremen bei einer Gruppe, die er nicht kannte und die nicht an die Theosophische Gesellschaft angeschlossen war, einen „intimen“ Vortrag gehalten haben? Erst nach weiteren Einladungen, schrieb Richard Krause, erfolgte „außer einem öffentlichen auch allmählich ein intimerer im Kreise der Mitglieder“. Sollte es in Bremen anders gewesen sein? Oder kannte er „die Bremer Loge“ schon?

    Im April 1906, als Rudolf Steiner in Bremen öffentlich über Theosophie und Tolstoi  sprach, behandelte er z.B. im Mitgliederkreis Freimaurerei. Ob er da-mals über Freimaurerei allein sprach oder auch ein Ritual vollzog, wissen wir nicht. Daß er darüber sprach, deutet darauf hin, daß er eine  rituell arbeitende Gruppe in Bremen oder Norddeutschland aufbauen wollte.


[1] Angaben nach Konrad Donat. Vorträge von Dr.Rudolf Steiner in Bremen im Spiegel bremischer Tageszeitungen. Bremen 2000. – Vgl. auch Rudolf Steiner. Das literarische und künstlerische Werk. Eine bibliographische Übersicht. Dornach 1961. S.223.

[2] Brief von Wilhelm Hübbe Schleiden an Ludwig Deinhard vom 14.7.1905. In: Norbert Klatt. Theosophie und Anthroposophie. Neue Aspekte zu ihrer Geschichte. Göttingen 1993. S.178.

5a Brief vom 14.7.1905, Wilhelm Hübbe Schleiden an Ludwig Deinhard. In: Norbert Klatt. Theosophie und Anthroposophie. Neue aspekte zu ihrer Geschichte. Göttingen 1993. S.178-179.

[3] Elsbeth Surborg an Rudolf Steiner, 10.12.1904. Rudolf Steiner Archiv, Dornach, Akte Zweig Bremen.

[4] R.Speckner. Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft in Hamburg. 1.Band. 1898 – 1914. Hamburg 2006.

[5] Brief von Richard Krause an Dr. Paula Dieterich vom 16.1.1951. Archiv des Zweiges am Rudolf  Steiner Haus.

 

Eine Besonderheit der Bremer Gründung 1906

Das Thema des Festvortrages zur Bremer Gründungsversammlung kennen wir nicht. Daß in dieser Hinsicht nichts Schriftliches erhalten ist, spricht dafür, daß Rudolf Steiner bei der Gründungsversammlung wie später im April über etwas gesprochen hat, das er nicht in der Zeitung gedruckt sehen wollte. Eine gewisse Diskretion hat Rudolf Steiner auch später immer selbst-verständich gewahrt. Zum Beispiel wollte er nicht, daß die nahezu kultischen Eingangsworte, die er den künftigen Lehrern der Waldorfschule bei der Eröffnung der Schule zurief, aufgeschrieben würden. Auch veröffentlichte er den Grundsteinspruch in der Zeitschrift Goetheanum in einer Form, die der Öffentlichkeit angemessener schien als die auf der Weihnachtstagung gesprochene.

       In die Gründung des Bremer Zweiges ist aber andererseits der öffentliche Vortrag zeichenhaft einverwoben, den Rudolf Steiner am Vorabend der Gründungsfeier, also am Montag, dem 5.Februar 1906, im Gewerbehaus über Bruderschaft und Daseinskampf hielt. Leider sind nur Fragmente einer Nachschrift erhalten, die bislang zudem nicht veröffentlicht worden sind. Es ist ein beachtlicher Tatbestand, daß die Worte, die Rudolf Steiner bei der Eingliederung der Theosophischen Vereinigung in die Deutsche Sektion gesprochen hat, ganz verloren gegangen sind und daß von dem Vortrag am Vorabend nichts veröffentlicht wurde. Das Anliegen, das Rudolf Steiner am 5.Februar 1906 öffentlich formulierte, hat aber in der Geschichte des Bremer Zweiges eine große Bedeutung gewonnen.

    Die Bremer Nachrichten brachten eine Besprechung des Vortrags, in der es u.a. heißt:

   „Mit schwerem Herzen sagt sich so mancher: die Bruderschaft ist ein schönes Ideal, aber wie so manche andere Ziele in der Praxis nur zum geringsten Teile zu verwirklichen. Manche menschlichen Gemeinschaften bestanden und bestehen noch heute, um das genannte Ideal im Leben umzusetzen. Zu ihnen ist seit dreißig Jahren die sogenannte theosophische Bewegung getreten, welche über die meisten gebildeten Länder Verbreitung gefunden hat. Sie hat zu ihrem ersten Grundsatz gemacht, den Kern einer allgemeinen Menschenbruderschaft zu gründen. Sie sieht u.a. als eins ihrer wichtigsten Mittel die geistige Vertiefung des Lebens, Empfindens und Denkens an. Ihr ist Bruderschaft nicht bloß eine Forderung, die sich auf Einzelheiten des Lebens bezieht; ihr ist sie das-jenige, was sich ganz notwendig einstellen muß, wenn die Menschen erkennen werden, welches ihr eigentlicher geistiger Wesenskern ist. Sie spricht nicht bloß von dem, was für den Sinn und den Verstand da ist, sondern sie sucht zur Klarheit zu bringen, daß im Menschen geistige Kräfte und Fähigkeiten schlummern, durch welche er Bürger einer unsichtbaren Welt ist. Sie liefert den Beweis, daß der Kampf ums Dasein nur eine notwendige Eigenschaft der niederen physischen Welt ist, daß aber die Einigkeit, die Harmonie sofort sich einstellt, wenn der Mensch sich seinen höheren Kräften hingibt. Es sind gewiß nicht unedle Geister, welche sich dem Glauben hingeben, daß der Kampf ein Vermittler des Menschenfortschrittes sei, daß die Kräfte zum Schaffen und Wirken sich gerade durch den Wettstreit stählen. Eine wirklich auf das Geistige gehende Einsicht wird niemals in die Einseitigkeit verfallen, diesen Wettstreit nur als einen Ausfluß des Unrechtes und der Unmenschlichkeit anzusehen, sie beweist im Gegenteil, daß der Kampf eine notwendige Folge der Gesetze in der physischen Welt ist. Aber sie beweist auch, daß diejenigen, welche allein im Kampfe ein Kulturmittel sehen, nicht berücksichtigen, daß es eine höhere Welt gibt. Die Menschheit verdankt dem rein materialistischen Denken die ganze moderne Kultur, welche in so gewaltiger Art die Naturkräfte in den Dienst des Fortschritts gestellt hat. Aus diesem Denken ist der gegenwärtige Industrialismus und Verkehr geflossen. Sie stammen aus der Erkenntnis der physischen Welt. Und die Menschheitsharmonie, die als notwendige Ergänzung zu dieser äußeren Kultur wird treten müssen, kann auch aus nichts anderem als aus der Erkenntnis stammen. Erkenntnis des Physischen trennt Mensch von Mensch. Erkenntnis des Geistigen aber vereint, denn sie zeigt wie der Einzelne nichts ist, ohne die ganze Menschheit. Reicher Beifall lohnte den Redner.“[1]

     Rudolf Steiner hat auch an anderen Orten über dieses Thema gesprochen. Doch wurde es für die Bremer Mitglieder später besonders wichtig. Da J.G.W. Schröder, der spätere Bremer Zweigleiter, erst am 3.Dezember 1906 in Berlin in die Theosophische Gesellschaft eintrat, hat er diesen Vortrag gewiß nicht gehört. Doch war die Erinnerung an den Vortrag noch lebendig, als er nach Bremen kam. So werden ihm die wesentlichen Inhalte doch erzählt worden sein. Jedenfalls haben gerade die in diesem Vortrag berührten Fragen ihn – wie die weitere Entwicklung zeigt - nachhaltig beeindruckt, wiesen sie doch hin auf die untrennbare Beziehung zwischen der Lösung der sozialen Frage und derjenigen Esoterik, die Rudolf Steiner in der Theosophischen Gesellschaft vermittelte. Doch bevor der Bremer Großkaufmann Schröder im Zweig maßgeblich tätig wurde, gab es zunächst Rückschläge in der inneren Entwicklung des Zweiges.


[1] Aus einer Rezension in den Bremer Nachrichten vom Donnerstag 8.2.1906., Nr.38, S.6. Zitiert nach Konrad Donat. Vorträge von Dr. Rudolf Steiner in Bremen im Spiegel bremischer Tageszeitungen. Privatdruck des Novalis-Zweiges der Anthroposophischen Gesellschaft. Bremen März 2000. S.10-11.

 

Rückschläge 1906-1909

      Wie es scheint, war der Beschluß zur Umwandlung der Vereinigung in ein Glied der Theosophischen Gesellschaft ein Mehrheitsbeschluß. Jedenfalls stellte sich im Laufe der nächsten zwei Jahre heraus, daß ein großer Teil der Mitglieder mit der Arbeit des jungen Zweiges so unzufrieden war, daß sie ihn wieder verließen. Nach 2½ Jahren waren von 21 Mitgliedern noch 11 übrig geblieben, darunter sicher auch Neueingetretene. Wohl mehr als die Hälfte derer, die zunächst eingetreten waren, waren wieder ausgetreten.[1]

    Das spiegelt sich auch in ständigen Veränderungen der Verantwortlichen und des Arbeitsortes wider. Im März 1906 war Herr Jakob von Känel verant-wortlich, man arbeitete zunächst im Haus des Herrn von Wöbcken, Mende-strasse 16. Erbauungsabende und Studienabende (Rudolf Steiners Theosophie und Aus der Akashachronik) wechselten einander ab. Die Mitglieder trugen einander selbst Erarbeitetes vor.

    Im Januar 1907 erfahren wir, daß die Sitzungen nunmehr im Haus des     I.O.G.T., Georgstraße 23, stattfinden. Das war das Haus des Guttempler-Ordens, der sich besonders Alkoholkranken, Suchtgefährdeten und ihren Angehörigen zuwendet. „Die Tätigkeit unserer Loge spielte sich mehr in ernster Arbeit innerhalb derselben ab als in größeren Vorträgen vor der breiten Öffentlichkeit. Die Vortragenden versuchten ihr Bestes zu geben, und die rege Diskussion nach den Vorträgen bewies, daß das Leben in der Loge zu den schönsten Hoffnungen berechtigt; zu Hoffnungen, daß die geistige Kraft, die jetzt in engerem Kreise sich sammelt, in nicht allzu ferner Zeit sich auf ein großes und weites Arbeitsfeld ergießen wird. Die Harmonie in der Loge, ohne die alles Leben und alle Kraft theosophischen Strebens nie zur vollen Blüte sich entfalten kann, ist eine solche wie man sie nur wünschen kann. Im Laufe des Sommers hatten wir auch die Freude, den Vorsitzenden des Pythagoras-Zweiges Hamburg, Herrn Bernhard Hubo unter uns begrüßen zu können, welcher die Loge durch einen Vortrag erfreute.“[2]

     In diesen kurzen Bemerkungen, die 10 Monate nach der Eingliederung der Vereinigung in die Theosophische Gesellschaft niedergeschrieben wurden, klingt das Thema des Zusammenhangs von innerer Vertiefung und äußerem Wirksamwerden bereits im ersten Satz wieder an. Die Inhalte, die im Zweig behandelt wurden, waren folgender Art: Am 19. und 20.November 1906 hielt Rudolf Steiner zwei Vorträge, öffentlich über Parzifal und Lohengrin sowie intern über Lucifer und die Kinder des Lucifer. Beide wurden an zwei Abenden am 6. und 16.November durch Darstellungen der Mitglieder zu den Themen vorbereitet. Im Dezember und Januar gab es neben zwei literarischen Abenden und einem undefinierten „Erbauungsabend“ Vorträge über Der Mormonismus und seine Philosophie, Die Mythologie der Griechen und RömerIbsen und schließlich über Dantes Göttliche Komödie. Die Arbeit war also deutlich an literarischen und kulturgeschichtlichen Interessen ausgerichtet.

    Am 1.März 1907 wurde die bisherige Leitung des Zweiges abgewählt. Nur der Lehrer Heinrich Schröder, der bislang Kassenwart gewesen war, wurde nunmehr Schriftführer. Als Präsidentin der jetzt 17 Köpfe zählenden Gruppe wurde erkannt Clara Wöbcken. Gustav Wöbcken wurde Vizepräsident. Die Zusammenkünfte fanden weiterhin am selben Ort statt, in der Mendestrasse 16, wo Herr und Frau Wöbcken wohnten.[3]

    Schon am 5.September desselben Jahres 1907 wechselte die Leitung erneut. Die Gründe scheinen in einigen die Ankündigung eingangs begleitenden Worten angedeutet zu sein: „Die Loge ist bestrebt, die theosophischen Ideen mehr als bisher in die Öffentlichkeit zu bringen. Freunde haben zu den Logenabenden stets freien Zutritt. Zur Einführung in die theosophische Weltanschauung beginnt jeder Abend mit einem kurzen Vortrage, in dem theosophische Grundbegriffe zur Besprechung kommen. Nach dem Vortrage wird gelesen aus der Zeitschrift Lucifer: Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten. Davor wurde gelesen aus dem Buche Eduard Schurés: Die großen Eingeweihten.“[4]

Herr und Frau Wöbcken legten ihr Amt nach 6 Monaten nieder – wegen Wohnungswechsels, wie es heißt – und es wurden ersatzweise gewählt als 1.Vorsitzende Fräulein Adelheid Friederichs (Mendestrasse 3), als 2.Vorsitzende Schwester Luise Hesselmann (Lüneburgerstrasse 12).

Die Mitgliederzahl war in den 6 Monaten seit Januar von 17 auf 12 gesunken. Der Wohnungswechsel der bisherigen Gastgeber machte auch die Suche nach einem neuen Versammlungsort nötig. Er wurde zunächst gefunden im Casino, Auf den Häfen 106.

    Durch die Krankenschwester Luise Hesselmann kam eine durchtragende ruhige Kraft in die Führung des Bremer Zweiges. Über lange Zeit blieb sie in der Verantwortung, reiste zu den Generalversammlungen nach Berlin und sorgte so dafür, daß dauerhafte Verbindungen zu anderen Zweigen geknüpft und gepflegt werden konnten. Möglicherweise ging auch eine Änderung der Thematik von ihr aus.

    Der nächste Bericht vom Jahresende 1908 hellt das Bild des Niederganges nicht auf, sondern markiert eher den Tiefpunkt. Die Verantwortlichen und der Ort der Zusammenkünfte haben sich nicht geändert. Doch trifft man sich nicht mehr wöchentlich, sondern vierzehntägig, jeden ersten und dritten Freitag eines Monats. Von diesen beiden Veranstaltungen ist die erste öffentlich, die zweite intern. Es gab also nur einen Zweigabend im Monat. Unter den Themen nimmt die Behandlung des Christentums eine zentrale Rolle ein: „An den Logenabenden wurden gelesen: Das Christentum als mystische Tatsache, Die Erziehung des Kindes, ‚Zwei Vorträge über die Meister’. Am 7.Dezember sprach Herr Dr.Steiner für die Loge. Öffentlicher Vortrag: Paulus und die Theosophie. Logenvortrag: Die geistigen Hierarchien. Am 29.November hielt Herr von Damnitz aus Elberfeld einen öffentlichen Vortrag über das Thema: Die Bedeutung des Christentums für die Gegenwart und Zukunft der Menschheit. Jeder erste Freitag eines Monats ist von der Loge für einen öffentlichen Vortrag bestimmt. Als solchen hielt Frl. Friederichs den ersten am 5.Februar. Thema: Der Gottesgedanke.“[5] Die Zahl der ordentlichen Mitglieder hatte sich 1908 weiter auf die bereits erwähnten 11 Personen verringert.

    Im Laufe des Jahres 1908 scheint auch eine Begegnung des Großkaufmanns Johannes G.W. Schröder mit Rudolf Steiner stattgefunden zu haben, über die noch zu berichten sein wird. Möglicherweise hat sie dazu geführt, daß Schröder sich nun intensiv in den Zweig einbrachte.


[1] Mitteilungen (Scholl) No.VIII, Dezember 1908, S.1, Nachdruck S.89.

[2] Mitteilungen (Scholl) No.IV, Januar 1907, S.6, Nachdruck S.36.

[3] Mitteilungen (Scholl) No.V, August 1907, S.13, Nachdruck S.53.

[4] Mitteilungen (Scholl) No.VI, Februar 1908, S.10, Nachdruck S.70.

[5] Mitteilungen (Scholl) No.IX, März 1909, S.6, Nachdruck S.112.

 

Begegnungen im Zug

   Johannes Gottfried William Schröder war am 4.März 1870 in Kalkutta in Indien geboren worden. Er entstammte einer wohlhabenden Kaufmannsfami-lie. Sein Bruder Rudolf Alexander Schröder, der als Dichter bekannt geworden ist, wurde 8 Jahre nach ihm geboren. Sieben weitere Geschwister waren um die beiden herum. Da er sich in seinen Lebenserinnerungen selbst als Johannes bezeichnet, scheint das sein Rufname gewesen zu sehen.[i]  Johannes Schröder wurde als Zweijähriger nach Bremen zurückgebracht, wo er im weiteren Familienkreise aufwuchs. Die künstlerische Begabung des phantasiereichen Knaben führte ihn auf die Münchener Akademie. Als er bemerken mußte, daß sein Talent nicht ausreichen würde, kehrte er zum Kaufmannsberuf zurück. Einem schweren Jahr in Hamburg als Volontär folgten Reisen nach Indien, Japan, China, Kanada und den U.S.A. Besonders nachhaltig beeindruckte ihn der indische Weise Bhaskarananda Swami in Benares. Über lange Zeit hatte er ein rein im Innern sich abspielendes Schüler-Verhältnis zu ihm. Seine Herzenskräfte verbanden ihn auf nichtsinnliche Weise mit dem Swami.

    Etwa 1899 ließ er sich in Schanghai nieder, wo er eine eigene Firma betrieb. Dort wurden ihm auf merkwürdige Weise englische theosophische Schriften zugespielt.

   1905 verließ er China, kehrte nach Deutschland zurück und wurde 1906 vorübergehend im Auswärtigen Amt in Berlin tätig. Auf der Fahrt nach Berlin kam es zur ersten Begegnung mit Rudolf Steiner, dessen Bücher er schon in China kennengelernt hatte, den er jedoch nicht erkannte:

   "Da fuhr ich dann eines Tages, es wird im Herbst 1906 gewesen sein, mit meiner Frau auf der Bahn nach Berlin, um dort endlich auch diesen Dr. Steiner aufzusuchen, und um die mir versuchsweise vorgeschlagene Tätigkeit am Auswärtigen Amt zu übernehmen. In der Gegend von Jena stieg ein Herr zu uns in unser Abteil 2.Klasse, der einen merkwürdigen Eindruck auf mich machte. Ich hatte mich bisher gewohnheitsmäßig damit beschäftigt, auf meinen Reisen die Mitreisenden nach ihrem Wesen Art und Beruf einzuschätzen, und dann zu versuchen, durchs Gespräch oder sonst wie heraus zu bekommen, ob und inwieweit meine Beobachtung stimmte.

   Dieser Mensch ließ sich nun absolut in gar keine der gewohnten Ordnungen einklassieren. Nicht einmal seine Nationalität ließ sich mit Sicherheit feststellen. Er war nicht eigentlich auffallend, äußerlich sogar eine recht bescheidene Erscheinung. Aber alles an ihm erschien mir erstaunlich und bemerkenswert. Ich machte meine Frau aufmerksam auf ihn und bat sie ihn ebenfalls zu beobachten. Er bestellte eine Tasse Kaffee und aß dazu ein Nienburger Biskuit mit solcher Hast und Gleichgültigkeit, daß man merkte, er legte auf die äußeren Dinge des Lebens wenig Wert. Das gleiche verriet seine Kleidung, die sehr wenig gepflegt aussah, ein ziemlich abgetragener Gehrock und eine fliegende schwarze Krawatte. Sein Gepäck bestand in einem in ein Netz geschnürtes Bündelchen, in dem hauptsächlich Bücher zu stecken schienen. Aus dem Titel eines alten Schmökers, in den er sich sofort vertiefte, konnte ich sehen, daß es das Werk eines unbekannten alten Mystikers war. Vom Schaffner, der ihn mit Herr Doktor anredete, wurde er sehr höflich behandelt. Er hatte lange nach hinten gekämmte dunkle Haare, die ihm häufig ins Gesicht fielen. Sein Gesicht war hager, lebhaft, geistvoll und tief gezeichnet von vielem Erleben. Eine scharfe, schön gezeichnete Nase, einen feinen Mund mit schmalen Lippen und merkwürdige dunkelbraune Augen – hatte der Mann. Sie erschienen klein und rötlich und waren wie nach Innen gekehrt, - aber wenn er plötzlich aufsah, dann erschienen sie groß und fast streng, wie das durchbohrende Auge eines großen Feldherrn. Er schien sich um die Mitreisenden nicht im geringsten zu kümmern. Deswegen berührte es mich höchst eigentümlich, dass er sofort und in einer Art liebevoller Anteilnahme in das helle Gelächter meiner Frau einstimmte, als diese bei einem Schwanken des Zuges etwas Kaffee verschüttet hatte. Ich war erstaunt, welche Güte aus diesem ernsten Gesicht strahlen konnte, wie harmlos heiter dieser Denker zu lachen vermöchte. Ich urteilte: ‚Er schließt sich also doch nicht ab, sondern nimmt menschlich regen Anteil an seiner Umgebung und hat uns längst seinerseits beobachtet.’ In Jena stieg der Unbekannte aus , und wir fuhren weiter.[ii] 

    In Berlin suchte Schröder im Oktober Rudolf Steiner auf und erkannte in ihm den unbekannten Mitreisenden wieder. Am 3.12.1906 wurde er Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. So konnte er Steiner im Winter 1906/07 oft hören. Während dieser Zeit lebte er aber in Berlin, so daß er zunächst noch nicht an den Schicksalen des Bremer Zweiges teilnahm.

   Nach einem Zeugnis Karl Langs soll J.G.W.Schröder Rudolf Steiner im Jahre 1908 im Speisewagen des Orient-Expresses näher kennengelernt haben, und zwar auf der Strecke von Wien nach Paris. Schröder sei von einer Geschäftsreise aus China zurückgekehrt. Karl Lang schreibt:

   „Um 1908 muß es gewesen sein, als Herr Schröder mit seiner Frau im Speisewagen des Orientexpress saß, der vom Osten kam und in Richtung Paris fuhr. In Wien stieg eine Persönlichkeit mit langem Gehrock in den Wagen und setzte sich zu ihm und stellte sich als Dr.Steiner vor. Ein gutes Gespräch bahnte sich an. Der neue Fahrgast erkannte bald, daß er Ostasienkenner vor sich hatte. Die Unterhaltung ergab, daß Ost und West als Gegensätzlichkeit erlebt werden müßten. In diesem Gespräch nahmen Herr und Frau Schröder den Kontakt zu Rudolf Steiner und damit zur Anthroposophie auf. Sie wurden dann im Jahre 1910 eifrige Leser des von Rudolf Steiner neu erschienenen Buches ‚Die Geheimwissenschaft im Umriß’.“[iii]

    Offenbar vermischt Karl Lang hier verschiedene Erinnerungen, die ihm Schröder selbst erzählt haben mag. Schröders eigene Darstellung muß als authentisch gelten. Karl Lang lernte J.G.W. Schröder erst Ende 1921 kennen und siedelte zwei Monate später auf das Gut Heidberg in Lesum um, auf dem Johannes Schröder mit seiner Familie, seiner Frau Adele und sieben Kindern, lebte. Schröder verkörperte die besten Traditionen des hanseatischen Kaufmanns. Er war ein Weltmann, von großem Interesse an allem was in der Welt geschah, von ebenso tiefer Innerlichkeit beseelt, die sich in seinem sozialen Engagement zeigte. So erlebte ihn Karl Lang.

   Das Gespräch mit Rudolf Steiner, wann immer es stattgefunden haben mag, nahm scheinbar ein Thema voraus, das erst mit dem Ersten Weltkrieg ins volle Bewußtsein der Öffentlichkeit trat. Doch knüpfte es zugleich an die tieferen Impulse des Münchner Kongresses von 1907 an. Rudolf Steiner hatte ja 1907 die Fruchtbarkeit seiner rosenkreuzerischen Lehrart vor den europäischen Theosophen, die überwiegend von der orientalisierenden Theosophie Annie Besants geprägt waren, demonstriert. Und es war seither allen deutlich, daß es zwei Strömungen in der Theosophischen Gesellschaft gab. Schröder und seine Frau lebten ohnehin in dem Bewußtsein, in diesen Weltgegensatz hineingestellt zu sein. Daher konnten sie das Spezifische des christlich-rosenkreuzerischen Weges Rudolf Steiners anders schätzen als viele andere Mitglieder.   

    Möglicherweise hat es ein solches Gespräch gegeben, wie es Karl Lang beschreibt, es war aber sicher nicht die erste Begegnung. Es könnte das Erlebnis gewesen sein, von dem die innere Erneuerung in Bremen ausgegangen ist, bei der Johannes Schröder sicher eine wichtige Rolle gespielt hat.


[i] Über Internet wurde dem Autor zugänglich: Das Leben des Johannes. Von J.G.W. Schröder. Niedergeschrieben ca.1940. 69 S.

[ii] dito,S.

[iii] Karl Lang. Lebensbegegnungen mit Lebensbetrachtungen. Selbstverlag. Benefeld. 2.Aufl.  1982. S.50.

Aufbruch des Zweiges 1909-1911

    Über die Arbeit des Bremer Zweiges im Frühjahr 1909 gibt es leider keinen Bericht in den Mitteilungen, den einzigen Anhaltspunkt gibt die stark gewachsene Zahl der Mitglieder. Im Oktober zur Zeit der Deutschen Mitgliederversammlung, umfaßte der Zweig 16 Mitglieder, also rund die Hälfte mehr als ein Jahr früher.

     Der nächste Bericht in den Mitteilungen erfolgt erst im Januar 1910. Er beginnt mit einem merkwürdigen Hinweis. „Nach längerer Ferienzeit nahm unsere Loge ihre Arbeit am 6.November 1909 wieder auf.“ Was soll man unter der langen Ferienzeit verstehen? War damit gemeint, daß längere Zeit nur ein Zweigabend in der Woche stattgefunden hatte? Oder hatte schließlich einige Zeit gar keiner stattgefunden? Jetzt, Ende 1909, arbeitete man jedenfalls wieder wöchentlich. Wer hatte den Impuls dazu gegeben? Der Bericht lautet: „Nach längerer Ferienzeit nahm unsere Loge ihre Arbeit am 6.November 1909 wieder auf. An diesem Tage hielt unser verehrter Herr Dr.R.Steiner einen öffentlichen Vortrag über das Johannesevangelium im Gewerbehause. Am 7. November sprach Herr Dr. Steiner in der Loge über Karma. Am 12., 13. und 14. November hielt Frau Wandrey Logenvorträge, in welchen sie die Vertiefung des Christentums durch die Theosophie behandelte. An den ferneren Logenabenden wurden die Münchener Vorträge von Herrn Dr. Steiner, nach Notizen bearbeitet, vorgelesen. Unsere Loge umfaßt 15 Mitglieder. Sie tagt Freitag abends in der Humboldtstrasse 27.“[1]

    In diesen Worten wird ein neuer, herzlicherer Ton vernehmlich, besonders hervortretend in dem „unser verehrter Herr Dr.R.Steiner“. Andererseits ist der kurze Bericht von einer knappen Strenge durchzogen und zeugt von humor-voller Selbstkritik („längere Ferienzeit“). Ein neuer Geist ist spürbar in Bremen eingezogen.

    Wer auch immer in Bremen den Impuls zu einem Neuanfang gegeben haben mag, starke Wirkung ging sicher auch von Camilla Wandrey aus, einer 1859 geborenen, erfahrenen Theosophin, die aufgrund ihrer vermögenden Verhältnisse sich ganz der Theosophie widmen konnte und an verschiedenen Orten wichtige Impulse gegeben hat, außer in Bremen zum Beispiel in Hamburg, in Dresden, in Görlitz. Sie hatte auch 1906, als sie in Lugano wohnte, Vorträge von Annie Besant über Theosophy in relation to human life ins Deutsche übersetzt.[2] Später lebte sie einige Jahre in Hamburg (1913/14) und man hat ihr dort sogar längere Zeit die Gestaltung der Zweigarbeit anvertraut.

    Im Mai 1910 nahm Johannes Schröder zusammen mit sieben weiteren Bremer Mitgliedern an Rudolf Steiners Vortragszyklus Die Offenbarungen des Karma in Hamburg teil. Acht von fünfzehn Bremer Mitgliedern konnten eine Woche lang Rudolf Steiner erleben. Es muß ein weiterer mächtiger Einschnitt im Leben des Zweiges gewesen sein.

   Das Protokoll der Generalversammlung am 30.Oktober 1910 verzeichnet 21 Mitglieder in Bremen. Wieder hat Schwester Luise Hesselmann den Zweig vertreten.[3] Wie es zu dieser raschen Mitgliederzunahme um ein Drittel kommen konnte geht aus dem Bericht im Dezember hervor. Regelmäßige öffentliche Vorträge und eine regelmäßige interne Arbeit kennzeichnen den Neuanfang. Endlich konnten neue Zweigräume am Altenwall gemietet werden.

   „In den Logensitzungen wurden von Januar bis Ende Oktober Vorträge von Herrn Dr.Steiner oder Nachschriften solcher gelesen. Im November tagte die Loge zum ersten Mal in ihrem neuen von einem Mitgliede besonders für diesen Zweck gemieteten Lokal am Altenwall 10, wo die für diesen Winter regelmäßig von Frau Wandrey an jedem Freitag Abend 8½ Uhr gehaltenen öffentlichen Vorträge stattfinden. Am Sonnabend nachmittag 5½ Uhr spricht Frau Wandrey daselbst für die Logenmitglieder; am 26.November sprach Herr Dr.Steiner ebenfalls am Altenwall 10 für die Loge, am 27. öffentlich in der Kunsthalle über ‚Erkenntnis und Unsterblichkeit’. Beide Vorträge waren gut besucht, und es hatten sich zu denselben zu unserer Freude viele auswärtige Gäste eingefunden. Unsere Mitgliederzahl beträgt jetzt 21.“

   „In den Logensitzungen hat man sich seit Januar mit dem folgenden beschäftigt: Es wurden vorgelesen: 1. Das Johannesevangelium (Dr.R.Steiner),  2. Bearbeitungen nach Vorträgen von Herrn Dr.Steiner: Kasseler Vorträge, die geist. Hierarchien, Akashachronik, Welt, Erde und Mensch (Stuttgart). 3. Wert der Theosophie in der Welt der Gedanken (Frau Besant). 4.Das esoterische Christentum von Frau Besant  5.Nachschriften aus den Nürnberger Vorträgen über die ‚Apokalypse’.“[4]

    In diesem Bericht tritt die starke Bedeutung von Camilla Wandrey in dieser Zeit deutlich hervor. Sie hielt an jedem Freitag Abend einen öffentlichen Vortrag. Auf ihre Vertrautheit mit dem Werk Annie Besants dürfte es auch zurückzuführen sein, daß deren ‚Esoterisches Christentum’ gelesen wurde. Der Vergleich mit Rudolf Steiners Apokalypsevorträgen und denjenigen über das Johannesevangelium wird manchem die Augen geöffnet haben über die Unter-schiede der Ansichten. Diese genaue Kenntnis der Lehren beider Persönlich-keiten war eine gute Voraussetzung, um in den bald losbrechenden Stürmen mit dem eben neu aufblühenden Zweig die Richtung zu halten.

    Während zu dieser Zeit, also im Dezember 1910, noch Frl. Adelheid Friederichs als Vertreterin des Bremer Zweiges genannt wird, taucht im November 1911 zum ersten Mal der Name J.G.W. Schröder, Altenwall, Contrescarpe 5 als Vertreter des Bremer Zweiges auf.[5] Wann und unter welchen Umständen diese Änderung erfolgt ist, wissen wir nicht. Doch dürfen wir davon ausgehen, daß er über längere Zeit bereits seinen weltmännischen Stil und seine humorvolle Güte in das Zweigleben eingebracht hat, so daß ihm diese Aufgabe wie eine reife Frucht in den Schoß fiel.

   Vom 10.-12.11.1911 kam Rudolf Steiner zu Vorträgen über Hamburg nach Bremen. Auf dem Wege scheint er in Hittfeld bei der Familie des Ingenieurs Krause Station gemacht zu haben. Denn Hildegard Berg (1899-1993) erinnerte sich im hohen Alter, wo bekanntlich die Erinnerungen aus der frühen Jugend wieder frisch hervortreten, dass sie als zwölfjähriges Mädchen bei ihrem Onkel in Hittfeld war und auf dem Schoß Rudolf Steiners sitzen durfte. Die kleine Anekdote, die ich Christoph Gädeke verdanke, wäre vielleicht nicht der Erinnerung wert, wenn sie uns nicht daran gemahnen könnte, dass zwischen den "wichtigen Terminen" Rudolf Steiners auch noch ein vielfältiges Privatleben sich abgespielt hat, von dem wir nur hier und da einern Zipfel erhaschen.   

An der Generalversammlung in Berlin am 10.Dezember 1911 nahm zunächst weiterhin Frl. Luise Hesselmann als Delegierte für den Bremer Zweig teil.[vi] Sie repräsentierte 23 Mitglieder. Diese beiden Persönlichkeiten, Schröder und Hesselmann, prägten weit über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus die Geschicke des Zweiges, der eine ruhige Aufwärtsentwicklung durchmachte.


[1] Mitteilungen (Scholl) No.X, Januar 1910, S.18, Nachdruck S.136.

[2] Brief von Camilla Wandrey an Wilhelm Hübbe Schleiden vom 1.7.1906. Universitäts-Bibliothek Göttingen. Cod.MS.W.Hübbe Schleiden 331:643.

[3] Mitteilungen (Scholl) No.XI, Dezember 1910, S.1, Nachdruck S.149.

[4] Mitteilungen (Scholl) No.XI, Dezember 1910, S.10, Nachdruck S.159.

[5] Mitteilungen (Scholl) No.XII, November 1911, S.13, Nachdruck S.181.

[6] Mitteilungen (Scholl) No.XIII, März 1912, S.2, Nachdruck S.186.

 

Von der Theosophischen zur                                             Anthroposophischen Gesellschaft

    Seit Annie Besant wahrgenommen hatte, welche Kraft in der noch jungen Deutschen Sektion sich entfaltete, begann sie um ihre Position in der Theoso-phischen Weltgesellschaft zu fürchten. Ihr Stolz ertrug keinen Gleichrangigen neben sich. Dies war ihr wohl nicht oder zumindest nicht voll bewußt, verbarg sich aber hinter allerlei Gründen, die sie für ihre Gegnerschaft zu Rudolf Steiner angab.

   Als Mrs. Besant nach dem Tode von Henry Steel Olcott, dem Gründer und lebenslangen Präsidenten der T.S. eine Empfehlung Olcotts, sie (Annie Besant) zu seiner Nachfolgerin zu erwählen, verbreiten ließ, war jedem Einsichtigen deutlich geworden, daß Miss Besant gefährdet war. Sie berief sich nämlich darauf, daß Olcott auf dem Sterbelager einen Besuch der Meister empfangen habe, die ihm nahegelegt hätten, er möge sie, Annie Besant, zur Wahl vorschlagen. Diese Erklärung war ebenso unwahrscheinlich wie unzulässig. Sie war unwahrscheinlich, weil geistige Wesen sich nicht in rein irdische Angelegenheiten mischen, wie es die Wahl einer Vereinsvorsitzenden eben ist. Hier lag offenkundig eine elementare Erkenntnisunsicherheit über die Verhältnisse in der geistigen Welt vor. Die Ankündigung war zudem unzulässig, da Annie Besant damit Druck auf die Mitglieder ausübte, sie zu wählen. Damit hatte sie gegen eines der fundamentalen Gesetze des Geistesschülers in eklatanter Weise verstoßen, das in einer klassischen Formulierung lautet: „Richte jede Deiner Taten, jedes Deiner Worte so ein, daß durch Dich in keines Menschen freien Willensentschluß eingegriffen wird.“[1]

    Vor dem Münchner Kongreß war daher vorauszusehen, daß eine weitere Unterordnung der westlichen Schule Rudolf Steiners unter die östliche Annie Besants zu künftigen Schwierigkeiten führen müsse. Während des Münchner Kongresses trennte deshalb Rudolf Steiner im Einvernehmen mit Annie Besant seine Schule von der ihren und stellte jeden Schüler vor die Entscheidungsfrage, welcher Schule er künftig angehören wolle.[2]

   Annie Besant suchte nun den wachsenden Einfluß Rudolf Steiners zurückzu-drängen und griff dabei zu immer bedenklicheren Mitteln. Sie begünstigte den kleinen Staatsstreich der französischsprachigen Genfer Logen, die eine Schweizer Sektion gegründet hatten und in der Satzung den französischsprachigen Logen dauerhaft die Majorität verschafft hatten. Die deutschsprachigen Logen in der Schweiz hatten an der Abfassung des Doku-ments keinen Anteil, sollten aber nun nach dem Willen Annie Besants in die ohne ihre Zustimmung gegründete Sektion einbezogen und damit dem Einfluß der Deutschen Sektion, das heißt Rudolf Steiners, entzogen werden. Obwohl in der Gründungs-Charter der Deutschen Sektion die Loge Lugano aufgezählt wird und der Bereich der Schweiz als zur deutschen Sektion gehörig bezeichnet wird, ignorierte Annie Besant alle Einwände.[3]

    In dem Maße wie Rudolf Steiner von dem Wiedererfahrbarwerden des Christus im Ätherischen zu sprechen begann, entfaltete sie eine Agitation für eine angebliche physische Wiederkehr des Christus. Dabei ließ Annie Besant ihre Hörer und Leser darüber im Unklaren, daß sie gar nicht den wirklichen Jesus von Nazareth meinte, von dem die Evangelien sprechen. In ihrer Schau konnte sie den Christus der Zeitenwende nicht finden. Sie schloß daraus, es müsse sich in der Bibel um eine Verwechslung handeln. Christus müsse hundert Jahre früher gelebt haben im Leibe eines gewissen Jesus ben Pandira. Dieser verkörpere sich jetzt wieder. So sagte sie zwar nicht: Jesus von Nazareth verkörpere sich wieder, sondern bloß Jesus ben Pandira, der 100 Jahre früher gelebt hatte. Aber den identifizierte sie mit dem Christus. Und sie fand auch einen Hindu-Knaben, von dem sie behauptete, er werde der Weltlehrer werden, er, der Stern des Ostens. Für die Vorbereitung seiner angeblichen Weltaufgabe schuf sie einen Orden des Sterns im Osten, der als Organisation völlig getrennt von der Theosophischen Gesellschaft war, der aber natürlich stark in ihren Kreisen wirksam wurde.

     Einer geistigen Auseinandersetzung um diese Fragen auf dem angekündigten Kongreß der Europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft in Genua wich sie kurz vor Michaeli 1911 aus, indem sie ihre Teilnahme absagte. Die Formulierung ihres Telegramms war aber derart, daß der italienische Generalsekretär glauben konnte, den ganzen Kongreß im letzten Moment absagen zu müssen, so daß viele Theosophen, die bereits auf der Anreise waren, unverrichteter Dinge zurückkehren mußten und vor allem Rudolf Steiner seine Sicht der Dinge nicht vor der Weltgesellschaft darlegen konnte. Da eine geistige Auseinandersetzung nicht möglich war, blieb Rudolf Steiner nichts anderes übrig als die Mitglieder des Sternenordens von den Kreisen der Deutschen Sektion durch Ausschluß fernzuhalten.[4]

    In ihrer zunehmenden Verblendung folgte Annie Besant Einflüsterern, wie vor allem Dr. Wilhelm Hübbe Schleiden[5], die behaupteten, Rudolf Steiner halte aufgrund einer jesuitischen Schulung an dem traditionellen Christusbild fest. Entsprechende Behauptungen streute sie mündlich und gab diese ungeheuerliche Unterstellung, die jeder realen Grundlage entbehrte, schließlich auch mehrmals öffentlich kund, besonders deutlich in der Eröffnungsrede der Jahresversammlung in Adyar am 26.12.1912: „Deutschland bereitet uns Sorgen. Der deutsche Generalsekretär, der von den Jesuiten erzogen worden ist, hat sich nicht hinreichend von diesem verderblichen Einflusse freimachen können, um in seiner Sektion Meinungsfreiheit zu erlauben...“[6]


[1] Rudolf Steiner. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? G.A.10, Dornach 1975, S.29 (Kapitel ‚Innere Ruhe’)

[2] Vergleiche Brief an die Mitglieder des Vorstandes der Deutschen Sektion der Theos. Gesellschaft, Berlin 28.4.1907. G.A.264, S.299-307 und Esoterische Stunde München 1.6.1907 in  G.A.264, S.321-333, bes.S.328ff.

[3] Offener Brief der Schweizer Zweige an Mrs.Besant vom 12.1.1913. Mitteilungen (Scholl)  No.XV, Januar 1913, S.16-17, Nachdruck S.274-275. Vgl. auch Eugène Levy, Mrs.Annie Besant und die Krisis in der Theosophischen Gesellschaft. Leipzig 1913. S.39-44.

[4] Eugène Levy, Mrs.Annie Besant und die Krisis in der Theosophischen Gesellschaft. Leipzig 1913. S.88-129.

[5] Notizblatt W.Hübbe Schleiden, April 1912. Uni-Bibliothek Göttingen, Cod.MS W.Hübbe Schleiden 405, Nr.40.

[6] Manuskript von unbekannter Hand mit Überarbeitungen von Wilhelm Hübbe Schleiden. Uni-Bibliothek Göttingen, Cod.MS W.Hübbe Schleiden 757:4.

    Dies war der Augenblick, in dem Rudolf Steiner vom Vorstand der Deutschen Sektion erwartete, daß er zu einer Handlung schreite. Und der Vorstand traf sich am 8.Dezember 1912, also knapp drei Wochen vor der Generalversammlung, die traditionell in Adyar stattfand, und beschloß, telegraphisch eine Anklage vorzubringen und die Resignation Annie Besants zu fordern: „Auf Grund dieser Erkenntnis, daß die Präsidentin unausgesetzt und geradezu systematisch gegen den obersten Grundsatz der Theosophischen Gesellschaft („Kein Bekenntnis höher als die Wahrheit“) verstoßen und in Mißbrauch und Willkür die Präsidialgewalt mit Behinderung positiver Arbeit ausgeübt hat, kann der versammelte Vorstand der deutschen Sektion, nach genauester Prüfung der Dokumente nur in der Resignation der Präsidentin die Möglichkeit des Fortbestandes der Gesellschaft sehen.“[i]  

    Annie Besant wartete natürlich die mit dem Telegramm angekündigten Beweise nicht ab, sondern stellte Rudolf Steiner am 14.Januar ein Ultimatum, in dem sie ihn aufforderte zu Beschuldigungen aufklärend Stellung zu nehmen, - die nur Scheingründe waren - , widrigenfalls sie die gesamte Deutsche Sektion ausschließen müsse.[ii]

    Das Telegramm des deutschen Vorstandes fand eine weitgehende Zustimmung unter den Mitgliedern der Deutschen Sektion, aber auch bei anderen europäischen Theosophen, vor allem in Skandinavien und Holland. Die Zweige bekundeten in Briefen und Telegrammen an den deutschen Vorstand in Berlin ihre Zustimmung. Auch aus Bremen kam ein Brief[iii]:

                                                                                          Bremen, 27.Januar 1913

An den

Secretair der Deutschen Section der Theosophischen Gesellschaft,

Fräulein Marie von Sivers,

Berlin.

 

Sehr verehrtes Fräulein von Sivers,

    Die Mitglieder des Zweiges Bremen der Theos. Ges. beauftragen uns, den folgenden Beschluß zu Ihrer Kenntnis zu bringen:

   ‚Wir erklären uns in allen Punkten einverstanden mit dem Vorgehen des Vorstandes der Deutschen Section gegenüber Mrs. Besant und Dr. Hübbe Schleiden, sowie mit dem Ausschluß der Mitglieder des Star of the East aus der deutschen Section.

   Wir beauftragen ferner unsere unterzeichneten Delegierten bei der bevorstehenden Generalversammlung gegen die Zulassung von Mitgliedern des Sternes des Ostens an diesen Veranstaltungen zu stimmen.’

   Soweit uns bekannt, befinden sich unter unseren Mitgliedern keine, die zum Star of the East gehören.

                  Mit theosophischem Gruß

                          Der Vorstand

                        J.G.W. Schröder

             Schwester Luise Hesselmann

   

Zunächst anerkennen die beiden Mitglieder des Bremer Vorstandes das Vorgehen der Sektionsleitung in den beiden entscheidenden Punkten, dann folgt als drittes die Zustimmung zu einer künftigen Handlung. Nachdem die Mitglieder des „Sterns im Osten“ ausgeschlossen worden sind, erklären sch die Bremer gegen die Teilnahme der Mitglieder des Sternenbundes an der kommenden Generalversammlung. Das scheint überflüssig. Doch war die Deutsche Sektion ja aufgelöst und die Generalversammlung sollte die erste der Anthroposophischen Gesellschaft werden. Für diese hatten die alten Beschlüsse keine Geltung mehr.

    Die Generalversammlung beschloß am 2.Februar 1913, Annie Besant mitzuteilen, daß sich die Deutsche Sektion als ausgeschlossen betrachtet.[iv] Annie Besant antwortet darauf am 7.März mit einer formellen Bestätigung des Ausschlusses.[v] Auch dieser Briefwechsel wurde von vielen Zweigen durch eigene Äußerungen begleitet. Die Bremer Mitglieder traten am 17.März 1913 zu einer Mitgliederversammlung zusammen und sandten Annie Besant noch vor ihrer Bestätigung eine Art von Austrittserklärung[vi]:

                                                                                      Bremen, 22.Februar 1913

An die Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft,

Frau Annie Besant,

Adyar-Madras, Indien.

 

Sämtliche, auf dem ordentlichen Logen-Abend am Montag, den 17.Februar 1913 anwesenden Mitglieder des Zweiges Bremen der früheren Deutschen Sektion der Theos. Gesellschaft haben uns beauftragt, Ihnen ihre Empörung zum Ausdruck zu bringen über die Art der Behandlung, welche Sie, Frau Präsidentin, und der General Council den berechtigten und von uns tief schmerzlich empfundenen Beschwerden des Vorstandes der Deutschen Sektion haben zuteil werden lassen.

   Den von Ihnen und anderen ausgesprochenen Verdacht des Jesuitismus gegenüber Herrn Dr.Steiner empfinden wir nicht nur als eine ebenso törichte wie unwahre Anschuldigung dieser von uns hochverehrten Persönlichkeit, sondern als eine Verleumdung sämtlicher Mitglieder der jetzigen Anthropo-sophischen Gesellschaft.

   Wir erklären daher einmütig, solange diejenigen, welche die durch nichts begründete Verleumdung ausgesprochen haben, an der Spitze der Theosophischen Gesellschaft stehen, mit derselben nichts mehr zu tun haben zu wollen.

   Im Auftrage des Zweiges ‚Bremen’ der früheren Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft.

Der Vorstand:

Gez. J.G.W. Schröder

Gez. Luise Hesselmann.

       

 Für die Mitglieder der Deutschen Sektion und diejenigen Theosophen außerhalb Deutschlands, die sich der anthroposophischen Geistesströmung verbunden fühlten, eröffnete sich ein Freiraum, in dem man unbelastet arbeiten zu können glaubte.


[i] Mitteilungen (Scholl) No.XV, Januar 1913, S.7, Nachdruck S.265.

[ii]Mitteilungen (Scholl) No.1,erster Teil, März 1913, S.9, Nachdruck S.301.

[iii] Brief des Vorstands des Zweiges Bremen an den Sekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (Adyar) vom 27.1.1913. Rudolf Steiner-Archiv, Dornach. Akte des Zweiges Bremen.

[iv] Mitteilungen (Scholl) No.1, erster Teil, März 1913, S.13, Nachdruck S.305.

[v] Annie Besant an Rudolf Steiner, 7.3.1913, Mitteilungen (Scholl) No.1, zweiter Teil März 1913, S.7, Nachdruck S.329.

[vi] Brief des Bremer Zweigvorstands an Annie Besant vom 22.2.1913 Mitteilungen (Scholl) No.I, 2.Teil, April 1913, S.33, Nachdruck S.355.

 

Atempause 1913-1914

   Trotz der gut vorbereiteten Einkreisung und dem folgenden Ausschluß der Deutschen Sektion gelang es Rudolf Steiner und dem Vorstand der Sektion „die Wiedergeburt der christlichen Esoterik im Abendlande“ zu retten, wie es Eduard Schurè formulierte.[i] Es entstand eine Atempause von 1½ Jahren bis zum August 1914, dem Zeitpunkt, an dem andererseits der langgesuchte Vernichtungskrieg entfesselt wurde.

    Es war eine kurze glückliche Zeit. Deutschland prosperierte in einer nie gesehenen Weise. Der Außenhandel des Reiches überflügelte erstmals den Englands. Aber das Reich wußte mit dem Reichtum nichts anzufangen, außer Waffen zu schmieden. Es hatte seine kulturelle Sendung vergessen. Besonders der Bau der deutschen Hochseeflotte, die England zwang, einen großen Teil seiner Flotte in der Nordsee zu stationieren, mag den Gegensatz, der durch die Handelsrivalität ohnehin gegeben war, verschärft haben. Die Gewitterwolken, die am Horizont aufzogen, sollten bald den ganzen Himmel verdunkeln.

    Die im Februar gegründete Anthroposophische Gesellschaft war von Anfang an international. Es gab Zweige in allen skandinavischen Ländern, in Rußland, England und Frankreich, in Italien, der Schweiz, Österreich und Böhmen, in Belgien, den Niederlanden und Polen; selbst in New York bestand von Anfang an ein Zweig. Aus all diesen Ländern kamen nach und nach Anthroposophen, nachdem Rudolf Steiner im September 1913 damit begonnen hatte, das Goetheanum, ursprünglich Johannesbau genannt, zu errichten. Die Entscheidung, daß der Johannesbau nicht in München gebaut werden könne, sondern in Dornach errichtet werden solle, wurde im April 1913 bekannt gegeben. Sie geht auf die künstlerischen Einwände der Münchner Baubehörde zurück, die Ende Februar 1913 erneut erkennbar wurden. Parallel zum Ausschluß der Anthroposophen aus der Theosophischen Gesellschaft vollzog sich also die Verlagerung des künstlerischen Zentrums aus Deutschland nach Dornach in die Schweiz.

     Der anthroposophische Kunstimpuls, der aus den Tiefen rosenkreuzerischer Esoterik gespeist wird, konnte sich dort ungehindert entfalten. Die Mysteriendramen waren seit 1910 entstanden, die Eurythmie konnte 1912/13 inauguriert werden. Architektur, Plastik und Malerei kamen nun hinzu.

    Während der Zeit vom 2.-8.Februar 1913, in der die 11. und letzte General-versammlung der Theosophischen Gesellschaft am 2.2. stattfand und die erste Versammlung oder Urversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft an den Tagen danach, waren aus Bremen jedenfalls Johannes Schröder und Meta Meier (in Bremen „Muschi“ Meier genannt) unter den Anwesenden. Johannes Schröder führte ein Gespräch mit Rudolf Steiner über die Gründung eines Wirtschaftsunternehmens. Am 6.Februar morgens hatte er eine „Diskussion über die zu gründende Handelsgesellschaft Ceres. Die Initiative ging von J.W.G. Schröder aus, der diese Handelsgesellschaft ins Leben ruft, die auf dem Versandwege Kolonialwaren und Lebensmittel guter Qualität liefert und auch ein Nachrichtenblatt herausgibt.“[ii] Schon im Mai 1913 ließ Schröder die Ceres GmbH ins Handelsregister eintragen, die, wie es dort erläuternd heißt, Waren aller Art „im Großen einkaufen und im Kleinen an die Anthroposophen weiterverkaufen sollte“.

    Die Kurse und Vorträge in den Räumen am Altenwall 10 wurden fortge-setzt. Schröder war allerdings 1912 vom Altenwall nach Lesum auf ein Landgut hinausgezogen, das durch seine Frau in die Ehe kam, und das er jetzt bewirtschaftete. Seither wohnte Rudolf Steiner bei ihm, wenn er in Bremen weilte. Adele Schröder, seine zarte Frau, machte auf die Besucher einen besonderen Eindruck: „In diesem Hause war die zarte, liebevolle und hingebende Erscheinung seiner Frau Adele ein bleibender Eindruck. Still hörte sie mit uns ihrem Manne zu und man sah, mit welch schöner ehrfürchtiger Haltung sie ihrem geistigen Führer folgte; man mußte sie gern haben bei der ersten Begegnung. Aber so bescheiden sie zurücktrat, so innerlich stark war doch ihre Persönlichkeit und früh schon fand sie ein eigenes tiefes Verhältnis zu Leben und Tod. Sie war ohne Mutter herangewachsen; diese starb im Kindbett. Als ihr zwölfjähriger Sohn starb, hat sie selbst bei der Abschiedsfeier die Orgel gespielt.“[iii]

   Als Rudolf Steiner im Sommer 1914 da war, saßen alle unter Bäumen an der langen Tafel. „Rudolf Steiner brach das Brot mit einer der Töchter und sprach die Worte:

 

               ‚Es keimen die Pflanzen in der Erde Nacht

                Es sprossen die Kräuter durch der Luft Gewalt

                Es reifen die Früchte durch der Sonne Macht.

                So keimet die Seele in des Herzens Schrein,

                So sprosset des Geistes Macht im Lichte der Welt,

                So reifet des Menschen Kraft in Gottes Schein.’

 

Durch das Brotbrechen hatte er dem Kinde die Verbindung mit dem Spruche erleichtert.“[iv] Eine andere Erinnerung berichtet genau das Gegenteil, daß nämlich Rudolf Steiner auf „seinen“ Spruch verzichtete und den schlichten Spruch, den Adele Schröder verwendete, auch sprach, wofür sie ihm sehr dankbar gewesen sei. Es werden wohl beide Erzählungen richtig sein, sich aber auf verschiedene Besuche beziehen.

    Der Mann, den seine Frau so verehrte, Johannes Schröder, war bereits in jungen Jahren gemeinsam mit ihr in Ostasien gewesen. Walter Siber erzählt, daß Johannes Schröder „in Indien auf den Weg zu einer Initiation geführt worden war[v], womit er auf die Begegnung mit dem Swami Bhaskarananda hinweist. An anderer Stelle hat Siber außerdem behauptet: „Er war der Schüler von Eingeweihten, die ihn in die geistige Welt Ostasiens einführten.[vi]

   Glücklicherweise hat Johannes Schröder als 70jähriger 1940, zwei Jahre vor seinem Tode, seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Das Manuskript bewahrte seine Tochter Adele Heller auf. Ihr Enkel Nikolai Höfer hat es abgeschrieben und im Netz veröffentlicht. Diese 69 Seiten umfassende Autobiographie beschäftigt sich vor allem mit den geistigen Erlebnissen des Johannes Schröder, die er selbst vor seiner Familie verborgen hatte. Aus ihr geht hervor, daß wir diesen Menschen als einen solchen anzusehen haben, dessen geistige Wahrnehmungsorgane ausgebildet worden sind und in dem das geistige Licht angezündet worden ist, so daß er mit den Organen schauen kann. Schröder nennt seinen Namen in dem Manuskript selbst nicht, auch nicht den Ort, an dem er seine Jugend verbracht hat, obwohl er ihn detailliert beschreibt. Er vermeidet alle Bemerkungen, durch die er leicht identifiziert werden könnte. Er nennt sich nur Johannes. Und er schreibt seine Erlebnisse nieder, um zu zeigen, wie weit es heute auch ein Europäer auf dem inneren Wege bringen kann. Es ist ein Versuch, Mut zu machen auf dem inneren Weg. Da er das Manuskript 1940 als Siebzigjähriger niedergeschrieben hat – mitten im Zweiten Weltkrieg – kann er wohl nicht mit einer raschen Veröffentlichung gerechnet haben.

   Diesem Manuskript ist nur zu entnehmen, daß die erste Aussage Sibers stimmt: ein indischer Meister brachte Johannes Schröder auf den Weg. Von einem Lehrer, der ihn in die ostasiatische Geisteswelt eingeführt hat, sagt Schröder nichts. Vielmehr begegnete er in China der Theosophie. Der Autor hofft, daß Schröders Selbstdarstellung veröffentlicht werden kann.   


[i] Eduard Schurè an Charles Blech, 1.3.1913. Mitteilungen (Scholl) No.1, zweiter Teil April 1913, S.18, Nachdruck S.340.

[ii] Christoph Lindenberg. Rudolf Steiner. Eine Chronik. 1861 – 1925. Stuttgart 1988. S.331.

[iii] Walter Siber. Adele Schröder (5.9.1880 – 7.9.1970) Gedenken im Bremer Zweig am 9.9.1970.  Manuskript. Archiv des Novalis-Zweiges Bremen.

[iv] dito

[v] Walter Siber, Ansprache zum Gedenken an Meta Maria Meier, genannt „Tante Muschi“,  (26.12.1871-13.3.1968). Manuskript im Archiv des Novalis-Zweiges Bremen.

[vi] Walter Siber. Adele Schröder (5.9.1880 – 7.9.1970) Gedenken im Bremer Zweig am 9.9.1970. Manuskript. Archiv des Novalis-Zweiges Bremen.

 

Während des 1.Weltkriegs 1914-1918

     Während des 1.Weltkrieges kam Rudolf Steiner 1915, 1916 und 1917 jeweils einmal zu zwei Vorträgen nach Bremen.

     Etwa ab 1916 verfaßte Schröder ein Buch ‚Die Anthroposophie Rudolf Steiners’, das 1917 erschien und 1918 bereits eine revidierte 2. und 3.Auflage erfuhr (Gesamtauflage ca.3000 Exemplare). Schröder hatte sich darin mit flammender Begeisterung für Rudolf Steiner eingesetzt. In der Vorrede würdigte er Anfang 1917 die großen Leistungen des deutschen Heeres im Felde, um dann zu dem Gedanken überzugehen, daß einem Sieg im Felde auch ein Sieg der geistigen Waffen folgen müsse. Es müsse die Kluft zwischen den Naturwissenschaften, der Technik und der philosophierenden Geisteswissenschaft überwunden werden. Rudolf Steiner habe diese Tat zwar geistig vollbracht. Die Anthroposophie müsse aber jetzt auch ein Kulturfaktor werden. Im Mai 1918 gab er eine 2.Auflage heraus, in die er einen Nachtrag über die soziale Frage aufnahm, der an Steiners Aufsatz Theosophie und soziale Frage [i] anknüpfte. Das Buch klang nunmehr aus in das Motto der Sozialethik:

Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“[ii]

   Daß Schröder nachträglich dieses Thema an den Schluß seines Buches gesetzt hat, macht deutlich, daß er sich des Ernstes der sozialen Lage bewußt und bereit war, an der sozialen Neugestaltung mitzuwirken. Er gehörte nicht zu jener bürgerlichen Gruppe unter den Anthroposophen, die ihre gesellschaftlichen Privilegien für gottgegeben und unveränderlich hielten. Daher war er auch führend bei der Begründung des örtlichen Bundes für Dreigliederung.


[i] Luzifer-Gnosis 1903-1908. GA 34, 2.Aufl.1987.  S.191-221.

[ii] J.G.W.Schröder. Die Anthroposophie Dr.Rudolf Steiners. Eine Einführung in die Geisteswissenschaft. 2.u.3.vermehrte und verbesserte Auflage. Wölfing-Verlag Leipzig-Konstanz 1918. S.112.

 

Die Dreigliederungsbewegung in Bremen

   Seit Anfang Februar 1919 wurden Unterschriften für den Aufruf an das Deutsche Volk und an die Kulturwelt gesammelt. In Bremen unterzeichneten immerhin 16 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Aufruf.[i]

   Nachdem gegen Ende April 1919[ii] die ‚Kernpunkte der sozialen Frage’ erschienen waren, und sich der Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus konstituiert hatte, formierten sich in Bremen und anderen norddeutschen Großstädten ebenfalls Bestrebungen, den sozialen Organismus in gesunder Weise zu gliedern. Dabei spielte der Hamburger Louis Werbeck nicht aufgrund einer verwaltungsmäßigen Verantwortung, sondern durch das Gewicht seiner Persönlichkeit eine zentrale Rolle. Mit außerordentlicher Selbständigkeit faßte er die Ideen Rudolf Steiners ihrem wesentlichen Gehalte nach auf und stellte sich ganz und gar in den Dienst des Zeitgeistes, der die Dreigliederung forderte.

    Bremen, Lübeck und Kiel verdankten neben Hamburg seinen Vorträgen maßgebliche Anregungen. Während sich in Bremen schon vor seinem Mitwirken eine sehr aktive Gruppe von Dreigliederern gebildet hatte, sind die Kieler und Lübecker Gruppen erst unter dem Erlebnis der Flügelschläge des Werbeck’schen Genius flügge geworden. In allen vier Städten fanden sich tief von dem sozialen Impuls der Gegenwart berührte Menschen, die zusammenarbeiten konnten. Der Sitz des „Arbeitsausschusses Bremen“ des Bundes war in der Rutenstraße 16. Daß die Idee der Dreigliederung in Bremen ein besonders starkes Echo gehabt hat, belegt die große Zahl von Bremer Unterschriften unter Steiners Aufruf. Dies mag auch mit dem Verlauf der Revolution vom November 1918, die in Bremen ein besonderes Chaos bewirkt hatte, zusammenhängen. Dort glaubte die Reichsregierung sich genötigt, Regierungstruppen zur Wiederherstellung der Ordnung zu entsenden, wie es später auch in Hamburg geschah. 

    Rudolf Steiner selbst hat zwischen Juli 1918 und Januar 1922 in Norddeutschland fast keine Vorträge gehalten, wenn man von einer Handvoll Vorträgen in Berlin absieht.[iii] Das machte die Lage im Norden umso schwerer für diejenigen, die seines sachkundigen Rates und seiner befeuernden Gegenwart entbehren mußten. Da Rudolf Steiner in dieser Zeit nicht selbst in Norddeutschland gewirkt hat, ist die starke Dreigliederungsbewegung im Norden den historischen Darstellern der Dreigliederungszeit bisher entgangen. Selbst Hans Kühn läßt in seinem Erinnerungsbuch kein Wort darüber verlauten. Er verwandte als Leitfaden seine Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner, der während dieser Zeit eben nicht in Norddeutschland war.

    Die Gründe für Steiners ausschließliches Wirken in Süddeutschland sind dem Verfasser nicht bekannt. Vielleicht wirft ein Brief Hans Kühns ein Licht darauf, der in dieser Zeit zum engeren Umkreis Rudolf Steiners zählte. Er schrieb am 4. April 1919 an Emil Leinhas, der im Begriff war von Berlin nach Stuttgart umzuziehen, man müsse in Norddeutschland „anscheinend mit wirklich großen Überschwemmungen durch Bolschewistenheere rechnen.“ Dr. Steiner werde nicht viel reisen, weil er der Ansicht sei, „daß es absolut wertlos wäre, einfach Vorträge an verschiedenen Orten zu halten.“[iv] Hans Kühn wurde kurz darauf der erste Sekretär des Bundes für Dreigliederung. Jedenfalls hat sich Rudolf Steiners Arbeit vorwiegend auf den Südwesten Deutschlands erstreckt. Er sah eine Chance, an einer Stelle durch sachliche Zusammenarbeit mit den die Arbeit Leistenden und ihren Leitern einen Durchbruch zu einer praktischen Verwirklichung zu erzielen und hoffte wohl auf eine rasche Ausbreitung wie bei den von Kiel ausgegangenen Unruhen im November 1918. 

   So blieb die Dreigliederungsbewegung in Norddeutschland weitgehend auf sich selbst gestellt. In dieser Situation wirkt der Einsatz Werbecks wie ein Wunder – und man kann hinter diesem Menschen die impulsierende Kraft des Zeitgeistes wahrnehmen. Wie in Hamburg, so war Werbeck ein zentraler Impulsgeber auch in Kiel, in Bremen und in Lübeck.

 


[i] Hans Kühn. Dreigliederungszeit. Rudolf Steiners Kampf für die Gesellschaftsordnung der  Zukunft. Dornach 1978. S.162 ff.

[ii] Emil Leinhas, Aus der Arbeit mit Rudolf Steiner. Basel 1950. S.49.

[iii] 12.-16.9.1919;  17.-18.9.1920;  15.9.,19.11. und 7.12.1921, also insgesamt zehn Vorträge in drei Jahren, darunter keiner zur Dreigliederung.

[iv] Hans Kühn an Emil Leinhas, 4.4.1919, Archiv am Goetheanum, C 09.002.003, Nr.318.

Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus. Liste der Ortsgruppen. 5.September 1919.

   Am 9.Mai 1919 bereits, also ganz kurz nach der Gründung des Stuttgarter Bundes, spricht Werbeck von Einladungen zu Vorträgen nach Lübeck und Bremen, die er akzeptiert habe: „Es liegt Arbeit genug vor mir.“[1]  In Bremen handelt es sich wahrscheinlich um jene Vorträge am 26.Mai, über die er am nächsten Tag, nach seiner Rückkehr sofort Emil Leinhas berichtete:

Lieber Lachmann![2]

Komme soeben (mit Valli)[3] von Bremen. Die beiden öffentlichen Vorträge am Sonntag (1¼ + 1¾ Stunden) zu denen auch in den Sozie Blättern große Anzeigen erlassen waren, sind sehr gut verlaufen. Besonders der erste ‚Das Proletariat und die Wirklichkeit des Geisteslebens’ hatte bedeutende Wirkung. Über das ganze sende ich, wenn ich irgend Zeit habe, morgen einen Bericht, denn ich vermute, daß die Sache für Euch Interesse hat. – Eine ganze Anzahl von Engagements wurden mir angeboten: Hannover, Osnabrück, Bremen bei den Sozis (ew.) usw.“

  „Ich habe das Reden gelernt und habe eine große Ausdauer in der Stimme. Freilich war ich nach dem 2.Vortrag ‚fertig’, in Schweiß gebadet. Ein größerer Saal und 1¾ Stunden! Na, nun kommt Lübeck. u.s.w. u.s.w. Ich lasse nicht locker.“

  „Dank für Deinen Brief vom 22., den ich soeben finde. Ja, wie soll ich ab-kommen?[4] Ich weiß, aufrichtig, nicht wie! Es ist ja nicht mal möglich, einen servierbaren Ersatz für einen Abend meiner 4 Einführungskurse zu bekommen. Sie versagen alle jämmerlich. Will nochmals mit Mannja [5]  sprechen und mich dann entscheiden.“

  Ja, Lachmann, wir sind am Ende. Und wenn dann die Proleten herrschen? Denn wo solln sie das Regieren gelernt haben? Wenn dann auch das H.B. [6] auffliegt, ist die Einnahme 0,0. Dennoch: Arbeiten und nicht....[7]

  Herzlichst

     Dein Lulu[8]

Die Diwa[9] büffelt Kautsky und Marx. Ist überhaupt immer mit Volldampf mitten mank. Am liebsten schickte ich sie mit Marga zu Selma.[10] Aber sie will mich nicht allein lassen.“[11]

 

  Am nächsten Tag erhielt Werbeck einen Zeitungsbericht aus der Weserzeitung und nahm das zum Anlaß, seinem Schwager – und indirekt durch ihn Rudolf Steiner – weiteres über die Bremer Vorträge mitzuteilen:                   

  „Eingeschlossen findest Du einen Bericht der Weserzeitung über meine Vorträge. Die Weserzeitung ist das ‚führende’ bürgerliche Blatt. Wie du an dem Wortlaut sofort sehen wirst, ist die erste Hälfte des Referats (nicht ungeschickt) aus der Broschüre zusammengestellt. Der Referent war nämlich nicht anwesend. Im 2.Teil befinden sich verschiedene Dummheiten, die nicht von mir stammen. Es wäre mir lieb, wenn, falls das Blatt Eurem Archiv einverleibt wird, eine dahingehende Bemerkung hinzugefügt wird.“

   „Der Vormittags-Vortrag machte sehr tiefen Eindruck. Am Schluß kamen verschiedene Hörer, darunter der Kommunistenführer Häfker sowie ein sozial-demokratischer Redakteur und bekundeten lebhaftes Interesse. Der Erste wollte eine Verbindung hier in Hamburg mit mir herstellen, der Zweite wünschte mir Gelegenheit zu Vorträgen in Bremen zu geben. Die Versammlung selbst war sehr bunt zusammengesetzt. Meine Ausführungen waren sehr offen und charakterisierten den Geist des Bürgertums nach Notwendigkeit. Der Abendvortrag, er war notgedrungen sehr lang (ich sehe ein, man kann das Thema ‚Die soziale Dreigliederung’, will man nicht sträflich oberflächlich sein, an einem Abend überhaupt nicht bewältigen) währte 1¾ Stunden. In den Darlegungen nahmen die Kapitel: Arbeit und Kapital einen besonders breiten Raum ein. Die Kommunisten waren mit dem Kapital nicht einverstanden. Alles ist bei ihnen auf den Irrgedanken der Kommunalisierung des Eigentums eingepeitscht. Sie werden schwerlich umdenken. Aber im Allgemeinen war innere Zustimmung zu konstatieren. Auch die Bürgerlichen bocken, wenn’s ans Kapital geht. Von diesen Herrschaften ist nichts zu hoffen.“

    „Ich habe nachträglich dem Kommunistenführer das Buch übersandt und einen klugen Brief dazu geschrieben. Möglich, daß er doch noch hier in Hamburg sich ankrümelt, ich glaube es aber kaum.[12]


[1] Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. 9.5.1919. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.582.

[2] Leinhas und Werbeck hatten sich in Hamburg etwa 1901 kennen gelernt und waren Freunde. Werbecks Frau Valborg Svärdström war zudem die Schwester von Frau Leinhas. Lachmann ist Leinhas Spitzname.

[3] Valli ist eine Abkürzung für Valborg, Werbecks Frau, die damals berühmte schwedische Sängerin Valborg Svärdström.

[4] Mundartlich für: Wie soll ich mich frei machen?

[5] Sein Bruder Amandus Werbeck, Kaufmann in Hamburg-Wandsbek.

[6] Hamburger Brockenhaus, eine von Werbeck geschaffene Wohltätigkeitseinrichtung.

[7] „Arbeiten und nicht verzweifeln“: eine damals durch das gleichnamige Buch von Thomas Carlyle  weit bekannte Devise.

[8] Lulu war der Spitzname Louis’ Werbecks.

[9] Die Opernsängerin Valborg Werbeck-Svärdström.

[10] Marga ist die Tochter von Louis und Valborg Werbeck-Svärdström, Selma eine Verwandte in  Schweden.

[11] 27.5.1919. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.573.

[12] 28.5.1919. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.572.

Louis Werbeck ca.1920

   Sechs Wochen später machten die Bremer mit einer zweiten Großveranstaltung einen weiteren Vorstoß in die Öffentlichkeit. Die Vorgespräche begannen am 1.Juli: „Gestern kam Muschi Meier[i] als Abgesandter Bremens und ersuchte mich, um einen großen Vortrag vor Bremer Proletariern, Donnerstag nächster Woche. Man will es im größten Stile managen. Ich sagte selbstverständlich zu, setzte die Laufzettel auf (schau dir die Dinger an, wenn Bremen sie einsendet, denn die Rückseite ist bedeutsam) und verabredete alles. Das Thema wird sein: ’Menschheitsforderungen des Proletariats’.“[ii]

   Am Ende eines Briefes vom 5.Juli, in dem Werbeck von dem Mandat erzählt, einen Arbeiter-Ausschuß in Hamburg einzurichten, erwähnt er ein Treffen mit Bremer und Lübecker Abgesandten. Husemann aus Bremen komme am Abend, morgen früh Brösel aus Lübeck: „Wir werden dann gemeinsam vieles besprechen.“[iii] Werbeck schwebte eine enge Zusammenarbeit der Gruppen des Bundes in den Hansestädten vor. Durch sein persönliches Wirken war dieser Zusammenhang ohnehin da, doch scheinen die Besprechungen auf mehr als das persönlich menschliche Band gezielt zu haben.

    Der Bremer Wunsch, Werbeck möge zu den Proletariern sprechen, kam Werbecks gleichzeitigen Bestrebungen, sich künftig vor allem auf die Arbeiter zu stützen, sehr entgegen. So sprach er in seinem Vortrag am 10.Juli 1919 in den Centralhallen eine unbürgerliche Sprache. Er berichtete an Leinhas:                                            

   „Komme soeben, abgehetzt und einigermaßen alle, aus Bremen. Du erhältst von dort Bericht (und ich diktiere noch was). Es war sehr gelungen. Voller, großer Saal, Proleten a la Spartakus. Eine Handvoll Worpsweder Kommunis-ten-Künstler, noch grün und naß hinter den Ohren, die versuchten, durch Flegeleien abzulenken. Vergebens. Der Vortrag saß. 1¼ Stunden. Dann Diskussion. Niemand hatte erst Mut zu reden. Dann quasselten verschiedene. Darunter ein ‚berühmter’ Führer, eine Hüne, verkrachter Rechtsmensch, der gut redet. Es war ein mitleidloses Bloßstellen der eigenen Erkenntnisnöte – über jeden Begriff entsetzlich. Es war mir leicht, die Leuchten im Schlußwort abzuführen. Freilich – ein Führer ist ein ‚Führer’. Alles war sehr zufrieden. Besonders Husemann.[iv]Schröder, Schwester Luise und einige andere Rentner stehen vertaddert.“[v]

   Aus den Gesprächen, die er in Bremen geführt hatte, erkannte Werbeck, daß unter den Bremer Aktivisten des Bundes starke Spannungen bestanden. Der Großkaufmann Johann Gottfried William Schröder, der seit langem eine tonangebende Persönlichkeit im Bremer Zweig gewesen war, stand seit 1913 gemeinsam mit Schwester Luise Hesselmann dem Zweig vor. Diese Arbeit wirkte auf die Jüngeren nicht mehr ganz zeitgemäß: Walter Siber beschreibt seine Jugendeindrücke: „Wir waren sehr revolutionären Sinnes, hatten Gemeinschaft mit einem Kreise, der sich ‚anarcho-syndikalistisch’ nannte, in dem wir Heinrich Vogeler und seinen Freunden begegneten, und der unserer Jugend viel mehr entsprach.“

   „Unter den Leuten, die in der Loge tätig waren, da war nur einer, der uns verstand und den wir verstanden: der junge Arzt Friedrich Husemann. Die anderen flößten Ehrfurcht ein; aber Sie wissen ja alle, wie es damit in der Jugend bestellt ist.“

   „Muschi Meier verwaltete die Bibliothek und wußte für jeden das Passende zu finden. Sie wählte für uns – und richtig. Und sie lud uns zu sich ein und betreute uns, ohne daß wir das gewahr wurden.“

   „Als es zum Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus kam, da mußte ein Büro außerhalb der Loge eingerichtet werden, denn es mußte ja eine rege Arbeit einsetzen, da war das in meinem Hause. Und Frau Meier war dabei mit Rat und Tat. Wir sagten untereinander ‚Du’, ‚Genossen’ taten das. Und dann sagte Frau Meier: Ihr duzt euch alle und mich nicht. Das solltet Ihr aber auch tun! Ja, aber wie anreden? Sie hatte einen Ausweg: Ihr Mann hatte sie ‚Muschi’ genannt, und so wurde sie unsere ‚Tante Muschi’. .... Sie war zu jeder Mitarbeit bereit, auch zu solcher, die wir ihr gar nicht zugemutet hätten. So stand sie mit uns früh vor 6 Uhr vor den Werfttoren und verteilte Flugblätter mit Hinweisen auf die Veranstaltungen in den größten Sälen Bremens, die dann auch gefüllt waren.[vi] So weit der Bericht von Walter Siber. Unter den Aktivisten ragte Dr. Husemann hervor, er war „unser bestes Pferd“, wie Siber sagt, und „auch in unserem links stehenden Kreis hatte er bald große Verehrung.“


[i] Muschi Meier hieß Meta Margaretha Maria Meier. Ihr Mann leitete die Konzertagentur Praeger & Meier, die viele Vorträge Rudolf Steiners in Bremen organisiert hat.

[ii] 2.7.1919.  Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.541.

[iii] 5.7.1919.  Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.537.

[iv] Friedrich Husemann (13.6.1887 – 8.6.1959) absolvierte damals in der Landesheilanstalt Ellen bei Bremen eine psychiatrische Facharztaus-        

bildung.

[v] 11.7.1919. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am

      Goetheanum, C 09.002.001, Nr.531.

[vi] Walter Siber. Meta Margaretha Maria Meier (26.12.1871-13.3.1968). Gedenken am Zweigabend. 27.3.1968. Archiv des Novalis-Zweiges.

Meta Maria oder "Muschi" Meier 26.12.1871 - 13.3.1968

    Natürlich sprach nicht nur Louis Werbeck in Bremen, sondern z.B. „das beste Pferd“ Friedrich Husemann, auch Carl Unger und andere. Leider wissen wir von diesen anderen nicht so viel. Vielleicht werden die erhaltenen aber noch nicht ausgewerteten Tagebücher von Paul Richter noch manchen Aufschluß geben. Auch Paul Richter war damals unter den Aktivisten.

    Über die von ihm beobachteten Spannungen berichtete Werbeck am 21.7.1919 an Emil Leinhas:

   „Die paar kouragierten Bremer (Husemann, Muschi Meier, der bekehrte Kommunist, u.s.w.) sind mit Schröders Dreigliederungsarbeit recht unzufrieden. Er wirke für die Arbeiter zu bürgerlich, spräche zu wenig pointiert und konzentriert usw. Sie haben die große Versammlung in Bremen eigentlich über seinen Kopf weg gemacht. Da Deutlichkeit zu unserem Handwerk gehört, schrieb ich Schröder, er antwortete aber heute, das mit dem Bürgerlichen wäre nicht so schlimm. In Wahrheit fühlt er sich unsicher über so Manches und will mit Euch ausdauernd reden. ..... Die Bürger beginnen zu murren, daß wir unsere Agitation zu sehr auf die Proletarier einstellen. Es muß ja gesagt sein: einfach ist die Situation nicht. Auch in Bremen ist einer, der seine Unterschrift zurückzieht.“[i] Schröders Verhältnis zu Werbeck blieb trotz der Deutlichkeit völlig ungetrübt. Schröder lud ihn sogar im gleichen Brief ein, mit ihm nach Stuttgart zu kommen. Werbeck mußte darauf aber auf Grund seiner Verpflichtungen verzichten. Werbeck wurde in Bremen von Seiten der Dreigliederungs-Aktivisten genauso anerkannt wie von der noch amtierenden bürgerlichen Zweigleitung unter Johannes Schröder. Dasselbe Bild zeigt sich auch in den drei anderen maßgeblichen norddeutschen Städten Lübeck, Kiel und Hamburg. Werbeck war daher prädestiniert dazu, die Ortsgruppen zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuführen.

   Im Nachwort eines Briefes schrieb Werbeck am 26.7.1919 mit der Hand: „Soeben läutet Bremen an, ich müßte sofort zu einem neuen Vortrag kommen. Man säße in der Arbeiterschaft fest, alles spräche von der Dreigliederung. Ich solle angeben, wie sie nun ihre Betriebsräte bilden können usw. Na, wenns halb so heiß ist, ists ja schon erfreulich! Nur Zeit!! Es darf einem nicht über den Kopf wachsen.“[ii]

   Am 7.August 1919 bedankte sich Leinhas für Berichte, die ihm Werbeck über die große Hamburger und Bremer Versammlung geschickt habe.[iii] Sie konnten bislang nicht aufgefunden werden. Die Hamburger Versammlung dürfte die Arbeiter- und Proletarier-Versammlung im großen Saal des Gewerkschaftshauses gewesen sein, bei der am 2.August Louis Werbeck über Menschheitsforderungen des Proletariats sprach. Zeitlich in unmittelbarer Nähe muß der Vortrag in Bremen stattgefunden haben, von dem wir wenig Sicheres wissen. Vielleicht handelt es sich um jenen kurzfristig erbetenen Vortrag, der am 26.Juli telefonisch verabredet worden war, nämlich für den 4.August.

    Zehn Tage später kam Werbeck noch einmal auf seinen Vortrag zurück. Er sendet einen Bremer „stenographischen“ Bericht darüber, erklärt aber gleichzeitig, daß dieser nur Bruchstücke seiner Worte enthalte:

   „Ich erhalte soeben aus Bremen einen sogenannten Bericht, er soll sogar stenographisch sein, über die große Versammlung am 4.August. Von dem, was ich gesagt habe, steht etwa der 10.Teil in so verzerrter und karikierter Form darin, daß ich gegen den Unfug der Verbreitung dieses sog. Berichtes sofort einschreiten muß. Er spottet einfach jeder Beschreibung. Wie unfähig die Gehirne sind, auch nur das Geringste an neuen Gedanken in objektiver Weise aufzunehmen. Sollte ein solcher Bericht nach dort gelangt sein, so bitte ich um die sofortige Vernichtung der Dummheit.“

    „Im übrigen bewahrheitet sich, daß die Sozis in Bremen mit ihrer Versammlung eine Gegenmine gelegt hatten. Sie hatten unser Thema aufgegriffen und forderten heftig zur Bildung von Betriebsräten auf. Ein Zeichen, daß ihnen die erste Versammlung sehr unbequem gewesen war. Es hilft alles nichts, es herrscht unter der ‚unverbrauchten Intelligenz’ der Arbeiter mehr oder minder ein grenzenloser Idiotismuss. Die besseren Nummern sind unter diesen Leuten rar wie nur überall.“[iv]

   Schon früher war ein unwahrhaftiger Zeitungsbericht über die Bremer Versammlung erschienen, den Werbeck dem Stuttgarter Bund zuschickte mit dem Kommentar: „Die Zeitungen logen. Die Versammlung in Bremen war gut besucht. Ca.900-1000 trotz der Machenschaften. Ja, der erste Abend hatte mächtig gewirkt.“[v]

   Auf den Vortrag vom 4.August 1919 folgte eine weitere Versammlung etwa fünf Wochen später. Werbeck erwähnt sie erstmals am 25.August: „Ich soll schon kommende Woche wieder nach Bremen kommen, ebenso meldet Hannover sich. Denke aber, Bremen 8 Tage hinauszuschieben. Es soll dort gute Fortschritte machen."[vi] Tatsächlich fand der Vortrag erst am 9.September 1919 statt.


[i] 21.7.1919. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.521.

[ii] 26.7.1919. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.511.

[iii] 7.8.1919.   Brief von Emil Leinhas an Louis Werbeck. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.506

[iv] 19.8.1919.  Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.492.

[v] 13.8.1919 Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.494-496.

[vi] 25.8.1919.  Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.484.

Werbeck über Menschheitsforderungen des Proletariats. 10.Juli 1919.
Werbeck über 'Betriebsräte und Sozialismus' am 4. August 1919

    Einem Plakat zu diesem Vortrag „Rudolf Steiner als sozialer Denker und Praktiker“ ist ferner zu entnehmen, daß er 8 Uhr abends in der Wielandstr.13 stattgefunden hat. Werbeck schrieb seinen Bericht über den Vortrag auf die Rückseite eines solchen Druckes und sandte ein dickes Couvert mit einem mehrfach zusammengefalteten Plakat (etwa A 1) an Emil Leinhas -  offen-sichtlich in Ermangelung anderen Papiers. Er benutzte einen derben, dicken Bleistift wie ihn Zimmerleute verwenden, auch dies wohl ein Ausdruck der wirtschaftlichen Not:

   „Also richtig - : besonders einer der Hörer vom letzten Vortrag-Konzert Werbeck=Sverdström[i], der ‚Führer’ Häfker ist inzwischen in die Dreigliederung gestiegen. Hat sogar längere Sprüche losgelassen. In Wirklichkeit hört er sich hinein. Na, es war nicht gut besucht: halber Saal. Kein Wunder: ein schauervoller Saal. (Grund seiner Mietung: Mk 10 Miete) Und nicht zu finden. (Daher kamen viele zu spät) Es waren eine ganze Anzahl sehr feine Gesichter unter den Hörern, allerhand bekannte Persönlichkeiten. (Es zeichneten sich davon 6-8 neu in die Listen.) Der Vortrag (5/4 Stunden) glaube ich, war nicht schlecht. Nur Häfker, ein ganz besonders befähigter Redner, legte etwa 20 Minuten (mindestens) los. Ein Knecht Ahrimans wie er im Buch steht. Er machte Eindruck, nicht geringen. Es war eine gewisse Beklommenheit nach seinem Spruch. Ich fragte die Leute: Gebt ihr mir noch eine halbe Stunde? Einmüdiges[ii] ‚Ja’! Bon! Ich möchte diese Abfuhr wäre stenographiert worden. Sie war so gründlich; so endgültig, ja so vernichtend, daß der Mann gezeichnet den Saal verließ. Eine Episode: er polemisierte (sehr beredt) gegen die Vergötterung des Doktors. Und klassifizierte ihn: die Bürger dachten: tja.... Ich aber dachte: Halunke. Und machte ein Examen: (des Erfolges gewiß). Nachdem er objektiv erledigt war, rief ich seinen Anstand an: Wollen Sie ehrlich antworten? ‚Ja’. Gut. Dann bereitete ich vor, sprach von der Verantwortung dem öffentlichen Wort gegenüber, u. sonst Ernstes. Wer einen Denker so klassifiziert, muß ihn selbstredend kennen. (Ja, dachten alle) Ich fragte ihn, Herr Häfker: Kennen Sie Wahrheit und Wissenschaft? Nein? Die Freiheitsphilosophie? Nein? Die Rätsel der Philosophie? Nein! Na, u.s.w., u.s.w. Plötzlich schnappte ich ab. Aber wie Herr Häfker? Nichts, gar nichts, kennen Sie? Nein ----."

   „Und dennoch: nach dem Vortrag kam er zu mir und ‚verständigte’ sich. Eigentlich seien wir einer Meinung u.s.w., u.s.w. Händedruck. Verspruch des Geschenkes der Freiheitsphilosophie...“[iii]

   Werbecks rhetorische Stärken kamen in solchen Wortgefechten natürlich voll zur Geltung. Während manche anderen Redner zwar eine glänzende und einleuchtende Darstellung der Dreigliederung geben konnten, waren es nur wenige, die im Streit-Gespräch die nötige Geistesgegenwart und Durchset-zungskraft besaßen.

   Werbecks Reden sind nicht aufgezeichnet worden, doch geben neben seinen eigenen brieflichen Berichten auch die öffentlichen Ankündigungen der Massenveranstaltungen einen Eindruck. Vom Herbst 1919 bis zum Frühjahr 1921 sind überhaupt nur wenige Zeugnisse bekannt. Sie belegen allerdings die Kontinuität der norddeutschen Zusammenarbeit während der Hauptphase der Propagierung der Dreigliederung.


[i] Valborg Werbeck sang am Ende vieler Vorträge ihres Mannes, was den Arbeitern sehr gefiel.

[ii] Werbeck liebte Sprachspiele wie „einmüdig“, so daß es sich nicht um ein Versehen handelt.

[iii] 10.9.1919. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.001, Nr.469.

Werbeck über "Was lehren die Katastrophen?". 18.Juni 1920.

Erhalten ist ein Plakat zu der Veranstaltung am 18.Juni 1920 im Casino (Häfen), abends ½8 Uhr.[iv] Werbeck wurde angekündigt als „Herr L.Werbeck-Svärdström, Hamburg". Sein Vortrag hatte das Thema: „Was lehren die Katastrophen?“. Unverblümt wurde er mit den dicksten Buchstaben des Plakates als „Oeffentliche Massenversammlung“ angepriesen. Am unteren Rand des Plakates heißt es nochmals: „Kommt in Massen." Zur Begründung wird auf dem Handzettel vermerkt: „Was in diesem Vortrag ausgesprochen werden soll, wendet sich an jeden Menschen ohne Unterschied der Partei, des Standes, des Geschlechts und selbst der Rasse: Denn die Katastrophen der Zeit ergreifen alle Menschen und gehen daher alle an."

 

Auf der Rückseite des Handzettels heißt es zum Thema

Was lehren die Katastrophen?“:

   „Wieviel Kraft, wieviel Blut hat uns der Kampf um den Sozialismus gekostet? Was haben wir erreicht? Haben die Menschen gelernt, die Menschheitsforde-rungen des Proletariats zu verstehen? – Nein! Sie haben die Urgründe der gewaltigen Katastrophen nicht begriffen.“

   „Was ist es, was die Reihen der Arbeiterschaft im Kampf gegen den heutigen Kapitalismus schließt? Es ist der gesunde proletarische Instinkt! Zermürbt von innen heraus werden diese Reihen von dem Parteidenken der Arbeiter, welches auf der erstarrten Gelehrtenwissenschaft der materialistischen Weltanschauung basiert.“

    „Alle Parteien sind von dieser zerfallenden Weltanschauung durchsetzt.“

    „Unsere Vorkämpfer vom Sozialismus haben große Arbeit geleistet. Sie haben ihre Aufgaben restlos erfüllt. Wir aber stehen vor ganz anderen Aufgaben. Mit dem alten Denken kommen wir nicht mehr weiter.“

    „Wir brauchen Gedanken, die heute gedacht sind, die die Gegenwart geboren hat!“

    „Erst wenn die Katastrophen begriffen sind, kann die Menschheit die Ereignisse von sich aus bestimmen. Die alte bürgerliche Kultur zerfällt, eine neue Kultur ringt sich, aus der proletarischen Bewegung heraus, durch.“

   „Die Grundlage und Richtlinien dieser Kultur aber sind gegeben in der Geisteswissenschaft Dr. Rudolf Steiner’s, während sämtliche Parteidogmen, und die verkalkten Gedanken der materialistisch-bürgerlichen Weltanschauung unbedingt zerstörend wirken.“

   „Aus der Geisteswissenschaft heraus ist der Gedanke für die Dreigliederung des sozialen Organismus hervorgegangen.“

   „Die Dreigliederung fordert:

Ein vom staatlichen und wirtschaftlichen Zwang befreites Geistesleben (freie Schule).

Ein vom staatlichen Einfluß befreites, sich selbst verwaltendes Wirtschaftsleben (rein wirtschaftliche Betriebsräte; wirtschaftliche Genossenschaften).

Eine, in seine eigentlichen Grenzen zurückgewiesene staatlich-politische Rechtsorganisation. (Demokratisches Parliament).

Studiert und prüft das Wesen dieser Richtung. Wenn wir nicht die Lösung der sozialen Frage finden, gehen wir zu Grunde. Wartet nicht auf die Weltrevolution, die Welt wartet auf uns. Proletarier wacht auf!“

 

[iv] Archiv des Novalis-Zweiges Bremen.

Broschüre über die Dreigliederung von W.Schickler. Stempel des "Arbeitsausschuss Bremen" des Bundes. Arbeitszeit Dienstags und Donnerstags von 6 1/2 bis 7 1/2 Uhr nachmittags. Ort: Rutenstraße 16.

Die Dreigliederungsbewegung kommt nicht durch

   Auch als etwa im April 1921 die Dreigliederungsbewegung durch die gegne-rische Agitation besonders von Seiten der Rechten, aber auch von Seiten materialistischer „Wissenschaftler“ in die Defensive gedrängt wurde und sich in Abwehrkämpfen erschöpfte, blieb die Zusammenarbeit mit den Hamburger Freunden eng. Unter den wissenschaftlichen Gegnern traten besonders lautstark Arthur Drews und Max Dessoir hervor, die auch in Norddeutschland einen regelrechten Feldzug mit Vortragsreisen durchführten. Im Oktober 1921 schrieb Louis Werbeck an Emil Leinhas: 

   „Drews macht offenbar eine große Tournee, wahrscheinlich werden wir von verschiedenen Veranstaltungen erst erfahren, wenn es zu spät ist. So spricht er gleich nach Hamburg in Kiel (daher liegt ein Notschrei der Kieler vor mir) aber wir werden dem Burschen auf den Fersen sein. In Harburg, Bremen, Hamburg und Kiel werden Gegenvorträge gehalten werden.“

   „Kühne treffe ich heute mittag zwei Stunden auf der Durchfahrt nach Bremen. Er fährt offenbar zur Vermöbelung von Drews. Ich werde ihm einige Tips geben.“[i] Da sie sich mittags getroffen haben, dürfte Walter Kühnes Vortrag gegen Drews am 10.10.1921 abends in Bremen gehalten worden sein. Kühne hielt den Vortrag an vielen Orten in Norddeutschland. Nicht diesen Vortrag gegen Arthur Drews, aber seinen Vortrag gegen Max Dessoir hat er auch drucken lassen.[ii]

    Arthur Drews Vortrag in Bremen erfuhr auch ein Echo in den Bremer Zeitungen. Ein keineswegs der Anthroposophie freundlich gesonnener Kritiker schrieb am 30.1.1922 in der Bremer Zeitung rückblickend, seit Rudolf Steiner in Dornach einen absonderlichen Tempel erbaut und „bei Stuttgart“ eine Schule errichtet habe, „tobt der Streit um Steiner .... Gelehrte von Ruf beschäftigen sich mit ihm, schreiben Bücher gegen ihn und bekämpfen in öffentlichen Versammlungen seine Lehre als gefahrbringende Erscheinung. In Bremen hat dies vor einiger Zeit der bekannte Prof.Drews besorgt, nach meinem Dafürhalten allerdings nicht sehr glücklich, weil seine Darlegungen nicht immer die wissenschaftliche Linie einhielten und weil sie nicht selten die strenge Sachlichkeit vermissen ließen, die man von einem Wissenschaftler seinem Gegner gegenüber erwarten muß. Z.B. darf ein Ausspruch wie der folgende einem Wissenschaftler nicht entschlüpfen: ‚Die Seele, die nach dem Tode im Weltenraum zurückbleibt, ist nicht mehr mein Ich, ist ein fremdes Ich und das kann der Teufel holen’.“[iii]

    Einer der Gründe für die Schwierigkeiten des Jahres 1923 liegt sicher in dem durch die Gegner erreichten Scheitern der Dreigliederungsbewegung. Obwohl Rudolf Steiner nicht in Norddeutschland eingegriffen hat, haben die Bremer Anthroposophen gemeinsam mit ihren Hamburger, Kieler und Lübecker Mitstreitern viel getan, um die Ideen der Dreigliederung den Köpfen und Herzen der Norddeutschen nahe zu bringen. Sie sind gescheitert vor allem an dem Widerstand der politischen Rechten, sowie an der Unbeweglichkeit eines großen Teils der Hochschullehrer.

     Für die Anthroposophische Gesellschaft gelang in diesem Ringen aber der Übergang von der großbürgerlichen Vorkriegsepoche in die Zeit der von der Wirtschaft abhängigen Demokratie. Die Anthroposophen waren gerade durch ihr Engagement davor gefeit, die Weimarer Republik für eine Lösung der anstehenden sozialen Probleme zu halten. Die Weltwirtschaftskrise 1928/29 war kein Unfall, sondern sie lag in der Logik des Geschäftsgebarens.

    Auch heute erfolgt die wirtschaftliche Verarmung weitester Menschheits-kreise mit Notwendigkeit, weil unfähige und von falschen Ideen getriebene Politiker anonymen Kapitalunternehmen keine Grenzen setzen. Deren völlig von den menschlichen Aufgaben alles Wirtschaftens losgelöste Renditeorien-tierung nimmt die Verarmung der Menschen in Kauf. Unternehmen, die ihre gesamten Gewinne wieder in die Ziele des Unternehmens investieren, verhalten sich wie ein Krebsgeschwür, das sein ganzes Tätigwerden nur auf die Vergrößerung seiner selbst ausrichtet und alle Mittel sich selbst zuführt. Dabei muß es die Lebensmöglichkeit der Umgebung zerstören. Die Wachstumsideologie ist eine Mangelerscheinung: Mangel an Sinn-Erleben in der wirtschaftlichen Betätigung führt zu Machthunger und Geldgier. Dieses soziale Karzinom des 20.Jahrhunderts und der Gegenwart ruft lauter denn je nach der Dreigliederung .


[i] 10.10.1921. Brief von Louis Werbeck an Emil Leinhas. Archiv am Goetheanum, C 09.002.002, Nr.57.

[ii] Walter Kühne. Im Kampf um die Anthroposophie. I. Prof.Max Dessoirs Methode die Anthroposophie Dr.Rudolf Steiners darzustellen und zu kritisieren. Breslau 1922.

[iii] Rezension „Und Steiner sprach“ von E.U., Bremer Zeitung 30.1.1922, Abendausgabe S.3. Zitiert nach Konrad Donat. Vorträge von Dr.Rudolf Steiner in Bremen im Spiegel bremischer Tageszeitungen. 1905-1922. Privatdruck März 2000. S.38/39.

Die Entwicklung des Bremer Zweiges seit 1921

      Als die Bemühungen um die Dreigliederung eingestellt werden mußten, wurden in vielen Städten Hochschulgruppen eingerichtet. Der Bund für Hochschularbeit ging aus dem für Dreigliederung hervor und wurde meistens von denselben Menschen geführt. Man verfolgte die Aufgabe, zu zeigen, daß die Anthroposophie das Geistesleben entscheidend befruchten kann. Man hoffte, wenn man zunächst die Freiheit im Geistesleben erkämpfen könnte, von dort aus auch die übrigen Lebensbereiche verwandeln zu können.

   So wurde vom 2.- 8.10.1921 auch in Bremen ein Anthroposophischer Kursus durchgeführt, öffentlich zugänglich, der wie die Hochschulkurse in den Universitätsstädten – Bremen hatte noch keine Universität - die Aufgabe hatte, die Auswirkungen der Anthroposophie im Gebiete der Wissenschaft zu zeigen.[i] Der Ort der Veranstaltungen war das ‚Moderne Theater’ in der Grossen Johannisstr.20 in Bremen-Neustadt, das ehemalige Deutsche Theater. Unter den Mitwirkenden waren Elise Wolfram (Leipzig) mit einem Kurs über Mythen-,Kult- und Sagenforschung, sowie Rudolf Meyer, damals in Hamburg ansässig, über Goetheanismus und über Methoden neutestamentlicher Forschung sowie Dr.Husemann über medizinische Themen.80a

     Auch der volkspädagogische Impuls, der der Anthroposophie ohnehin innewohnt, blühte in der Revolutionszeit auf. 1921 organisierte Ernst Bindel einen Einführungskurs mit Johannes Schröder in Rüstringen-Wilhelmshaven, wo er selbst seit längerer Zeit eine Gruppe aufgebaut hatte.[ii] In Bremen-Vegesack leitete Johannes Schröder im Herbst und Winter 1921-22 eine Arbeitsgruppe, die nur aus Arbeitern der Vulkanwerft sich zusammensetzte. Auf diese Gruppe war er besonders stolz. Sie wird vermutlich länger bestanden haben. Als Rudolf Steiner am Sonnabend, dem 28.1.1922 nach fünf Jahren erstmals wieder in Bremen öffentlich sprach, da waren es die Hafenarbeiter aus Vegesack, die Steiners Sicherheit garantierten.

     Die Kommentare der Zeitungen zu diesem Vortrag über „Das Wesen der Anthroposophie“, der vor ca. 3000 Bremern gehalten wurde, zeigen, daß die geistfeindliche Saat des Nationalismus und des bolschewistischen Sozialismus schon Wurzel gefaßt hatte. Derselbe Journalist der Bremer Zeitung, der Arthur Drews unwissenschaftliches Agieren bemängelt hatte, schrieb in demselben Artikel unmittelbar nach dieser Kritik: „Also wir haben nun den Propheten selbst gehört. Die Zuhörer saßen enggepresst und lauschten; ob aber sehr viele darunter waren, die den komplizierten, erdenfremden Darlegungen Steiners, der wie immer mit starken, rhetorischen Mitteln auf sein Publikum einwirkte, einen Gewinn mit nach Hause nahmen, bezweifle ich, ... . Jedenfalls eine Religion für das breite Volk ist die Anthroposophie nicht, und wenn Steiner auch das Gegenteil sagte, so bleibe ich doch dabei: diese Lehre ist für Menschen mit einem zerrütteten, krankhaft entzündeten Seelenleben. Alle Kraft- und Kampfmenschen, alle geradlinigen, gesunden, hysteriefreien Naturen werden sie entschieden von sich weisen.[iii]  Der namentlich nicht genannte Journalist kommt zu dem Schluß, man könne die Anthroposophen deswegen ruhig gewähren lassen.

   Solche Töne, hinter denen schon die Barbarei wetterleuchtete, war jetzt häufiger zu hören. Gerold von Gleich, ein Generalmajor a.D., der besonders in Württemberg Hetzvorträge gegen Rudolf Steiner hielt, schloß am 6.4.1922 einen Vortrag in Stuttgart mit den Worten: „Wir brauchen Männer, deutsche Männer, aber keine pazifistisch-theosophische Memmen. Machen wir also endlich vollends reinen Tisch mit diesem elenden Mysterienschwindel... Was hat denn eigentlich hier im Schwabenlande der talmideutsche Herr Steiner von der ungarischen Grenze zu suchen, mit seinen aufgeregten Klopffechtern schweizerischer, slawischer oder sonst außerdeutscher Nationalität? ‚Quo-usque tandem’ rufe ich Ihnen zu, meine Herren Anthroposophen, kehren Sie doch dahin zurück, woher sie gekommen sind, und lassen Sie wenigstens unsere deutsche Jugend deutsch bleiben.“[iv]  Gerold von Gleich hatte auch private Gründe für sein Engagement. Sein Sohn Sigismund von Gleich war Anthroposoph geworden und hatte eine Eurythmistin geheiratet. Weder der Beruf des Sohnes noch dessen Hochzeit erfüllten die Erwartungen des Generalmajors a.D.

   Als Rudolf Steiner am 19.Mai 1922 seinen letzten Vortrag in Bremen öffentlich hielt – über „Anthroposophie und Geisterkenntnis“ – notierte die Bremer Zeitung: „Die Anzahl der Besucher war bedeutend geringer geworden, waren doch sicher zum Januartag manche gegangen, um einmal Steiner persönlich gehört zu haben. Diese haben wohl in der Union gefehlt, sie hatten vom ersten Vortrag genug, denn damals wie Freitag, klüger und aufgeklärter über das, was eigentlich die Anthroposophie will, durch welche Mittel sie ihr angebliches Ziel erreichen, wie sie an die große Menge des Volkes herangebracht werden soll, ist wohl Freitag abend niemand geworden.“[v]

   Dieser Vortrag gehörte zu der letzten Reihe von öffentlichen Vorträgen, die Rudolf Steiner in Deutschland gehalten hat. Die Rundreise begann am 16.Mai in München und führte über Elberfeld, Köln, Bremen, Hamburg nach Leipzig.

In München war es am Ende des Vortrags zu tumultuarischen Szenen gekommen, bei denen ein Anschlag auf das Leben Rudolf Steiners unternommen wurde. Eine Münchner Tageszeitung hatte einige Tage zuvor Rudolf Steiner scharf angegriffen und geschrieben, „es würden sich hoffentlich deutsche Männer finden, die es verhinderten, daß dieser Herr den Boden Münchens betrete.“[vi] In Elberfeld wurde von einer kleinen Gruppe ein ähnlicher Versuch unternommen. Und Hamburg mußte Rudolf Steiner wegen einer Attentatsdrohung unmittelbar nach dem Vortrag am 20.5.1922 fluchtartig verlassen.[vii] Seither sprach Rudolf Steiner in Deutschland nur noch im Kreise der Anthroposophischen Gesellschaft. Dafür reiste er umso mehr in das europäische Ausland.


[i] Alexander Strakosch,  Lebenswege mit Rudolf Steiner. 2.Teil 1919-1925, Dornach 1952, S.117

80a Flugblatt. Archiv des Novalis-Zweiges. Bremen.

[ii] Bodo von Plato. Anthroposophie im 20.Jhdt. S.92.

[iii] Und Steiner sprach. Bremer Zeitung. 30.1. 1922. Abendausgabe. S.3. Zitiert nach: Vorträge von Dr. Rudolf Steiner in Bremen im Spiegel bremischer Tageszeitungen. 1905-1922. Zusammengestellt von Konrad Donat. Bremen März 2000. S.39.

[iv] Gerold von Gleich. Vom öffentlichen und vom geheimen Wirken Rudolf Steiners. Stuttgart 1922. S.32.

[v] Bremer Zeitung. 21. 5.1922. Morgen-Ausgabe. Nr.234. S.3. Zitiert nach Donat, a.a.O. S.43.

[vi] Rudolf Steiner in München. Bearbeitet von Dr.Karl Pollmann. Selbstverlag der Anthroposophischen Gesellschaft. Zweig München. 1961. S.58.

[vii] Die Christengemeinschaft in Hamburg. Eine Chronik von 1922 bis 1980. Zusammengestellt von Marianne Piper. !980. S.15-16.

Nach dem Brand des Goetheanums

    In der Silvesternacht vom 31.12.1922 ging das Goetheanum durch die Tat eines Brandstifters in Flammen auf.

     Am 1.Januar 1923 begegnete der Gärtner Karl Lang auf dem Bahnhof von Lesum J.G.W.Schröder, „welcher mit einfachem Reisegepäck auf dem Perron stand. Sein Gesicht erschreckte mich. War ein Unglück in der Familie geschehen, fragte ich mich. Herr Schröder stammelte: ‚Das Goetheanum in Dornach ist in dieser Nacht abgebrannt. Ich muß zu den Freunden in Bremen und dann nach Dornach.’[i] Über die weitere Aufnahme der Unglücksnachricht in Bremen wissen wir nichts.

    Auch aus der umwälzenden Zeit des Jahres 1923, als einerseits die doppelte Enttäuschung über die Niederlage im Kriege und das Scheitern der Dreigliederungsbewegung weite Kreise der Gesellschaft zu lähmen schien, und andererseits junge Menschen aus der Jugendbewegung in großer Zahl die Anthroposophie entdeckten, sind nur wenige Zeugnisse aus Bremen vorhanden.  

     Sicher ist, daß Johannes G.W.Schröder einen wachen Blick für begabte junge Menschen hatte und sie ebenso anziehen konnte, wie er sie förderte. So hatte er schon Ende 1920 den jungen Pädagogen Albrecht Strohschein engagiert, um seine sieben Kinder in Lesum privat unterrichten zu lassen.[ii] Der junge Rudolf Meyer wurde von ihm gefördert, auch mit Friedrich Husemann stand er in Kontakt.

     Doch siedelte  Schröder Anfang 1923 nach Stuttgart über, wie es heißt, um seine Kinder auf die neueröffnete Waldorfschule geben zu können. Ihm war die Begegnung seiner Kinder mit dem vollen Waldorflehrplan wichtiger als das wunderbare Landleben in Lesum. So mußte er das Landgut mitten in der Inflationszeit verkaufen – und natürlich unter großen Verlusten.

     Kaum in Stuttgart angekommen wurde vom 23.-25.Februar 1923 die Freie Anthroposophische Gesellschaft gegründet und der 52jährige Schröder wurde in den Kreis der acht leitenden „jugendbewegten“ Persönlichkeiten aufgenommen.[iii] Seine Mitgliedskarte in der Freien Anthroposophischen Gesellschaft trug die Nr.8. Doch war er eine derjenigen Persönlichkeiten, die eine Doppelmitgliedschaft innehatten, das heißt er blieb auch Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland.

     Über die Teilnahme von Bremer Mitgliedern an der Weihnachtstagung vom 24.12.1923 – 1.1.1924 liegen keine Berichte vor.

     Das Jahr nach der Weihnachtstagung war durch große Unsicherheit bestimmt.

     Im Herbst, am 14.11.1924, kam Louis Werbeck wieder nach Bremen. Wahrscheinlich ist der Faden zwischen Werbeck und dem Bremer Zweig nach der Dreigliederungszeit nie mehr abgebrochen. In einem Brief an Dr. Günter Wachsmuth erwähnt er den Vortrag in Bremen: „Heute fahre ich nach Bremen  und quassele dort einen öffentlichen Vortrag ‚Anthroposophie als Zeitforderung‘. Dieser Vortrag ist eine gute Nummer von mir. Ich möchte ihn wohl mal in seinen Grundgedanken skizzieren und dem Vorstande sozusagen zur Sanktion vorlegen.“[iv] Werbecks eigenartiger und unverwechselbarer Ton war kein wissenschaftlicher. Dass er trotzdem – oder auch gerade deswegen -angenommen wurde, beruhte darauf, dass er ein Herzensmensch war.

       Schließlich wissen wir auch nicht, wer an den Feierlichkeiten anlässlich des Todes Rudolf Steiners am 30.März 1925 nach Dornach reiste.


[i] Zitiert nach G.A.Kon. Albrecht Strohschein und sein Lebensumkreis. S.45.

[ii]  B.v.Plato. Anthroposophie im 20.Jhdt. S.809.

[iii] B.v.Plato. Anthroposophie im 20.Jhdt. S.976.

[iv] Louis Werbeck an Günther Wachsmuth, Hamburg 14.11.1924. Archiv am Goetheanum.

 

J.G.W.Schröder in Stuttgart

    Während seiner Stuttgarter Jahre schrieb Schröder einige kleinere Dichtungen. Mindestens eine davon veröffentlichte er: ein eigenartiges Weihnachtsmysterium Ex-Angelio Lucae in den drei Reichen, 1926 in München erschienen. Der Titel klingt nicht verkaufsfördernd. Er kann übersetzt werden mit: „Von der Botschaft des Lukas in den drei Reichen“. Das Spiel umfaßt ein Vorspiel und vier Bilder.

    Im Vorspiel besucht Joseph von Arimathia den Nikodemus, um mit ihm darüber zu beraten, was die Propheten über das Kommen des Christus gesagt haben und ob es an der Zeit sei. Im Volk sei eine großer Unruhe und es rede von dem Kommen des Christus. Nikodemus erweist sich in diesem Gespräch als der Kenner der Schriftrollen, kann aber auch keine Sicherheit geben: „Ich fürchte Josef, wir gehen alle irre in der Finsternis und vermögen nicht mehr, die Verheißungen recht zu deuten.“ Joseph kann immerhin erwidern: „...eine Stimme ruft in mir: ‚Siehe, ich komme bald!’“

    Das folgende erste Bild ist als ein musikalisch-eurhythmisches konzipiert. Es zeigt den Abstieg des Christus aus der Geistigen Welt durch die Sphären der Hierarchien auf die Erde. Die Bühne erhellt sich langsam, indem Schleier auf Schleier weggenommen werden. Es erscheinen drei Sphärenbögen, „der unterste Bogen ist rosarot, nach unten zu dunkler; der mittlere hellgelb, nach unten zu in Orange übergehend, der oberste ist ganz weiß, nach unten zu ein leichtes Hellblau andeutend. Der Hintergrund ist golden und geht oben leicht ins Hellrötliche über.“ Eine Treppe führt über die Mitte der Bögen herab. Auf den Bögen stehen Engel, die drei höchsten Hierarchien auf dem obersten Bogen, die dem Menschen nächsten auf dem untersten, die drei mittleren in der Mitte. Zwischen dem unteren und dem mittleren Bogen sind vier Wolken gelagert, auf denen die vier Erzengel der Jahreszeiten stehen. „Links Uriel in bronzener Rüstung mit grünem Gewand und blauen Flügeln, an der Treppe links Michael in goldener Rüstung mit weißem Gewand und rötlichen Flügeln, an der Treppe rechts Gabriel in silberner Rüstung mit rötlichem Gewand und weißen Flügeln, rechts Raphael in kupferner Rüstung mit violettem Gewand und gelben Flügeln.“ In diesem ganzen Bild wird kein Wort gesprochen. Nur das farbige Bild soll wirken und Sphärenmusik, die in Erdenmusik übergeht.

     Christus erscheint in blendender Lichtfülle und schreitet die Treppe herab mit einem Kreuzstab mit Fahne in seiner Linken. Die Hierarchien begleiten dieses Geschehen, indem sie eurhythmisch die Vokale gestalten, während er ihre Sphäre durchdringt. Nachher bleiben sie in einer charakteristischen Stellung stehen: „Die erste Hierarchie verbleibt in I-Stellung, die zweite in A-Stellung und die dritte in O-Stellung.“ Während Christus seinen Abstieg vollzieht, wird die zu Beginn sehr laute Musik schrittweise leiser, bis am Ende nur noch ‚Es ist ein Ros entsprungen’ zu hören ist. Während der blaue Vorhang sich schließt, gehen Maria und Joseph mühselig über die Vorbühne.

     Das zweite Bild spielt ein paar Tage später in Betlehem auf dem Markt-platz. Maria hat in der Nacht ihr Kind bekommen und Joseph will sein Vermögen taxieren lassen, wie es der Kaiser befohlen hat. Auf der Suche nach den Steuereintreibern erfährt er, daß die Taxe verdoppelt worden ist, nachdem es jüdische Unbotmäßigkeiten gegeben habe. Ein „Freund“ bietet ihm an, den Esel zu kaufen, damit er genug Geld habe für die Schatzung. Doch will er nur etwa die Hälfte des üblichen Marktwertes bezahlen. Joseph muß schließlich darauf eingehen, obwohl er den Esel für die Rückreise Marias dringend gebraucht hätte. Immer wenn er von dem Neugeborenen spricht, lachen ihn die Umstehenden aus. In seinem Alter sei er dafür wohl nicht verantwortlich! Überhaupt was sei besonderes dabei, Kinder würden jeden Tag geboren. Auch die Steuereintreiber lachen ihn aus, ja sie erhöhen die Taxe willkürlich, weil Joseph aus königlichem Stamm sei. Schließlich muß er auch noch eine Taxe für das Neugeborene entrichten. Die Menschen empfangen das Kind also mit Hohn und mit Spott.

    Im dritten Bild befinden wir uns auf einer Wiese am Waldesrand. Detailliert schildert Schröder das Spiel der Elementarwesen. Auch sie haben die Botschaft vernommen. Die Erde, die alt geworden war, wird verjüngt durch seine Kräfte. Doch die alten Mächte wollen dem Sonnensohn trotzen. Die Elementarwesen erzählen davon:

1.Salamander:   Dämonen grollen

                            Zernichter wollen

                            In Feuerbränden

                            Das Werden enden.

                            Es naht ihr Gericht!

                            Sie wissen es nicht,

                            Daß Leben den Tod überwindet,

                            Daß Liebe die Hassenden bindet.

1.Gnom:        So ist es wahr,

                       Was die Tiefen Raunen?

                       Wir wußten’s zwar,

                       Doch vergehn wir vor Staunen.

1.Undine:           Wir Wassergeriesel

                             Können nicht weilen,

                             Wir wollen über Kiesel

                             Zum Jordan eilen.

1.Sylphe:       Laßt es in Höhen und Tiefen dringen,

                       Laßt es in allen Reichen erklingen,

                       O, jubelnde Wonne,

                       Die Erde wird Sonne.

1.Salamander:    Licht aus den Höhen,

                               Wir wollen vergehn

                              Und wieder erstehn

                              Dich siegen zu sehen.

Alle Vier:       Der Elemente Viergewalt

                       Erneuern sich die Kräfte,

                       Denn unsre Erde, die war alt,

                       Jetzt jüngern ihre Säfte.

                       So laßt denn froh im Vierverein

                       Uns Elemente schwärmen,

                       Dem neugebor’nen Kindelein

                       Die kalte Erde wärmen.

Der folgende Tanz der Elemente wird plötzlich unterbrochen dadurch, daß drei Hirten auftreten. Es entspannt sich ein Hirtenspiel wie in den Oberuferer Weihnachtsspielen, die J.G.W. Schröder sicher kannte. Doch ist es kürzer. Die Hirten legen sich auch schlafen und träumen. Doch träumen sie nicht von dem Engel, sondern von Gnomen und von den Erddämonen, die sich dem Sonnen-sohn widersetzen wollen. Das Eingreifen der Jahreszeiten-Erzengel drängt sie zurück. Die Hirten erwachen und der Schrecken sitzt ihnen noch in den Gliedern, als Gabriel sie anspricht: „Fürchtet euch nicht!...“

    Nachdem sie seine Botschaft vernommen haben, machen die Hirten sich auf, um das Kind im 4.Bild in Betlehem anzubeten. Eine zarte, innige Szene entfaltet sich zwischen Maria und Joseph, dem Kind und den Hirten. 

     Ob das Weihnachtsspiel jemals aufgeführt wurde, ist nicht bekannt.

     Schröder und seine Frau blieben bis 1929 in Stuttgart. Als die Kinder die Schule verlassen hatten, kehrten die Eltern nach Bremen zurück.

 

Johannes Gottfried William Schröder. ca.1930-35

Die Krise der Anthroposophischen Gesellschaft

    Die Leitung des Zweiges hatte J.W.G.Schröder schon 1923 mit dem Einver-ständnis des Zweiges an den Studienrat Georg Heins übergeben. Wir hören bis 1930 kaum etwas von ihm und den Schicksalen des Zweiges. Wir können ahnen, wie seine philosophisch besonnene Seele sich zu den beginnenden Streitigkeiten unter den Dornacher Vorstandsmitgliedern und deren Anhängern stellte.

     In Deutschland bildete sich eine immer stärkere Gegnerschaft gegen Carl Unger heraus, die sich nicht an dessen geisteswissenschaftlichen Kenntnissen und Ansichten rieb, sondern an seinen Verwaltungsentscheidungen. Sie erschienen manchmal weltfremd. So schlug er zum Beispiel vor, es sollten alle Mitglieder direkt an die Landesgesellschaft bezahlen und zwar mit einer Art von Dauerauftrag. Der Gedanke war vom Gesichtspunkt eines Verantwortlichen der Zentralkasse vernünftig. Aber er berücksichtigte nicht, daß die Zahlungswilligkeit sich stark an der Qualität der Arbeit in den einzelnen Zweigen orientierte. Nahezu sämtliche Zweige legten Protest ein. Bremen protestierte nicht, Georg Heins „teilte mit“, man werde bei dem bisherigen Verfahren bleiben.

    Einzelne besonders Ergebene trieben die Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern des Dornacher Vorstandes immer weiter voran. Nach Carl Ungers gewaltsamem Tod Anfang 1929 begann auch der damalige deutsche Vorstand sich in diese Auseinandersetzungen – mehr oder weniger bewußt - als Partei einzumischen, indem er öffentlich die Unverletzbarkeit des esoterischen Vorstandes beschwor. Das wurde von vielen Mitgliedern als eine Einschränkung der Befugnisse des 1.Vorsitzenden empfunden und der deutsche Vorstand geriet – teils berechtigt, teils unberechtigt – in das Ansehen, gegen Albert Steffen zu opponieren. Er schien die Partei Ita Wegmanns und Elisabeth Vreedes zu ergreifen.

   Das bewog viele deutsche Zweige, an der Jahreswende 1930/31 die Landesgesellschaft zu verlassen und sich Dornach anzuschließen. Unter diesen Zweigen war auch der Bremer Zweig. Georg Heins begründete gegenüber Alfred Reebstein im nachhinein am 18.5.1931 den Austritt lakonisch damit, daß, „was an Arbeit möglich gewesen war, eigentlich stets ohne Stuttgart möglich gewesen“ ist.[i]  Reebstein leitete das Sekretariat der neu entstehenden deutschen Landesgesellschaft in Karlsruhe. Er hatte der Generalversammlung den Vorschlag unterbreitet, die ausgetretenen Zweige könnten sich in einer deutschen Gesellschaft organisieren, in der sie sich um neu von ihnen zu bestimmende Vertrauenspersönlichkeiten scharen könnten. Steffen hatte dann Ostern 1931 eine Initiativgruppe namentlich vorgeschlagen, die auch prompt ihre Arbeit aufnahm. Beim Anschluß des Bremer Zweiges charakterisierte Heins die Haltung der Bremer dahingehend, es sei „auf Vermeidung alles Vorstandsmäßigen, auf die Betonung der Freiheit sowohl in jener Gruppe wie bei uns“ zu achten. „Initiative ist eben nur freischöpferisch wahrhaft möglich, lebendig und wertvoll. So beginnen wir die neue Lage.“

     Dementsprechend beließen die Bremer zunächst vieles beim Alten, sie zahlten ihre Beiträge unmittelbar an Dornach, waren aber bereit mit dem Sekretariat in Karlsruhe als einer praktischen Stelle zusammenzuarbeiten. Die von Albert Steffen vorgeschlagene Initiativgruppe sahen sie an als „eine Gruppe von Menschen, die uns das bedeutet, was jeder Einzelne oder ihre Gesamtheit an anthroposophischer Arbeit leistet.“

    Am 5.Juli 1931 teilte Heins mit, daß die Gruppenabende der 30-40 Mitglieder in der Meinkenstraße 51 am Donnerstag 20 Uhr stattfinden. Dann heißt es: „Nach Erfahrungen in den letzten Jahren können wir offenbar auf auswärtige Redner nicht rechnen, wenigstens nicht auf lange Sicht oder für mehrere Vorträge. Wir bestreiten die Arbeit möglichst selbst.“[ii] Doch bittet er darum, Bremen bei der Planung der nächsten Eurythmietournee zu berücksichtigen. Er habe Herrn Froböse schon orientiert.

   Im Oktober stimmten die Bremer Mitglieder der Übernahme des Namens „Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland“ durch den Initiativkreis zu.[iii] Doch blieb der Zweig weiterhin eng mit Dornach verbunden.        

    Erst zwei Jahre später schloß sich auch eine kleinere Bremer Gruppe, die ehemals zur Freien Anthroposophischen Gesellschaft gehört hatte, zum 1.Juli 1933 der Karlsruher Initiativgruppe an. Lediglich der Priester der Christenge-meinschaft Dr.Hardorp, dessen Frau und die Priesterin Ida Stümcke konnten diesen Schritt nicht mitmachen.


[i] 18.5.1931.Georg Heins an Alfred Reebstein. Archiv am Goetheanum C07.002.032.

[ii] 5.7.1931 Georg Heins an Alfred Reebstein. Archiv am Goetheanum C07.002.032

[iii] 2.10.1931. Georg Heins an Alfred Reebstein. Archiv am Goetheanum. C.07. 002.032. Nr.275.

Georg Heins. 15.9.1881 - 9.11.1958.

Nach der Machtergreifung 1933

  Der Zerrissenheit im Inneren  der Gesellschaft entsprach im Äußeren ein Zunehmen der Gegnerschaft. Seit der Machtergreifung der National-sozialisten am 30.Januar 1933 nahm der Tonfall deutlich an Schärfe zu.

   Eines der Mittel, durch welche die Anthroposophie und Rudolf Steiner in Deutschland herabgesetzt werden sollten, war die Verdächtigung, General-Oberst von Moltke sei Schuld an der verlorenen Marneschlacht und habe dadurch den Sieg im 1.Weltkrieg verschenkt. Moltke habe an seine eigene Kraft und an den Sieg Deutschlands nicht geglaubt und sich aus okkulten Quellen Zuversicht holen müssen – zum einen von der sog. Heeres-Sybille Lisbeth Seidler, die angeblich im Hauptquartier über den Ausgang kriegerischer Unternehmungen Auskunft gegeben habe, zum anderen von Rudolf Steiner.[i]

   Wie sollte man sich gegenüber solchen verschärften Angriffen verhalten? Es wurde erwogen, eine landesweite Kampagne zur Verteidigung der Anthropo-sophie und ihres Gründers mit einer großen Anzahl von Rednern durchzuführen. Walter Siber nahm dazu am 25.März 1933 Stellung:

    „Sehr geehrter Herr Reebstein!

Erlauben Sie mir bitte, aus den Eindrücken, die ich in unserer Stadt von öffent-licher Arbeit und Gegnerschaft im Laufe vieler Jahre, in denen mir die Vorbe-reitung der Vorträge auswärtiger Redner oblag, eine Situation zu schildern, wie ich sie im Zusammenhang mit den geplanten Vorträgen zur Gegnerabwehr sehen muß.“

  „Bisher konnten gelegentliche Ausfälle in den Zeitungen noch immer berichtigt werden, doch selbst wenn das nicht mehr möglich wird, so ist Anthroposophie nichts Unbekanntes mehr; wer sich ernstlich orientieren will, findet jederzeit Möglichkeit dazu. Je klarer und sauberer sie vorgetragen wird, je sicherer können wir sein, sie in der Außenwelt richtig gewürdigt zu finden. Wenn es möglich ist, sie jahrelang in einer Stadt in sorgfältiger Darstellung zu vertreten, so wird von selbst jede üble Gegnerschaft als oberflächlich oder geschmacklos von ernsten Menschen abgelehnt. Dies haben wir häufig erfahren.“

  „Es stand nach einem Zeitungsangriff ein Außenstehender bei unserem nächsten öffentlichen Vortrag auf, und verwahrte sich als Bremer Bürger gegen die Unwürde, mit der den Lesern berichtet würde.“

   „Einfach positive Leistung gegen negative Kritik zu stellen, wird auch späterhin hier leitend sein. Im Augenblick scheint uns aber besonders die Einleitung eines ausgesprochenen Abwehrkampfes verfehlt, da er die Situation unübersehbar verschärft und den Gegnern weitaus bessere Kampfinstrumente in den Zeitungen zur Verfügung stehen. Ein solcher Einsatz in anderen Orten müßte gleichfalls unsere Arbeit stören.“

    „Auch unser Zweigleiter ist dieser Ansicht und bitten wir Sie, uns bei der Zusammenstellung von Vortragsreisen unserer Redner unter diesem Gesichtspunkt zu berücksichtigen.“[ii]

    Seine Haltung entsprach ganz derjenigen des Initiativkreises. Alfred Reebstein antwortete daher:

 

Sehr geehrter Herr Siber!

Für Ihren freundlichen Brief vom 25.III. danke ich Ihnen sehr. Was Sie von den Erfahrungen aus der Bremer Arbeit sagen, ist sehr erfreulich und entspricht auch dem, was anderwärts beobachtet werden kann. Auch was Sie über die Möglichkeiten und die Aussichten eines ausgesprochenen Abwehrkampfes sagen, scheint mir richtig.  Auch die Initiativ-Gruppe ist in ihrer Gesamtheit dieser Auffassung und wird nichts tun, was die Arbeit zu erschweren geeignet wäre.

                                                     Mit den besten Grüssen

                                               auch an Herrn Studienrat Heins

                                                                           Reebstein[iii]


[i] Bremer Nachrichten. 13.1.1933: Die Heeres-Sibylle. Ein Kapitel abseits der Tagespolitik.

[ii] 25.3.1933. Walter Siber an Alfred Reebstein. Archiv am Goetheanum C07.002.032.

[iii] 1.4.1933.Alfred Reebstein an Walter Siber. Archiv am Goetheanum C07.002.032.

 

Walter Siber. 19.3.1902 - 30.10.1972.

Das geistige Ringen um die Aufgabe                                                                     Deutschlands

   Tatsächlich haben etwa ab 1929 einzelne Mitglieder einen geistigen und zum Teil auch propagandistischen Kampf gegen den heraufkommenden Nationalsozialismus geführt.

   Prof.Dr.Richard Karutz z.B., der das Völkerkundemuseum in Lübeck bis 1921 geleitet hat, veröffentlichte seit 1930 fortlaufend „Vorlesungen über Moralische Völkerkunde“. In der ersten Vorlesung heißt es zum Beispiel:

    „Wir können und wollen nie wieder zu den alten Sippen- und Familienver-bänden zurück. Unser Weg geht nur durch die Individualität. Er geht nie durch die Masse, wenn auch freilich durch jeden Einzelnen in der Masse; er geht nie durch Institutionen, die offen oder versteckt starre Erhaltung der Vergangenheit und Knebelung der Freiheit und Selbstverantwortung bezwecken; er geht nur durch das freie Individuum.

   „Die Völkerkunde zeigt uns natürlich nur einen Teil unseres Weges, aber immerhin eine wichtige Strecke des Überganges von der Gruppe zum Einzel-menschen.“

   „Aus ihr haben wir nun zu lernen, daß hinter der Volksgruppe eine wirkliche geistige Kraft, der Volksgeist, steht, und daß innerhalb, später außerhalb der Gruppe ebenfalls eine wirkliche geistige Kraft steht, der Mensch; aus ihr haben wir Ehrfurcht vor dem geistigen Wesen Mensch zu lernen.“

   „So wird Völkerkunde zu Menschenkunde. Das Volk wird zu einem Durchgange des Menschen auf dem Wege zu sich selbst.“[1]

    Man muß nur die letzten Sätze mit der nationalsozialistischen Phrase „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ vergleichen, um den Gegensatz voll zu erleben. Daß man Karutz heute z.T. für einen Vorbereiter des Faschismus hält, weil man schon den Gedanken einer „Höherentwicklung der Menschheit“ für gefährliches Schwärmertum erachtet, weist auf einen gefährlichen Mangel an Unterscheidungsvermögen. Man verwechselt das Heilmittel mit der Krankheit.

    Zu erinnern ist ferner an Dr. Dr. Karl Heyer, der in Vorträgen und Veröffent-lichungen versucht hat, auf die wahren Aufgaben des deutschen Volksgeistes hinzuweisen. 1932 druckte Ernst Surkamp in Stuttgart seinen Vortrag „Das Schicksal des deutschen Volkes und seine Not. Gibt es einen Ausweg?“. Eine weitere Broschüre erschien 1933, ebenfalls ein umgearbeiteter Vortrag mit dem Titel „Kulturkrise und Anthroposophie“.

    In Hamburg trat Johannes Bertram besonders kämpferisch in der Öffentlichkeit auf. Er hielt am 10.Februar 1932 in der Musikhalle einen Vortrag über „Der Durchbruch des deutschen Geistes“ und zwei Tage später über „Der Kampf um die Erde“. Im ersten Vortrag prägte  Bertram zunächst einen scharf umrissenen Begriff des Kapitalismus:

   „Die Einschaltung von Kapital innerhalb des Wirtschaftsablaufes führt keineswegs zu dem, was man das ‚kapitalistische System’ nennt. Dieses kapitalistische Wirtschaftssystem ist erst dadurch zu dem geworden, was es heute ist, indem es das Kapital in den Vordergrund seines Interesses gerückt und die Kapitalbildung als solche zum Ziel und Zweck des Wirtschaftens gemacht hat. Mit der Bildung und Verwaltung von Kapital wächst für den Menschen in der heutigen Wirtschaftsordnung  die Möglichkeit der Auswirkung der egoistischen Triebe. Der heutige kapitalistische Wirtschafter strebt nach Kapitalbesitz und Kapitalsteigerung zum Zwecke einer egoistischen einseitigen Machtentfaltung. Er löst das Kapital aus dem konkreten Wirtschaftsprozeß heraus und stellt es als eine rein egoistische Angelegenheit diesem Wirtschaftsprozeß gegenüber. Letzterer sinkt dann zu einem bloßen Mittel für Kapitalbildung herab. Was sich in der wirtschaftlichen Wirklichkeit der Völker abspielt, hat für den Kapitalisten an und für sich keine Bedeutung, sondern nur soweit sie seinen Kapitalbesitz fördert und durch diesen die Möglichkeit der Machtentfaltung. Dadurch übersteigert sich der Kapitalbildungsprozeß so sehr, daß er sich gegen die Wirtschaft selbst richtet und sie als konkretes Geschehen, als gesunden sozialen Vorgang zu zersetzen droht. Der Kapitalismus ist die einseitige von der Wirklichkeit der Wirtschaft losgelöste Anwendung des Kapitals. Diese Loslösung von der Wirklichkeit wirkt sich wirtschaftsschädigend, wirtschaftsfeindlich aus.“[2]

    Das Kapital, das dem Wirtschaften der Menschen dienen sollte, wurde dem Zweck, für den es geschaffen war, entfremdet. Inzwischen habe sich aber der Kapitalismus weiterentwickelt und eine noch verheerendere Form angenom-men: „...die persönliche Machtauswirkung des von der Wirtschaft losgelösten Kapitals schlägt um in eine unpersönliche Machtauswirkung. Das Kapital als solches, losgelöst von der Wirtschaft, gewinnt Eigenmacht, setzt aus sich selbst eine überpersönliche, man kann sagen – eine übermenschliche Gesetzmäßig-keit – heraus, die alles in ihren Mechanismus hereinzieht, was sich mit ihr verbindet. Der ursprünglich persönlich-kapitalistische Machthaber sieht sich allmählich einer im Kapital darinnen steckenden überpersönlichen Macht verfallen. Unpersönliche, kapitalistische Wirtschaftsgebilde, wie man es heute nennt, entstehen.“ – Gemeint sind Aktiengesellschaften, in Frankreich Societe Anonyme genannt. „Der Einzelne wird nun zum Werkzeug dieser Gebilde, der in ihnen wirkenden Gesetzmäßigkeit. Persönliche Übersicht verschwindet und somit die persönliche Beherrschung der Kapitalströmungen. Die individuelle Verantwortlichkeit wird ausgelöscht und an ihre Stelle tritt das Räderwerk einer mechanistischen abstrakten Notwendigkeit. Betrachtet man so den kapitalistischen Wirtschaftsprozeß, so erlebt man durch ihn die Entpersönlichung der Menschheit.“

    Mit diesem zweiten Gedanken weist Bertram darauf hin, daß den von Menschen geschaffenen kapitalistischen Gedanken eine Art von Selbstverwirklichungskraft inne wohnt. Denn dieser Gedanke ist ja im Stande, in einem menschlichen Bewußtsein alle menschlichen Einwände beiseite zu drängen.


[1] Richard Karutz. Vorlesungen über Moralische Völkerkunde. 1.Lieferung. Stuttgart 1930. S.18-19.

[2] Johannes Bertram. Der Durchbruch des deutschen Geistes. Der Kampf um die Erde. Zwei öffentliche Vorträge am 10. und 12.Februar 1932 in der Musikhalle zu Hamburg. Selbstverlag 1932. S.3.

Nun muß man aber beide Tatsachen zusammen sehen:

    „Von der Seite einer abstrakten wirklichkeitsfremden Geistigkeit her erlebt man wie sich in ihm [dem Kapitalismus] eine die Menschheit zerstörende Weltdämonie auslebt und diese Tatsache ist das erschütterndste, was man am kapitalistischen System erleben kann. Loslösung des Kapitals vom Menschen, dadurch wird der Kapitalismus menschheitsfeindlich. Durch diese zweifache Loslösung des Kapitals durch die kapitalistische Wirtschaftstechnik – einmal von der konkreten Wirtschaft selbst, wirkt es sich wirtschaftsstörend aus, das andere mal vom Menschen, wird er menschheitsfeindlich – löst sich der Kapi-talismus sowohl von der Naturgrundlage, wie von der Geistesgrundlage der Wirklichkeit los: d.h. er wird wirklichkeitsfeindlich. Als solche wirklichkeits-feindliche Macht verhindert der Kapitalismus jeglichen gesunden sozialen Aufbau.[1]

      Von einer Weltdämonie spricht Bertram, die zwei unterschiedliche Verirrungen zusammenhält. Hinter seinen Worten taucht eine Trias des Bösen auf, die nicht nur menschenfeindlich ist, sondern in letzter Konsequenz wirklichkeitsfeindlich. Es charakterisiert sie, daß sie beide Seiten der Wirklichkeit zerstört.

        Wer weder die Wirklichkeit des Menschen noch diejenige der Völker oder der Natur achtet, der kann den Krieg als Mittel für die Wirtschafts-förderung ernstlich in Betracht ziehen. Krieg und Kapitalismus erweisen sich als eine Folge des einseitigen naturwissenschaftlichen Denkens.

      Bertram fragt dann, was den Kapitalismus überwinden könne. Er legt  Spenglers Idee, daß der Mensch seit Jahrhunderten auf dem Weg einer faustischen Kultur ist, zu Grunde. Spengler bezeichnet damit den Weg von der Nutzung zur Ausnutzung der Natur. Der von Spengler charakterisierte erste Strom der Faustischen Kultur wird vor allem vom Westen und Süden getragen. Es sind jene Menschen, die ihre Schöpferkräfte ganz auf das Erreichen äußerer Ziele lenken; Spengler beachtete die faustische Suche derer nicht,  die ihre Kräfte zur Erkenntnis des Geistig-Seelischen  verwenden. Während die Helden der äußeren Wissenschaft dazumal eher aus Italien, Frankreich und England kamen, war das Ringen um die Erkenntnis des Menschengeistes schon immer ein zentrales Anliegen der deutschen Geister. Ihre Frage ging darauf hinaus, zu erfahren: „Wie stellt sich das menschliche Wesen sinnvoll in das Naturgesche-hen hinein?“ Darum rangen die Mystiker, darum rang auch Schiller.

    Goethe vereinigte die beiden Ströme in einer persönlichen Synthese, wie Bertram überzeugend darlegt. Diese Synthese, an die auch Rudolf Steiner anknüpfte, wurde im zweiten Drittel des 19.Jahrhunderts verworfen. „Die Weltanschauung des faustisch-deutschen Menschen wurde dadurch isoliert. Der Mensch als geistiges Wesen wurde wieder im Bewußtsein der Zeit ausge-löscht[2]

     Bertram bringt diesen Vorgang in das Bild einer Einkreisung Deutschlands durch das westliche Denken. Nachdem im 2. Drittel des 19. Jahrhunderts Mitteleuropa das eigentliche deutsche Geistesleben verloren hatte, entstand aus der geistigen Einkreisung nunmehr eine rechtlich-staatliche. Diese politische Einkreisung führte dann zum Sieg der Westmächte im ersten Weltkrieg.

    Eine dritte Einkreisung stehe nunmehr bevor. Dabei „handelt es sich für die westlichen Völker darum, auch in wirtschaftlicher Beziehung Deutschland seine Selbständigkeit zu nehmen und dem deutschen Volke damit die Basis zu zerstören, die es nötig hat, um als freies Volk seine geschichtsbildende Aufgabe ergreifen und vollführen zu können."[3]      

    Die Folgen beschreibt Johannes Bertram mit seherischer Klarheit: „Gewinnt das kapitalistische System, gestützt durch die westlichen Staaten, eine weitere Herrschaftsepoche, so vollzieht es dadurch die Degradierung der Menschen zur Maschine, der Völker zum Sklavenvolk. Die einzelnen Volkswirtschaften werden zerstört. Zerstört wird auch die Naturgrundlage, zerstört wird sogar die Technik selbst. Alles Leben verliert seinen menschlichen Sinn.“[4]

   Demgegenüber erneuert Bertram die Frage, aus welcher Quelle die einseitige westliche Anschauung überwunden werden könne. Und er zeigt, daß gerade die Anthroposophie geeignet ist, das Faustische Ich-Streben mit der westlichen Wissenschaftlichkeit zu verbinden.

    Man darf sich nicht von Bertrams Überzeugung verwirren lassen, Deutschland habe eine Mission. Es hat eine Mission! Das Ringen um die Erkenntnis einer solchen Mission war ein Akt höherer Selbsterkenntnis. Jedes Volk hat eine Sendung. Das Reden von einer Mission des deutschen Volkes wurde vor der Zeit des Nationalsozialismus noch nicht als gegen die anderen Völker gerichtet aufgefaßt. Die goethische Kraft der Synthese kann nur da sinnvoll wirken, wo zwei stark entwickelte Gegensätzlichkeiten vorhanden sind. 

     Das Prinzip des individuellen Schöpfertums wird nicht durch das Hervorheben der Erwartungen, die der Verfasser für das deutsche Volk hegt, eingeschränkt, sondern auf die Spitze getrieben.

     Mit keinem Wort wird irgendeine Verantwortlichkeit des Judentums für die beschriebene Entwicklung angedeutet.     


[1]   dito S.3-4.

[2]  dito S.10.

[3] dito S.12.

[4] dito S.12.

Günther Wachsmuth in Worpswede

   Am 3.Dezember 1933 hat Dr. Guenther Wachsmuth, Mitglied des Dornacher Vorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, in Worpswede einen Vortrag gehalten. Das Thema lautete „Mensch und Natur in der Anthro-posophie Dr.Rudolf Steiners“.

Es liegt nahe anzunehmen, daß Johannes Schröder mit einem Kreis der ehemaligen Freien Anthroposophischen Gesellschaft die Verantwortung dafür trug.

     Es existiert ein gut dreiseitiges Typoskript im Archiv des Hamburger Zweiges, das offenbar eine Abschrift von mitgeschriebenen Notizen ist, entstanden in den Dreißiger- oder Vierziger-Jahren. Diese Notizen geben einen interessanten Einblick, wie Dr. Wachsmuth vorgetragen hat. Das Typoskript wurde an einzelnen Stellen stilistisch ergänzt und von schnurrigen Schreibfehlern befreit:

 

   „Welches ‚geistige Handwerkszeug’ steht dem Naturforscher in den ver-schiedenen Zeitläuften zur Verfügung?

   Durch die Wege der Vergangenheit hat sich der Mensch von der Natur entfernt. Die Gedanken sind wirklichkeitsfremd  geworden. Wodurch? Fremde Gedankengänge sind bei uns eingedrungen.

Aus dem Westen: Materialismus.

Aus dem Fernen Osten:

              Abgestorbenes Überliefertes aus anders gearteter Vergangenheit.

Die Früchte aus dem Süd-Osten:

              Früchte vom Baum der Erkenntnis, jedoch: Intellektualismus.  

Die Früchte aus dem Norden: Früchte vom Baum des Lebens. Sie sind jedoch

               nicht von uns gehütet worden, sondern in Museen gebracht.

 

Das Wesen des Intellektualismus: nur äußere Wahrnehmung, deshalb nur der Dinge - durch Messen, Zählen und Wägen.  An die Stelle des Menschen wurde als besseres Forschungsmittel der Apparat gesetzt. Ergebnis: nur die mineralische Welt kann dadurch erkannt werden.

                   

Und die alten Erkenntnismethoden aus dem Osten? Da der Mensch nicht an die Möglichkeit glauben kann, sie zu erneuern:  Ergebnis Fatalismus, letzten Endes Zynismus.

    Die alten Methoden, die noch beide Welthälften, die sinnlich wahrnehmbare und die übersinnliche, vereinigten, wurden  z.B.  gepflegt in den Mythologien.

    Ehrenfried Pfeiffer sagte in seinem Vortrag: ‚Der Mensch hat – als Chemiker! - zu wenig Respekt vor der Pflanze.’

    Karl Simrock spricht in einer Art von Notruf  von einer ‚Karikatur der Mythenforschung’: Der Gott Thor wird erklärt als Elektrizität, die Göttinnen  werden erklärt als Kohlenstoff und Sauerstoff !

    Der Physiker Eddington beschreibt die Not der Physik: ‚Die Eigenschaften (qualities) dieser Welt entziehen sich unserer Forschung.’ – ‚Der Mensch gewinnt nur aus der Natur zurück, was er in sie hineinprojiziert hat.’ -‚Die heutige Wissenschaft beschränkt sich auf  Zeiger-Ablesungen.’ – Eddington weiter: ‚Auch Einsteins Relativitätstheorie ist ein Tiefpunkt.’ – ‚Die Wirklichkeit ist uns in den Bedrängnissen der Jagd nach Erkenntnissen verloren gegangen.’

    Albert Einstein: ‚Der Raumbegriff hat die Zeit verschlungen. Er bleibt als einziger Repräsentant zurück.’

    Dr. Wachsmuth resümierte: Ein sehr begriffsarmes Denken – zugestandener-maßen. Würde uns dieses Denken verloren gehen – wir würden recht wenig verlieren. Für ein neues Weltbild ist neues ‚geistiges Handwerkszeug’ vonnöten.

Es gibt eine Übersteigsmöglichkeit für die Grenzen der Naturerkenntnis.

Rudolf Steiner sagte immer wieder: ’Es ist eine  Halbheit, wenn man nicht beide Welthälften erfaßt.’ – Es braucht keinen Untergang des Abendlandes zu geben; das ist eine Angelegenheit des Willens. Man muß das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall hinführen! (=Anthroposophie)

     Der Mensch besteht nach anthroposophischer Erkenntnis  aus

  1. dem physischen Leib,
  2. dem Bildekräfte=Organismus.
  3. dem Astralleib
  4. dem Ich.

Rudolf Steiner: ‚Die Erkenntniskräfte dafür, um das Mechanische in der Welt zu erfassen, sind von selbst wach, sie sind uns geschenkt.

     Die Erkenntniskräfte zum Erfassen der Bildekräfte müssen erst geschult werden.

    Rud. Steiner gibt ein Beispiel für die Bildekräfte. Jemand drückt mit einem Petschaft ein Siegel in Wachs. Dem Abdruck in Wachs entspricht die Wirkung der Bildekräfte, die Form im physischen Leib. Die Bildekräfte sind das Pet-schaft des Geistes.  Ein Fremder, der den Abdruck sieht, aber den Petschaft nicht erblickt, muß doch auf dessen Existenz schließen. Ebenso muß der nicht ‚schauende’ Beobachter einer Pflanze  auf die Existenz der bildenden Kräfte dieser Pflanze schliessen.

    Also: der einfachste Vorgang in der materiellen Welt ist nur zu verstehen durch die Berücksichtigung beider  ‚Welthälften’.

 

Zur Methodik der neuen Forschung:   Rudolf Steiner betont ‚diese Erkenntnis-kräfte schlummern in jedem Menschen.’

   Nicht immer am Objekte hängen, sondern beim ‚Ich’ den Anfang machen.’ Der Mensch muß zu einem intimen Beobachter gemacht werden.

  J.G.Fichte sagt in den ‚Reden an die deutsche Nation’: ‚Wer zur Sache selbst kommen will, muß das eigene geistige Werkzeug in Benutzung setzen.’ Die Erforschung des Lebendigen ist nur durch Meditation möglich.

    Rudolf Steiner  ‚Die dadurch erforschte Welt ist wirklicher!’

    Goethe an Wilhelm von Humboldt: ‘Das Tier wird belehrt durch seine Organe. Der Mensch kann seine Organe wieder belehren.’

   Rudolf Steiner beschreibt‚ das Denken ist zu erkraften wie ein Muskel.

Zum Beispiel können wir  uns konzentrieren auf einen Wachstumsvorgang, oder auf den Verwelkensvorgang einer Pflanze. Das sollen wir  miterleben, wir sollen  mitschwingen. Das führt nach Rudolf Steiner zu  einer ‚Energisierung des Gedankenlebens.’

   Ein anderes Beispiel: Schulung zum Mut! Furchthaben ist Verschwendung von Seelenkraft. –

   Der Gärtner: seiner Arbeit gehen bestimmte Gedanken voran. Er kann wäh-len zwischen alten Gedanken und Gedanken anthroposophischer Art. Durch letztere werden wir wieder zurückkommen zum Baum des Lebens.

   J.G.Fichte: ‚Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, das, wo es auch geboren sei, ist unseres Geschlechts. Was eine tote Natur an das Ruder der Welt stellt, ist undeutsch.’“

 

Wachsmuth sprach in Worpswede so, daß der Kern seines Lebensanliegens in seinen Worten deutlich wird, der Aufbau eines naturwissenschaftlichen Weltbildes auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Im Dezember 1933, so kann man diesen Aufzeichnungen entnehmen, konnte ein anthroposophischer Vortrag noch ohne Abstriche gehalten werden. Kritik an den herrschenden Verhältnissen sprach Wachsmuth allerdings - deutlich aber vorsichtig - vor allem durch die richtungweisenden Worte der deutschen Klassiker aus. Zumindest sind nur die Zitate erhalten, eventuelle persönliche Äußerungen zu den Zitaten jedoch nicht. Doch spricht gerade das abschließende Zitat von Fichte davon, daß es eine Verwandtschaft der Geister gibt, der gegenüber der Zusammenhang der leiblichen Abstammung zweitrangig ist.

    Wachsmuths Hinweis auf einen Vortrag von Ehrenfried Pfeiffer und seine Bezugnahme auf den Gärtner legen den Gedanken nahe, daß der Vortrag vor Landwirten,  die biologisch-dynamisch wirtschaften, gehalten wurde. 

 

Am 8.Juni 1935 kam es in Worpswede dann zu, einem Zusammenschluß von zehn Mitgliedern zu einer Arbeitsgruppe und zu der Bitte an die  Landesgesellschaft die Arbeitsgruppe anzuerkennen. Die ersten Mitglieder der "Arbeitsgruppe Worpswede" waren: Herta Passolt, Hubertine Plum, Erna und Gerhard Schwarz, Max Diller, Max K.Schwarz, Elli und Karl Kriete sowie Helene und Dr. Wilhelm Jungmann.

Ein Nationalsozialist als Zweigleiter

   Eine ganz andere Initiative ging von dem Zweigleiter des kleinen Hamburger Aristoteles-Zweiges, Dr. Fritz Rascher, aus. Der Zweig Hamburg IV gehörte wohl seit der Krise 1930 nicht mehr der deutschen Landesgesellschaft an und zahlte auch keine Beiträge an Dornach. Die geistig maßgebende Persönlichkeit des Zweiges war Johannes Bertram, während Dr. Fritz Rascher wie sein Bruder dem Nationalsozialismus verfallen waren. 

    Der Bruder des Zweigleiters, Dr.med.Hanns Rascher, lebte bis 1928 ebenfalls in Hamburg, war aber nach München übergesiedelt und ca.1931 Parteimitglied geworden. In einem Brief an die weltanschauliche Parteileitung vom 18.4.1935 nahm er für sich in Anspruch, „ebenso ehrlicher Anthroposoph wie Nationalsozialist“ zu sein. Sein Sohn Dr.med. Sigmund Rascher, der kein Anthroposoph war, aber durch seine Familie in einer schicksalhaften Nähe zur Anthroposophischen Bewegung gesehen werden kann, führte Versuche an lebenden Gefangenen des Konzentrationslagers Dachau durch. Bei Versuchen zum Erfrieren im Wasser nahm er den Tod der Gefangenen billigend in Kauf. Bei der Erprobung von Weleda-Medikamenten gegen das Erfrieren wurde er zum vielfachen Mörder.  

   Johannes Bertram hingegen wollte tatsächlich auf dem langen Weg durch die Institutionen den Nationalsozialismus von innen her überwinden. Das wird auch durch Dramen belegt, die Bertram während der nationalsozialistischen Versuchungszeit schrieb. 1936 hatte er ein Widukind-Drama [1] vollendet, das tiefe anthroposophische Gedanken enthält, aber keine faschistischen. Gerade bei diesem Thema wären völkische und rassistische Untertöne zu erwarten gewesen.

    Der Zweigleiter Dr. Fritz Rascher empfahl gemeinsam mit Johannes Ber-tram in einem Rundschreiben an alle deutschen Zweige, man möge den Fort-bestand der Gesellschaft dadurch sichern, daß man Nationalsozialisten in die Leitung der Zweige aufnehme und auf diese Weise die Erwartungen der national-sozialistischen Machthaber erfülle. Es könnten ja die betreffenden Mitglieder pro forma der Partei beitreten. Er nannte das eine Reorganisation der Gesellschaft. Die Initiative erregte weites Aufsehen in der Gesellschaft und fast jeder Zweig nahm dazu Stellung.

   Am 6.Oktober 1933 teilte Georg Heins dem Sekretär des Initiativkreises, Herrn Reebstein in Karlsruhe mit, wie er sich zu der Initiative des Aristoteles-Zweiges gestellt habe. Er habe unter anderem geantwortet:

   „Die Durchführung im Sinne Ihres Antrages halten wir für unmöglich und schädlich. Die beste Abwehr liegt in dem Dasein der Anthroposophie und ihrer reinen Vertretung, ihrem reinen Darleben.“

    „Der Antrag ist zur Diskussion gestellt, aber es ist von allen Anwesenden abgelehnt worden, in der von Ihnen vorgeschlagenen Art Schritte zu unternehmen oder zu empfehlen.“

   „Eine Reorganisation der Gesellschaft halten wir nicht für erforderlich. Wir haben den positiven Eindruck guter Arbeit und wachsenden Gemeinschafts-geistes. Ihre Kritik an Dornach, der Initiativgruppe und ihren Schritten scheint uns nicht angemessen.“

   „Ihren Vorschlag .... halten wir für einen Weg zur Politisierung der Gesellschaft, damit zur Aufgabe nicht bloß der Freiheit, sondern des Wesens unserer Bewegung innerhalb unserer Gesellschaft. ... Wir müssen eine Teilnahme an Ihrem Schritte unbedingt ablehnen.“[2]

    Dr.Rascher und Johannes Bertram hatten auf diese und viele weitere ablehnende Zuschriften im August in etwas moderaterem Tone geantwortet. Sie hielten es für möglich, nach einer Reorganisation, die für die anthroposophische Arbeit einen absolut freien Spielraum erbringen würde, innerhalb des nationalsozialistischen Lagers eine breite Propaganda zu entfalten. Dazu schrieb Georg Heins:

    „Die Erfahrungen mit der Gegnerschaft gegen die Schule, die Ärzteschaft, die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise, vor allem die Erfahrungen im Propagieren der Dreigliederungsidee um 1920 herum, sollten uns lehren, was eine allzu starke und eventuell falsche Propaganda an Schaden anrichten kann. Gegner können dann ‚hellhöriger’ werden, als gut ist.“

   Heins schloß seinen Brief mit einer beherzten Warnung, die er allerdings mit einem Hofknicks vor der Partei verbrämen mußte, als deren Anhänger sich der Hamburger Zweigleiter entpuppt hatte:

   „Wer die Betonung des festgelegten Standpunktes im neuen Reiche kennt, und überall davon liest, kann doch nicht mehr sprechen von absoluter Freiheit. Diese Weltanschauung ist eben eins mit ihrer politischen Form und kann deshalb alles nur ins politische Blickfeld rücken. Wir danken vielmehr der Parteileitung in München, daß sie den rein wissenschaftlich-kulturellen Charakter unserer Sache gelten und uns volle Freiheit läßt. Damit ist unser Wirken in Reinheit auch über unsere Gesellschaft hinaus durchaus möglich. – Wir müssen trotz der gemilderten Formulierungen ihrer zweiten Zuschrift das Ganze ablehnen und aus gründlichstem Ringen heraus vor einer Weiterführung solcher Gedankengänge warnen.“[3]   

   Der Versuch, die Gesellschaft nationalsozialistisch zu instrumentalisieren, schlug fehl.


[1] Johannes Bertram. Widukind. Drama in fünf Akten. Manuskript-vervielfältigung. Vorwort vom Mai 1936. Die Staats- und Universitäts- bibliothek Hamburg verwahrt ein Exemplar mit einem Stempel aus dem Dritten Reich: "Secretiert", es durfte nicht ausgegeben werden.

[2] 6.10.1933. Georg Heins an Reebstein. Archiv am Goetheanum.C07.002.032.

[3] 6.10.1933. Georg Heins an Reebstein. Archiv am Goetheanum.C07.002.032.

 

Dagmar Funcke in der Böttcherstraße 1932-35

    Die anthroposophische Künstlerin Dagmar Funcke (1910 – 2005), die später vor allem als Malerin und Puppenspielerin hervorgetreten ist, hatte in Stuttgart eine Ausbildung zur Glasschleiferin erhalten und betrieb in den Dreißiger Jahren in der Böttcherstraße in Bremen ihr Kunsthandwerk.

   Dagmar Funckes Eltern stammten aus Bremen. Ihr Großvater war der evangelische Pastor Otto Julius Funcke an der Friedens-Kirche in Bremen-Lesum gewesen. Mütterlicherseits stammte sie aus der Kaufmannsfamilie Nieport. Obwohl ihr Vater, der sich als Gutsverwalter einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet hatte, mit der Familie ein eigenes kleines Gut in Etzen, im Landkreis Lüneburg, bewirtschaftete, wurden die älteren Geschwister auf eine Schule in Bremen geschickt. Dagmar selbst wurde in Bremen getauft.    

    Im November 1914 war ihr Vater in Belgien gefallen. Die Mutter war mit den fünf Kindern und dem Gut überfordert. Das Gut verfiel, die Mutter erkrankte gegen Kriegsende. Durch jugendbewegte Freunde lernte die Mutter noch die Anthroposophie kennen, bevor sie am 1.3.1922 starb. Dagmar wurde in einem Waisenhaus in der Nähe von Berlin untergebracht, deren jüdische Stifterin die Kinder vor allem künstlerisch zu fördern trachtete. Sie sorgte nach der Schulzeit dafür, daß Dagmar ab Ostern 1927 eine künstlerische Ausbildung an der Kunstschule Berlin und anschließend an der Akademie für angewandte Kunst in der Hardenbergstraße erhielt und dann ab Oktober 1929 den Glasschliff bei dem Anthroposophen Prof. Wilhelm von Eiff in Stuttgart lernen konnte. 

    Seit Dezember 1930 besaß sie die „Staatsangehörigkeit“ der Freien Hansestadt Bremen.[1] Im November 1931 schloß sie die Stuttgarter Ausbildung ab und konnte spätestens jetzt in Bremen einen kleinen, dunklen Werkraum in der Böttcherstraße beziehen. Er lag im Parterre des Paula Modersohn-Hauses. Sie gab in Bremen noch keine Malstunden, wie sie es später getan hat, sondern versuchte in dieser Zeit ganz vom Glas-Schleifen zu leben.

   Obwohl sie in Bremen Zweigmitglied war, wurde sie von den dortigen Anthroposophen kaum wahrgenommen. Unter den Mitgliedern schätzte sie besonders den vollbärtigen Georg Heins und die Eurythmistin Irma Haag. Später trat auch der Priester Dr.Hardorp in ihren näheren Umkreis.

    Der politische Druck wuchs, wie gesagt, nach der Machtergreifung 1933 beträchtlich. Die Kunsthandwerker in der Böttcherstrasse waren wegen ihres Zusammenhanges mit den Worpsweder Künstlern, deren sozialistische und kommunistische Ausrichtung wohlbekannt war, unter besonderer Beobachtung. Eines Tages kam eine Frau von der NS-Frauenschaft zu Dagmar Funcke in den Laden, dessen Auslage durch das Fehlen jeglicher Hakenkreuze auffiel. Sie wollte gläserne Obstteller bestellen, die rundlich geformt sein sollten und in die ein Hakenkreuz eingraviert werden sollte. Dazu hatte Dagmar Funcke „gar keine Lust“. Doch konnte sie glücklicherweise sagen, daß das nicht gehe, daß man so scharfe Kanten nicht schleifen könne, weil das Glas dabei zerspringen würde.[2]

   In der Zeit, in der die Gesellschaft in Deutschland verboten wurde, mußte Dagmar Funcke ihre Werkstatt in der Böttcherstraße räumen. Sie zog nach Hamburg, wo sie sich mit Hilfe vermögender Anthroposophen eine neue Glasschleif-Werkstatt einrichtete. Nachdem die Werkstatt ausgebombt worden war, vertauschte sie das durchscheinende Glas mit den Farbtiefen des Aquarells und fand auch in dieser Kunst bald Liebhaber ihrer Bilder und eine reiche Schülerzahl.


[1] Urkunde im Archiv des Hamburger Zweiges.

[2] Von Dagmar Funcke dem Autor erzählt.

 

Das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland

15.11.1935 Berliner Illustrierte, Nachtausgabe.
16.11.1935 Stuttgarter NS-Kurier, Morgenausgabe

    Das Verbot war den Machthabern so wichtig, daß es auch in den Rundfunk-Nachrichten mitgeteilt wurde. Renate Riemeck hat die Meldung als Schülerin morgens um sieben Uhr in Stettin selbst gehört.[1] Den genauen Tag nennt sie nicht. Doch notiert Albert Steffen in seinem Tagebuch unter dem 15.11.1935: „Das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland wird durch Presse und Rundfunk bekannt gegeben.“[2] Als Rundfunk-Meldung drang das Verbot in das Bewußtsein weitester Kreise. 6,8 Millionen Rundfunkhörer konnten die Nachrichtensender des Reiches 1935 bereits erreichen.

  Auch viele Tageszeitungen brachten kürzere oder längere Berichte darüber. Studiert man die Tageszeitungen von 1935, entdeckt man, daß der Zeitpunkt der Auflösung nicht zufällig gewählt war. Eine große Tageszeitung, die Berliner Illustrierte Nachtausgabe, druckte am Abend des 15.11., an dem das Verbot morgens durch den Rundfunk in Millionen Haushalte getragen worden war, Ausschnitte aus der Auflösungsanordnung der preußischen Geheimen Staatspolizei ab. Die Hauptüberschrift des betreffenden Artikels bestand nur aus zwei Worten: „Anthroposophen – Staatsfeinde“. Darunter stand in kleinerer Schrift: „Gesellschaft wegen staatsgefährlichen Charakters aufgelöst.“

  Den Hauptinhalt der beiden ersten Zeitungsseiten bildete ein umfangreicher Bericht über eine Jahresversammlung der Reichskulturkammer, einem Zerrbild dessen, was in einem dreigliedrigen sozialen Organismus ein Kulturparlament sein kann. Dr. Joseph Goebbels war der Präsident dieser Kammer geworden und resümierte die Folgen des nationalsozialistischen Umsturzes für das kulturelle Leben Deutschlands. Alle im kulturellen Leben Tätigen sollten ja gleichgeschaltet werden, das heißt, sie sollten ihre Ziele an die des nationalsozialistischen Staates anlehnen und sich in den verschiedenen Ständeorganisationen, nämlich der Reichskammer der bildenden Künste, der Reichspressekammer, der Reichsschrifttumskammer, der Reichsmusikkammer, der Reichsfilmkammer und der Reichstheaterkammer zusammenschließen. Alle sollten ihre Fähigkeiten in den Dienst des nationalsozialistischen Staates stellen, der sich als wahrer Sachwalter der Bedürfnisse und Interessen des Volkes wähnte. Seit der Machtergreifung hatte man auf dieses Ziel hin gearbeitet. Joseph Göbbels selbst berichtet in der erwähnten Sitzung der Reichskulturkammer:

   „Der Präsident der Reichskulturkammer verwaltet in Personalunion zugleich das Amt des Reichspropagandaleiters der Partei wie auch das des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda. In dieser Dreiheit ist die absolute Gewähr einer reibungslosen Zusammenarbeit zwischen ständischer Organisation, Partei und Staat gegeben. Die darauf fußende Personalpolitik bietet nach jeder Richtung hin die Sicherheit dafür, daß nur Männer, die wirkliche Träger nationalsozialistischer Weltanschauung sind, in maßgebenden Funktionen unseres kulturellen Lebens tätig sein können. Soweit wir in dieser Beziehung zu Kompromissen geneigt waren, haben wir eine zweijährige Bewährungsfrist eingeschoben, die mit dem heutigen Tage zu Ende gegangen ist. Diejenigen, die sie nicht nutzten, sind ausgeschieden, diejenigen, die sie verdienten, mit offenen Armen in unseren Kreis aufgenommen worden.“

   „Die Reichskulturkammer ist heute judenrein. Es ist im Kulturleben unseres Volkes kein Jude mehr tätig. Ein Jude kann deshalb auch nicht Mitglied einer Kammer sein.“[3]   

   In dieser Stellungnahme des Mannes, der seit 1933 bemüht war, alles kulturelle Leben dem Staat dienstbar zu machen, stehen drei Tatsachen, die zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft führen mußten. Sie wurde erstens noch immer nicht von Menschen geleitet, „die wirkliche Träger nationalsozialistischer Weltanschauung sind“, sondern war „international“ ausgerichtet. Sie hatte zweitens die zweijährige Bewährungsfrist nicht genutzt, um ihre Ziele in Einklang mit denen des nationalsozialistischen Staates zu bringen, sondern war ihren individualistischen Zielen treu geblieben. Und drittens waren in ihrem Kulturleben immer noch Juden tätig, wenn auch zumeist nicht mehr in verantwortlicher Position.

   Diejenigen Anthroposophen, die durch den weltanschaulichen Wahn, der Mensch sei durch seine Vererbungsgrundlage weitgehend oder gar vollständig bestimmt, plötzlich zu „Juden“ geworden waren – vorher hatte sich kaum jemand für ihre leibliche Abstammung interessiert – waren großenteils bereit, durch das Opfer ihrer Mitarbeit und sogar ihrer Mitgliedschaft den Weiterbestand der Anthroposophischen Gesellschaft zu ermöglichen. Aus einer Reihe von Briefen geht hervor, daß sie dazu nicht von den anderen Zweigmitgliedern gedrängt worden sind, sondern diese Schritte unter dem Druck der äußeren Verhältnisse vollzogen. Aus den Worten des Reichspropagandaleiters wird deutlich, daß ihre Hoffnung eine Illusion war.

   Eine Macht, die weder die wahre Geistigkeit des deutschen Volkes kannte, noch die menschheitlichen sozialen Impulse der Gegenwart verstand, die sich aber national-sozialistisch nannte, unterdrückte jene Menschengruppe, die die besonderen Begabungen des deutschen Geistes dienend der Weltentwicklung einverweben wollte.


[1] Renate Riemeck. Ich bin ein Mensch für mich. Aus einem unbequemen Leben. Stuttgart. 1992. S.46.

[2] Hinweise und Studien. Heft 18/19. 2003. S.106

[3] Berliner illustrierte Nachtausgabe vom 15.11.1935. Archiv am Goetheanum C07.002.010.

 

Verborgene Schicksale

   Schröder fühlte sich seit Anfang der Dreissiger Jahre ins Abseits gedrängt. Seine lockere Konstitution, seine künstlerische Ader, sein selbstverständliches Darinnenstehen in geistigem oder zumindest halbgeistigem Erleben machten ihn einsam unter Vielen. Seine Tochter Hertha war ähnlich veranlagt. 

   Nach der Unterdrückung der Anthroposophischen Gesellschaft siedelte Johannes G.W.Schröder sich 1936 auf dem von ihm erworbenen Föhrenhof, dem ehemaligen Barkenhof Heinrich Vogelers, in Worpswede an. Dort wandte er sich intensiv der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise zu. Es wird erzählt, man habe im Ort, wenn der nun schon auf die Siebzig Zuschreitende dort mit seinem langen weißen Bart spazieren ging, gesagt: „Der liebe Gott geht durch den Wald“.

   In den stilleren Jahren in Worpswede schrieb Johannes G.W.Schröder bis etwa 1940 Lebenserinnerungen nieder. Doch enthalten Sie nicht viel über seine äußeren Lebensdaten, sondern konzentrieren sich ganz darauf, grundlegende innere Erlebnisse seines okkulten Lebens zu beschreiben. Er beschreibt den Weg des Geistesschülers Johannes bis zu dessen vorläufigem Scheitern oder besser Zurückgewiesenwerden an der Schwelle. Daß er unrühmlich scheitert, macht die Wiedergabe seiner Erfahrungen wohl allein möglich. Denn dadurch war allein gewährleistet, daß die Niederschrift und eventuelle Veröffentlichung nicht aus Eitelkeit geschah.

Johann Gottfried William Schröder 1888 - 21.11.1942

   Auf einer Reise nach Gastein ereilte ihn das Schicksal. Am 21. November 1942 vollzog er den Übertritt in die geistige Welt, die ihm auch im Leben schon so vertraut war wie die irdische Heimat. An seiner Bahre in Salzburg hielt sein Bruder, der Dichter Rudolf Alexander Schröder, am 27. November 1942 eine Abschiedsrede.

   Einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1928 kann man entnehmen, wie sich Schröder ein gelungenes Totengedenken vorstellt. Er erinnerte sich an die Art, wie Rudolf Steiner Totengedenken hielt:

  "Dr.Steiner pflegte bei einer Totenfeier sich in seiner Ansprache unmittelbar an den Geist des Verstorbenen zu wenden. Es machte tiefen Eindruck, wenn er dastand und mit hoch erhobenem Haupte über die Bahre hinweg in die Luft hinein den Toten ansprach, als ob er vor ihm stünde, oder besser über uns schwebe. Dabei sprach er stets in einem ehrfürchtigen Ton und wandte sich nur an die edelsten Gefühle des Verstorbenen. Er zeichnete so ein wahrhaft ideales Lebensbild des Dahingegangenen."

   "Worte ehrfürchtiger Scheu waren es, in denen er dann auch von solchen Menschen sprechen konnte, deren offensichtliche Schwächen im Leben wir gut gekannt hatten. Ja, er entschuldigte zuweilen solche Schwächen sie nur vorsichtig und zart andeutend, damit, dass er aufzeigte die Quelle, wie Karma aus früheren Erdenleben hereingewirkt habe um dieses Leben nicht zu seiner vollen Größe und Schönheit entfalten zu können. Die Toten wurden durch das, was er über sie dann sagte auch in unserer Würdigung zu, verehrungswerten Wesen, zu denen man aufschaute und denen man häufig Abbitte tat dafür,dass man sie so wenig erkannt und zu schätzen gewusst hatte."

    "Ich erinnere mich auch, dass Herr Dr.Steiner einmal den Ausspruch tat, es sei ganz berechtigt über die Tozen so zu sprechen, dass man nur das Gute erwähne. Sie brauchten das geradezu im Leben nach dem Tode.

    "Der Mensch, nachdem er den physischen Leib verlassen hat, wird ein so völlig anderes Wesen, dass die Art, wie man hier auf Erden mit Recht aus Wahrhaftiglkeit heraus Selbsterkenntnis und Kritik untereinander üben muß, in diesem anderen Sein keine Bedeutung mehr hat. Die liebevollen, ja verehrenden Gedanken, welche wir ihm nachsenden, gelten ja seinem höheren göttlichen Wesen, für das wir nur tiefste Ehrfurcht empfinden sollten. Seine Fehler und Schwächen gehören der Erde an, und der niederen Persönlichkeit, die er ja abgelegt hat. Der sogenannte Tote ist in Wirklichkeit schon bald nach dem Verlassen seiner Leibeshüllen in einem Zustand der restlos ehrlichen Selbsterkenntnis in Bezug auf sein voriges Dasein. Was ja schon daraus hervorgeht, dass er beginnt, all die schweren Leiden für sein nächstes Leben selber zu wünschen und vorzubereiten, die notwendig sind, um die karmischen Folgen dieses und früherer Leben auszugleichen. Darum ist es gewiss nicht Unwahrhaftigkeit, wenn wir ihm liebe, teilnehmende, warme Gedanken mitsenden und nur über das Gute, das Beste von ihnen reden. Der alte römische Spruch: 'De mortuis nihil nisi bene" ist mehr als eine bloss sentimentale Formel. Es ist berechtigt, über die Toten nur Gutes zu reden. Das sagt uns schon das natürliche Gefühl und der Geistesforscher bestätigt es aus seinem höheren Wissen."[1]


[1] Aus einem unveröffentlichten Tagebuch von J. G. W. Schröder.

Danksagung

Die Zusammenstellung der Daten, Ankündigungen und Kritiken der Vorträge Rudolf Steiners in Bremen, die Konrad Donat geschaffen hat, war eine unverzichtbare Grundlage für meine Arbeit. Gerne statte ich meinen Dank auch Herrn Christoph Gädeke ab, der mir weitere Dokumente und Fotografien aus den Beständen des Novalis-Zweiges zugänglich machte.

Herrn Uwe Werner vom Archiv am Goetheanum möchte ich danken für das verständnisvolle Eingehen auf mein Anliegen und die großzügige Förderung meiner Arbeit im Frühjahr und Sommer 2005.

Zum anderen danke ich Frau Bärbel Mund von der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen, die mir den Nachlaß von Wilhelm Hübbe Schleiden zugänglich machte. Ihre immer zuverlässige und schnelle Reaktion waren eine große Hilfe.

   Auf den 1.11.1935 datierten Beamte der Preußischen Geheimen Staatspolizei in Berlin die Niederschrift des Verbots der Anthroposophischen Gesellschaft. Es wurde – auch verwaltungsmäßig bedingt – erst nach einigen Tagen übergeben. Ein handschriftlicher Vermerk unter dem Datum des Schreibens lautet „Ausgehändigt 12.“. Das zugehörige Namenskürzel ist nicht zu entziffern. Ist damit der Tag 12.11. gemeint?

    Nanny Bodenschatz, ein prominentes Hamburger Mitglied,  notierte in ihrem  Notizbuch unter Dienstag 11.11.:„Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland verboten.“ Damit war auf den Tag gedeutet, an dem sie von dem Verbot erfuhr. Der 12.November kann daher nicht der Tag gewesen sein, an dem das vorbereitete Verbot ausgehändigt worden war. Vielmehr muß es vor dem 11.11. geschehen sein. Wilhelm Eggers, der damalige Zweigleiter der Anthroposophischen Gesellschaft in Hannover, schreibt, es sei am 9.November 1935 gewesen.[i]

 

   Das Schreiben der Gestapo lautete wie folgt:

 

Herr Dr. Hermann Poppelbaum,

Hartungstraße 9/11,

Hamburg 13

 

Betrifft: Anthroposophische Gesellschaft.

 

  Auf Grund des § 1 der V.O. des Herrn Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.33 löse ich mit sofortiger Wirkung die im Gebiete des deutschen Reiches bestehende Anthroposophische Gesellschaft auf. Das Vermögen der Organisation wird beschlagnahmt.

Die Neugründung der Gesellschaft sowie die Schaffung getarnter Nachfolgeorganisationen wird bei Androhung der Folgen aus § 4 dieser Verordnung verboten.

 

                         G r ü n d e !

 

  Nach der geschichtlichen Entwickelung der Anthroposophischen Gesellschaft ist diese international eingestellt und unterhält auch heute noch Beziehungen zu ausländischen Freimaurern, Juden und Pazifisten. Die auf der Pädagogik des Gründers Steiner aufgebauten und in den heute noch bestehenden anthroposophischen Schulen angewandten Unterrichtsmethoden verfolgen eine individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat.

  Infolge ihres Gegensatzes zu dem vom Nationalsozialismus vertretenen völkischen Gedanken besteht die Gefahr, daß durch die weitere Tätigkeit der Anthroposophischen Gesellschaft die Belange des nationalsozialistischen Staates geschädigt werden.

  Die Organisation ist daher wegen ihres staatsfeindlichen und staatsgefähr-denden Charakters aufzulösen.

                                            I.V.

                                          Gez. Heydrich[ii]

 

Heydrichs tatsächliche Unterschrift fehlt auf dem Blatt; statt dessen beglaubig-te eine Kanzleiangestellte Bosse die Richtigkeit der Abschrift, deren Original-vorlage wohl der zweite Sitz der deutschen Landesgesellschaft in Karlsruhe erhalten haben dürfte.


[i] 2.Rundbrief für Mitglieder. Hrsg.von Anthroposophische Gesellschaft. Zweig Hannover. Februar 1948, S.1. Archiv am Goetheanum. C.07.006.013.

[ii] Preußische Geheime Staatspolizei. Der stellvertretende Chef und Inspekteur. Br.Nr. II 1 B 2 69121/766/1/35. Kopie im Zweigarchiv.

Die Anthroposophische Gesellschaft in Bremen 1904-1945. Von Rolf Speckner.
Zum 100. Geburtstag des Novaliszweiges in Bremen 2006 hatte ich die Absicht, den Bremer Freunden eine Freude zu machen. Bei meinen umfangreichen Recherchen zur Geschichte des Hamburger Zweiges war ich auf vieles gestoßen, was beide Zweige angeht, auf manches auch, was nur Bremen betrifft. Die Zusammenstellung der Presseberichte zu Vorträgen Rudolf Steiners in Bremen, die Konrad Donat zusammengestellt hat und schließlich die im Internet veröffentlichten Erinnerungen von Johannes W. G. Schröder machten die folgende Skizze der Zweiggeschichte möglich. Geschrieben 2005-06.
Geschichte der Anthroposophischen Gesell[...]
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