Freimaurerei

 Meine erste Begegnung mit der Freimaurerei fand etwa 1967 statt. Ich war noch ein anthroposophischer Neuling und auf einer offenen Suche. Damals fiel mir auf, dass mein Großvater väterlicherseits auf seinem Grabstein wunderbare Worte Goethes hatte einmeißeln lassen: 

"Seele des Menschen, wie gleichst Du dem Wasser -

Schicksal des Menschen, wie gleichst Du dem Wind."

 

Ich fragte meinen Vater, ob er darüber etwas wisse und er antwortete mir: Das wird wohl damit zusammenhängen, dass er Freimaurer war. Mein Großvater sei  Meister gewesen in einer Loge in Hannover.

 

Ich fragte ihn ob er Beziehungen zu einer Loge habe oder Freunde, die Freimaurer seien? Er hat mir dann eine Einladung verschafft zu einem Gästeabend einer Hamburger Loge - ich nenne ihren Namen bewußt nicht. Denn dieser Abend hat genügt, um mir den Appetit für Jahrzehnte zu verderben. Nach einer einleitenden Darstellung eines älteren Bruders durften Fragen gestellt werden. Ich fragte, wieso hier nur Männer seien? Ob Frauen daran nicht teilnehmen dürften? Dabei dachte ich mir, dass man doch nicht die Hälfte der Menschheit vom inneren Fortschritt ausschliessen kann. Da ertönte eine dunkle, etwas rauhe und kehlige Stimme aus dem Hintergrund: "Ach, Weiber!" Mit dieser wegwerfenden Bemerkung war das Thema für den Besitzer dieser Stimme offenbar erledigt - und für mich die Freimaurerei.

 

Einige Jahre später wurde sie wieder interessant. Lothar-Arno Wilke hatte 1959  den Christian Rosenkreutz-Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft übernommen, und er sah ihn - wie es vor dem ersten Weltkrieg in der Theosophischen Gesellschaft üblich war - auch als Vorhof für eine freimaurerische Arbeit an. Von denen die dabei gewesen waren, hatte er gehört, dass Rudolf Steiners freimaurerische Arbeit in Hamburg nie abgebrochen sei, und dass sie selbst während des Zweiten Weltkrieges im bescheidenen Rahmen notdürftig fortgesetzt worden sei. Das gab seiner freimaurerischen Arbeit die notwendige Legitimation. Nun waren unter den Logenbrüdern und -Schwestern auch Mitglieder des Zweiges am Rudolf Steiner Haus. Eines dieser Mitglieder war in der Jugendsektion tätig und auch Leiter der Jugendgruppe im Rudolf Steiner-Haus geworden. Auch unter den Studenten der Eurythmieschule gab es junge Menschen, die sich sehr für diese Freimaurerei interessierten.

 

Eines Tages kam eine Freimaurerin, die nichts mit L.A.Wilckes Arbeit zu tun hatte, ins Sekretariat der Anthroposophischen Gesellschaft am Mittelweg 11-12 und beschuldigte den Leiter unserer Jugendgruppe, in ihrer Loge einen Unterwanderungsversuch zu unternehmen. Aus diesem Gespräch ist mir Ihre Stellungnahme zum Verhältnis von Anthroposophie und Freimaurerei lebhaft im Gedächtnis geblieben. Sie sagte: "Ihr habt das Wissen, aber wir haben die Eingeweihten."

 

Mir fiel die Aufgabe zu, mit der betreffenden Persönlichkeit ein klärendes Gespräch zu führen. Ich bildete mir ein zu wissen, dass man als echter Anthroposoph nicht Freimaurer sein könne und begann einen Kampf, um diese Menschen aus dem Haus zu vertreiben. Ich wußte von Freimaurerei eigentlich nichts, außer was ich an jenem Einführungsabend gehört hatte. .... . So entfaltete ich Fähigkeiten, von denen ich im Nachhinein mit Beschämung sagen muß: ich hätte ein guter Inquisitor werden können. Diese Persönlichkeit verließ das Haus, den Zweig und mit ihr ging die ganze Jugendgruppe.

 

Nach dem Tod von Lothar-Arno Wilke 1996 wurde es nach und nach ruhig um den Christian Rosenkreuz Zweig. Einige Jahre danach kam Christiane Gerges, damals noch Schwarzweller, zu einer Wochenendtagung von Frank Teichmann ins Rudolf Steiner Haus. Bei dieser Gelegenheit lernte ich sie erstmals kennen. Sie war, was ich damals nicht wußte, führender Meister der Loge, die Lothar-Arno Wilke maßgeblich geprägt hatte, gewesen.

 

Es vergingen noch einmal zwei bis drei Jahre bis eine weitere Begegnung mit ihr mein Interesse an der Freimaurerei neu belebte. Sie bot den Hamburger Lektoren an, Mantren im Rahmen der Klassenstunden eurythmisch darzustellen. Damit wurde damals an mehreren Orten experimentiert. Dabei stellte sie sich vor als Hauptverantwortliche oder Großmeisterin des Memphis-Misraim Ordens für den deutschen Sprachraum. Sie übe damit das Amt aus, das zu seinen Lebzeiten Rudolf Steiner innegehabt hatte.

 

Ich sagte mir, entweder diese Frau übertreibt - das passt aber nicht zu ihrem sonstigen Verhalten - oder Dir steht eine interessante Begegnung bevor. In den folgenden Gesprächen, in denen ich gerade die Frage der Kontinuität sehr genau mit ihr durchgesprochen habe, wurde deutlich, dass es keinen schriftlichen Beleg für die Kontinuität gibt, keine Schriftstücke. Es gibt aber mündliche Überlieferungen, die von einem Fortbestand nach 1914 und bis 1933 erzählen und von einer notdürftigen Fortsetzung durch die Zeit des Dritten Reiches, während derer man sich im privaten Umfeld traf und die rituellen Arbeiten in kleinen Kreisen in sogenannten "Triangelarbeiten" durchführte. In dieser Art wurde die Arbeit auch in vielen anderen Logen, die ja allesamt verboten waren, während der Herrschaft der Nationalsozialisten weitergeführt.

 

Ich lernte durch sie in diesen Gesprächen innere Beobachtungen in verschiedenen Regionen des ätherischen Leibes zu machen, die mir bis dahin unbekannt waren, obwohl ich die seelische Beobachtung nach naturwissenschaftlicher Methode lang geübt hatte. Besonders machte sie mich aufmerksam auf Beobachtungen, die man während des Sprechens machen kann. Das Wort im Wort begann sich mir zu erschliessen. Frau Gerges sagte, diese Übungen und Beobachtungen entstammten dem Misraim-Dienst (später Michael-Dienst) Rudolf Steiners. Später entdeckte ich, daß er damit an der okkulten Maurerei eines J.B. Kerning anknüpfte, wie ich in meinem Aufsatz über Friedrich Eckstein gezeigt habe.

Diese Beobachtungen schlossen sich zusammen mit früheren, die ich als junger Mann in den anthroposophischen Kursen von Dr. Hans Börnsen kennengelernt hatte. Er hatte immer wieder auf diesen Freimaurer des 19. Jahrhunderts  namens J. B. Kerning Bezug genommen. Aus Börnsens Nachlaß waren einige von Kerning verfasste Bücher in meinen Besitz übergegangen. Besonders beeindruckend war für mich Kernings Erzählung "Pythagoras", in der Kerning vor 1850 Übungen beschreibt, die heute Inhalt der Sprachgestaltung sind. Seine Erzählung macht deutlich, dass der Name Pythagoras ein Mysterienname ist, der den ganzen Schulungsweg enthält. Auch die etwas längere Darstellung "Die Missionäre" sprach mich durch die schrittweise Enthüllung seelischer Beobachtungen sehr an. Ich habe die Erzählung "Pythagoras" auf meiner Website eingestellt.

 

Später begriff ich, dass die  mitteleuropäische Freimaurerei Carl von Hessens die Vorläuferin der Anthroposophie als irdische Stellvertreterin der Michael-Schule gewesen ist. In den Hochgraden wurden viele Inhalte bewegt, die zum Offenbarungsgehalt der Michaelschule gehören. Seither bin ich den Fragen nach dem Zusammenhang der beiden geistigen Strömungen - Freimaurerei und Anthroposophie - stärker nachgegangen. Einige Ergebnisse dieser Arbeit habe ich in Vorträgen dargestellt. Die für Anthroposophen wie Freimaurer wichtigste Frucht scheint mir der Vortrag "Die Michaelschule und die Freimaurerei um 1800" zu sein. Er steht hier unter 'Anthroposophie' zur Verfügung.

 

In der Herbsttagung über "Die Michaelschule in der Zeit um 1800", in der ich meine Forschungen zum Zusammenhang der beiden Bewegungen erstmals darstellte, sollte auch ein Theaterstück über den Weg der Michaelschule gezeigt werden. Durch verschiedene Aufführungen hatte sich in der Anthroposophischen Gesellschaft eine Schauspielgruppe zusammengefunden, die unter der Regie von Christiane Gerges ein eingespieltes Team geworden war. Da wir zu dem genannten Tagungsthema kein Theaterstück fanden, hatte unsere Regisseurin eine Szenenfolge komponiert, in der einige wichtige Stationen auf dem Weg der Michael-Schule zur Darstellung kamen. Dieses Stück enthielt - nach dem oben angedeuteten vielleicht verständlich - auch eine Szene aus der mittelalterlichen Bauhüttentradition, die in Chartres spielte, sowie eine in einer recht verweltlichten Frankfurter Loge um 1780.

 

Wir legten das Stück dem Arbeitskollegium des Hamburger Zweiges zur Kenntnisnahme vor. Diese beiden Szenen erregten das Erstaunen und Mißfallen einzelner entscheidungsbefugter Anthroposophen so sehr, dass es im Hamburger Zweig nicht aufgeführt werden konnte. Darüber hinaus war man nicht in der Lage auf die neugewonnenen Erkenntnisse sachlich einzugehen, sondern beschuldigte uns, wir seien bestrebt, die Freimaurerei in die Anthroposophische Gesellschaft einzuführen. Als ob das überhaupt möglich wäre!

 

Nachdem ihr auch der Name des Zweiges und die Probemöglichkeit im Rudolf Steiner Haus abgesprochen worden war, löste sich die Gruppe zunächst auf. Nach einigen Wochen trafen sich einige der ehemaligen Schauspieler privat. In einer der ersten Unterredungen sagte jemand: "Wenn wir schon bestraft dafür werden, dass wir Freimaurer sind, dann wollen wir wenigstens wissen, was das eigentlich ist!" Daraus entwickelte sich ein kleiner Zirkel, der zunächst mehr informativ, aber nach und nach auch rituell zu arbeiten begann. Bald traten Menschen aus verschiedenen anderen Kreisen hinzu, die an einer Arbeit im Rahmen der Memphis-Misraim-Maurerei interessiert waren. Diese Arbeit sieht sich dem Erzengel und Zeitgeist Michael verpflichtet und ich habe, so oft ich konnte,  daran teilgenommen und bin heute auch mitverantwortlich für diese anthroposophisch freimaurerische Arbeit. 

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© Rolf Speckner