Anmerkung (1) Das Oxford-Manuskript

Dieses Manuskript, das von dem Gelehrten John Locke in der Bibliothek von Oxford entdeckt wurde, enthält Fragen und die zugehörigen Antworten; die Fragen wurden eigenhändig von Heinrich VI., König von England, geschrieben.

 Text des Manuskriptes ins Deutsche übersetzt von R.Sp.

 

    Frage. Was könnte das sein? (das will sagen: Was könnte das Geheimnis der Freimaurerei sein?)

 

    Antwort. Es besteht in der Wissenschaft von der Natur, ihrer Kräfte und verschiedenen Wirkungsweisen. Insbesondere ist es die Wissenschaft der Berechnung, des Gewichts und der Maße ebenso wie das Verfahren alle Dinge zum Nutzen des Menschen einzurichten wie auch die Wohnungen und Gebäude aller Art.

 

   Frage. Welches ist ihr Ursprung?

 

   Antwort. Sie begann im Morgenland mit den ersten Menschen, die vor denen des Abendlands vorhanden waren; nachdem die Freimaurerei ins Abendland gelangt war, gewährte sie denen einen umfassenden Trost, die ohne Hilfe in der Einöde lebten.

 

   Frage. Wer hat sie ins Abendland gebracht?

 

   Antwort. Die Venezianer, die große Kaufleute waren.

 

   Frage. Wie ist sie nach England gekommen?

 

   Antwort. Der Grieche Peter-Gower (Pythagoras) reiste, willens alle Wissenschaften zu ergründen, nach Ägypten, Syrien und in alle Länder, in den die Venezianer die M:. eingeführt hatten; er erhielt Zutritt zu den Logen und erlangte die umfassendsten Kenntnisse. Bei seiner Rückkehr ließ er sich im alten Griechenland nieder und wurde ein vornehmer Gelehrter von hohem Ansehen. Er formte eine Großloge zu Grothon[1], wo er viele Maurer machte. Von dort bereisten in der Folgezeit mehrere Frankreich, wo sie auf ihrer Reise einige Maurer gewannen, und von da gelangte die Kunst im Laufe der Zeit nach England.

 

   Frage. Enthüllten die Maurer ihre Kunst anderen?

 

   Antwort. Als Peter-Gower, um sich zu unterrichten, gereist war, wurde er als erster zum Maurer gemacht; danach lehrte er: so soll jeder Mensch handeln, der es gut machen will. Dennoch haben die Maurer zu allen Zeiten den Umständen gemäß den Menschen diejenigen ihrer Geheimnisse mitgeteilt, die von allgemeinem Nutzen sein können, indem sie für sich nur behielten die Kenntnis derjenigen Dinge, die schädlich werden, wenn sie in unrechte Hände fallen. Auch haben sie solche Geheimnisse zurückgehalten, die von keinerlei Nutzen für diejenigen sein konnten, die sie nicht mit den Lehren der L:. verbinden konnten, Geheimnisse, die [andererseits] die Brüder fester zusammenschlossen, zum Wohle und Nutzen, der sich für die Bruderschaft daraus ergibt.

 

   Frage. Welche Künste sind es, die die Maurer den Menschen übergeben haben?

 

   Antwort. Der Landbau, die Architektur, die Himmelskunde, die Geometrie, die Zahlenlehre, die Musik, die Chemie, die Regierungskunst und die Religion.

 

   Frage. Warum lehren die Maurer besser als andere Menschen?

 

   Antwort. Weil sie die Kunst besitzen, neue Künste zu erfinden, eine Fähigkeit, welche die ersten Maurer von Gott empfangen haben, und durch die sie alle Künste entdecken, die sie zu kennen wünschen, sowie die sicherste Art diese große Kunst zu unterrichten.

 

   Frage. Was ist das für ein Geheimnis, das die Maurer verbergen?

 

   Antwort. Sie halten geheim die Kunst, neue Künste zu erfinden, und das zu ihrem eigenen Vorteil und Ruhm; sie behalten die Kunst, ihr Geheimnis zu bewahren in einer Weise, dass das Volk nichts entdeckt.

 

   Frage. Wollt Ihr mich diese Künste lehren?

 

   Antwort. Ihr werdet unterrichtet werden, sobald ihr würdig und befähigt seid, zu lernen.

 

   Frage. Wissen die Maurer mehr als die übrigen Menschen?

 

   Antwort. Nein; sie haben lediglich, mehr als die anderen Menschen die Möglichkeit und die Gelegenheit sich zu unterrichten; aber vielen fehlt das Fassungsvermögen und noch mehr fehlen die Mittel und der Fleiß, die nötig sind, um Wissen zu erlangen.

 

   Frage. Sind die Maurer besser als die anderen Menschen?

 

   Antwort. Einige Maurer sind nicht so sittsam wie die anderen Menschen; aber die meisten sind besser als sie gewesen wären, wenn sie nicht als Maurer angenommen worden wären.

 

   Frage. Lieben sich die Maurer so sehr, wie man sagt?

 

   Antwort. Ja, gewiss, und das kann nicht anders sein, weil die guten und ehrlichen Menschen, und die einander als solche erkennen, einander vorzüglich lieben in dem Maße wie sie besser sind. 


[1] Croton im alten Griechenland, heute [1847] im Königreich Neapel. Der Übersetzer des Oxford-Manuskripts , der ein Engländer war, beging den lächerlichen Irrtum, Crotone mit Grothon, was eine Stadt in England ist.

Kommentar von R.Sp.

Dass dieser Text, der vermeintlich auf den englischen König Heinrich VI. (1421-1471) zurückgehen, ja von ihm mit eigener Hand aufgezeichnet worden sein soll, nicht aus dem 15.Jahrhundert stammt, macht schon die erste Antwort deutlich. Sie behauptet, die Freimaurerei bestehe "in der Wissenschaft von der Natur, ihrer Kräfte und verschiedenen Wirkungs-weisen. Insbesondere ist es die Wissenschaft der Berechnung, des Gewichts und der Maße ebenso wie das Verfahren alle Dinge zum Nutzen des Menschen einzurichten...".

 

Diese Antwort entspricht ganz dem Zeitgeist des 17.Jahrhunderts, wie er sich am vollkommensten in Francis Bacon offenbart hat. Sie liegt damit ganz auf der Linie der späteren sogenannten "humanitären Freimaurerei", die meint, der Entwicklung des Menschen am Besten zu dienen, indem man vor allem ihre diesseitigen Bedürfnisse befriedigt.

 

Meines Erachtens hat man so noch nicht im 15.Jahrhundert gedacht, schon gar nicht in geheimkundigen Kreisen. "Alle Dinge zum Nutzen des Menschen einzurichten ..." ist kein Mittell zur Erlangung von "Erkenntnis höherer Welten".

 

Nach Lennhoff-Posener, der die Urkunde unter dem irreführenden Stichwort "Freimaurerverhör Heinrich VI." bespricht, weiß zudem zu berichten, dass Heinrich VI. die Baugilden unterdrückt habe, also doch wohl kein Freimaurer gewesen sein könne. 

 

Das  Dokument selbst trägt den Titel  "Certayne questyons with answeres to the same, concernynge the mystery of maconrye; wryttene by the Hande of Kynge Henrye the Sixthe of the Name and faithfullye copyed by me Johan Leylande Antiquarius, by the Commaunde of His Highnesse." Mit His Highnesse ist Johan Leylandes König Henry VIII. bezeichnet. Wegen dieser Überschrift wird das Dokument auch Leland-Manuskript genannt.

 

John Leland (1506-1552) oder Johannes Lelandus war der gelehrte Bibliothekar Heinrich VIII. In seiner Funktion als Antiquarius bereiste er ab 1533 England mit der Aufgabe, die im Zuge der Ablösung der englischen Kirche von Rom von Heinrich VIII aufgehobenen Klöster nach kostbaren Manuskripten zu durchsuchen. 1550 fiel er in geistige Umnachtung. Auch ihm kann die charakterisierte Weltsicht aus zeitlichen Gründen kaum zugesprochen werden. 

 

Die tatsächlich nachweisbare Erstveröffentlichung erfolgte im "Gentleman's Magazine" 1753. Die Zeitschrift berief sich dabei auf einen Druck, der angeblich 1748 in Frankfurt erschienen sei, der jedoch bislang nicht hat nachgewiesen werden können. 

 

Die Erstveröffentlichung 1753 wurde in der Zeitschrift ergänzt durch ein Anschreiben des Philosophen John Locke (1632-1704) datiert auf den 6.Mai 1696, in dem er berichtet, dass er das Dokument in der Bodleiana in Oxford gefunden habe. Das Schreiben richtete sich an den Grafen Pembrocke und enthielt nach Lennhoff-Posener "Behauptungen über das geheimnisvolle Wesen der früheren Logen und besondere Fähigkeiten der Freimaurer, die sogar weit über die üblichen Geschichtsklitterungen der alten Konstitutionen hinausgehen". Auch dieser Brief wird heute als Fälschung angesehen.

 

Lessing sah in der Urkunde "Staub, und nichts als Staub".  Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) nahm sie in sein berühmt gewordenes Standardwerk "Die drei ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüder-schaft" 1810 und 1820 wieder auf. Und auch in Frankreich wurde dieses Schriftstück 1847 von Boubee noch ernst genommen.

 

Tatsächlich enthält der Text Formulierungen, die aus einem echt freimaurerischen Geiste stammen, wie z.B. die Antwort auf die Frage, ob die Freimaurer bessere Menschen wären:

 

   "Antwort. Einige Maurer sind nicht so sittsam wie die anderen Menschen; aber die meisten sind besser als sie gewesen wären, wenn sie nicht als Maurer angenommen worden wären."

 

    So sehe ich in dem Schriftstück ein Zeugnis dafür, wie ein Freimaurer in der Mitte des 18.Jahrhunderts (1753) die Freimaurerei, ihr Wesen und ihre Geschichte angesehen wissen wollte. Dabei ist besonders zu beachten, dass man auch in England 1753 das Jahr 1717 keineswegs als den Anfang aller Dinge angesehen hat. 

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© Rolf Speckner