Rosenkreuzertum

Das Rosenkreuzertum hat seinen Namen nach Christian Rosenkreutz. War das sein bürgerlicher Name? Oder wodurch hat er sich diesen Namen erworben?

Sieben Tage mit Christian Rosenkreutz.

Verehrte Anwesende!

 

Bei der Chymischen Hochzeit handelt es sich um eine Art Heilige Hochzeit. Der Verfasser hat aber nicht dieses Wort gewählt, sondern er spricht schon im Titel von einer „chymischen“ Hochzeit. Diese Ausdrucksweise gehört mit zu dem, was in den Jahren 1614-1619 den Furor der Gegner der Rosenkreuzer erweckt hat. Denn der Begriff Chymische Hochzeit war nicht allgemein bekannt in dieser Zeit, sondern das, was man bei einer solchen Schrift erwartete, kannte man unter dem Begriff mystische Hochzeit.

 

Die mystische Hochzeit

Eine mystische Hochzeit war nichts Ungewöhnliches. Die Kenntnis davon war zum Beispiel schon in der Zeit Meister Eckharts weit verbreitet. Wir würden die Predigten von Meister Eckhart gar nicht kennen, wenn nicht die Nonnen in Straßburg von seinen Worten so erschüttert gewesen wären, dass sie umfielen. Sie hörten ihn und waren so ent-zückt – herausgerissen aus ihrem Inneren, wie ein Schwert aus der Schwertscheide gerissen wird –, dass sie tatsächlich zu Boden fielen. Sie schrieben auf, was sie gehört hatten. Die Nonnen waren, wie es scheint, für eine solch tiefe Durchdringung ihres Wesens viel offener als die Mönche. Die Heilige Hochzeit geschah im Augenblick der Predigt Meister Eckharts, plötzlich, wie ein Vorgriff auf etwas, das am Ende eines länger dauernden Prozesses steht. Die Seelen der Nonnen wurden durchdrungen von dem Geiste, der durch die Worte Eckharts sprach. 

Der Gedanke der mystischen Hochzeit schlug sich auch in einer Sitte nieder: Überall in den Klöstern wurden die Nonnen, wenn sie nach einer Probezeit eingeführt wurden, also ihr Gelöbnis ablegten, auf den Altar gesetzt. Dort empfingen sie einen Ring sowie einen Kranz auf ihrem Haupt. Sie feierten die Hochzeit mit Christus. Das abgelegte Gelöbnis beinhaltete eine dauerhafte, tiefe seelische Verbindung mit dem Christus.

In den Männerklöstern spielte demgegenüber die Marienfrömmigkeit eine große Rolle. Hier nahm das Bild der Maria die Rolle ein, die im Nonnenkloster das Bild des Christus inne hatte, durch das dann wirklich auch die Wesenheit des Christus in die Seele einzog.

In beiden Fällen ging es um ein seelisches Ereignis: Die Seele wird durchdrungen von einem Prinzip, durch das sie neu geformt, neu bestimmt wird – vom Geist. Auf der natürlichen Ebene gilt Vergleichbares für die normale Hochzeit zwischen Mann und Frau. Meist wird einer der Ehepartner stärker vom Willen bestimmt sein, während beim anderen mehr die Betrachtung, die Empfindung überwiegt. Beides wirkt aufeinander ein und wenn es gut geht, wandeln sich die Partner und es entsteht Neues.

Auf eine andere Ebene gehoben, ist das auch das Wesentliche bei der seelischen Hochzeit, der Verbindung der Menschenseele mit dem Weltengeist, damit dieser in ihr wirksam werden kann. Maria nahm, als sie den Impuls des Geistes empfing, „alles auf und bewegte es in ihrem Herzen“.

Dass die Menschenseele durchdrungen werden kann von etwas allgemein Geistigem, was sich dann durch das menschliche Individuum geltend macht, wurde in das Bild einer seelischen oder mystischen Hochzeit gekleidet. Wenn nun im Titel der dritten Rosenkreuzerschrift von einer Chymischen Hochzeit gesprochen wird, bedeutet das, dass nicht allein die Durchdringung der Seele durch den Geist gemeint ist, sondern auch die Durchdringung des Chymischen, das heißt, des Leibes.

 

Die „Chymische“ Hochzeit

Damit kündigt sich in dieser Schrift etwas an, von dem man sagen kann: Die Weltgeschichte hat eine neue Tür aufgestoßen und durch sie erklingt ein neuer Ruf. Das Initiationsprinzip wird von nun an mit einer viel größeren Mächtigkeit wirksam. Die mystische Hochzeit gab es auch schon in der vorchristlichen Zeit. Es gab sie in allen alten Kulturen. Die Chymische Hochzeit war indes etwas Neues.

 

Die Reaktion des Papsttums

Das rief die Kirche auf den Plan; sie führte einen wilden und unerbittlichen Kampf gegen das Rosenkreuzertum. Allein durch das Auftreten dieses Wortes leuchtete ein bedeutsamer Gegensatz auf.

Es entfaltete sich ein geistiger Kampf. Hunderte von Schriften erschienen, zustimmend und ablehnend. Ein erstes Opfer dieses Kampfes gab es bereits, bevor die Chymische Hochzeit, ja bevor auch nur die Fama Fraternitatis oder die Confessio erschienen waren. Ein Tiroler Musiker und Schulmeister, Adam Haslmayr, hatte 1610 die handschriftlich bereits umlaufende Version der Fama gelesen und erkannt, was die Brüder bringen wollten: „Weil euch das Licht Gottes, wie den Magis der Stern vorgeleucht zu Gott zu kommen, auch vorleuchtend erschienen ist, die verwirrte Welt zu lehren, den wahren Weg der ewigen Philosophie als der Erkantnuß Messiae, und der Natur Licht, bei der Zeit des Imperii Spiritus Sancti, oder Libertas Evangelii; …“[i]. In seiner kleinen zwölfseitigen Stellungnahme fordert er die Rosenkreuzer 1612 auf, sich zu zeigen, man warte endlich auf ihre Schrift: Ihr Rosenbrüder habt doch den wahren Jesu Iter, den wahren Weg Jesu!

Durch Anzeige oder Denunziation der Jesuiten wurde Haselmayr binnen weniger Wochen von Erzherzog Maximilian von Tirol verurteilt und auf eine Galeere geschickt. 1618 bestätigte der holländische Jesuit Johannes Roberti, dass Haslmayr keinerlei Verbrechen begangen hatte, sondern dass er nur, „weil er die Rosenbruder gelobt hatte“, auf die Galeeren geschickt worden war. Und Roberti fragte, was der Landesherr wohl mit ihm angefangen hätte, wenn er selbst einer der Brüder gewesen wäre.

Wie sein Schicksal dann ausgesehen hätte, kann man an dem Ende Trajano Boccalinis ablesen, der im November 1613 in Venedig ermordet wurde. Natürlich wurde nie ein Täter gefasst. Die Methode war damals in Venedig sehr beliebt: Man schlug das Opfer mit Sandsäckchen nieder und warf es in einen Kanal. Das Säckchen leerte man aus und warf den Beutel ins Wasser. Die Tatwaffe verschwand spurlos. Boccalini hatte die Generalreformation der großen weiten Welt geschrieben, in der er die römische Kirche und die ihr hörigen Fürsten satirisch beleuchtete. Er stellte ihre völlige Unfähigkeit dar, auf die Herausforderungen der Zeit angemessen einzugehen. Die Schrift erschien 1612 in den Erzählungen vom Parnass und wurde ein Jahr nach seinem Tod der Fama Fraternitatis in ihrem Erstdruck 1614 anonym vorangestellt. Sie dokumentierte, warum die Generalreformation aus einem ganz neuen Quell geleistet werden muss. Dieser neue Quell wurde in der Generalreformation als fehlend beklagt und in der Fama als vorhanden verkündet. So hängen die beiden Schriften zusammen.

Man wusste in Rom genau, was die Stunde geschlagen hatte mit dem Erscheinen der Chymischen Hochzeit. Die Schrift macht deutlich, dass aus einem neuen Quell ein ganz individueller Weg zu Christus möglich wird: ein Weg, auf dem der Christus bis in die Verwandlung der Leiblichkeit wirksam ist. Das geschah bis dahin nur durch das Sakrament.

Es ist gut, sich die beiden Arten der Heiligen Hochzeit zu vergegenwärtigen, bevor wir die Chymische Hochzeit im Einzelnen anschauen. Mit ihrer Veröffentlichung ist gewissermaßen ein neues Kapitel aufgeschlagen worden, genauer gesagt, mit dem Geschehen, das darin beschrieben wird und das in das Jahr 1459 zurückverlegt wird. Man sieht diese Jahreszahl zwar gemeinhin als ein Stück mythischer Geschichte an – aber warum soll sie nicht stimmen? Sachliche Argumente gegen diese Datierung gibt es meines Wissens nicht. Ich glaube, dass die neue Einweihung tatsächlich im Jahr 1459 erstmals passiert ist.

Die Chymische Hochzeit tritt auf wie eine geschichtliche Erzählung, ist aber trotz des genauen Datums keine geschichtliche Chronik. Denn: Wo ist der Turm Olympi, wo der See, auf dem man mit dem Boot fahren kann und aus dem man ins Weltmeer kommt? Wo ist das Schloss, in dem sich die Hochzeit abgespielt hat? Sie lassen sich nicht verorten. Auch die genannten Personen sind nirgendwo historisch belegbar. Viele der Namen sind dagegen aus der Mythologie bekannt. Und die „Hochzeit“ lässt sich auch nicht als ein Geschehen verstehen, das buchstäblich so, wie beschrieben, stattgefunden hat.

Es ist ein historischer Vorgang und zugleich ein mythischer Prozess. Ein historisches Ereignis ist es in dem Sinne, als ein Mensch diese Vorgänge wirklich durchgemacht hat, Vorgänge, die urbildlich sind, die also andere auch, wenn auch vielleicht individuell gefärbt, durchleben können.

Einer hat sie zuerst erlebt. Und man muss sich klar machen, dass der erste, der so etwas durchmacht, der gewissermaßen einen neuen geistigen Weg für die Menschheit erobert – wie es auch früher schon die Begründer der Mysterien taten –, dass er das wie urbildlich vollführt. Und dann vollziehen Tausende und Abertausende diesen Weg meditativ nach, wie zum Beispiel auch mit Hilfe der Bilder des Johannesevangeliums der Weg Jesu nachvollzogen wird.

Die Chymische Hochzeit beschreibt einen Weg, der eine Fortsetzung dessen ist, was im Evangelium dargestellt wird. Es ist ein neuer Weg, den ein Mensch geprägt hat. Nicht der Christus hat es getan, sondern ein einzelner individueller Mensch.

Man kann sich klarmachen, dass Entsprechendes im 20. Jahrhundert erneut geschehen ist und dass es auch künftig immer wieder geschehen wird: Da, wo eine Mysterienströmung inauguriert wird, begründet stets ein Mensch den Weg neu, vorbildlich und urbildlich, und andere folgen ihm. Und indem sie den Weg nachmeditieren, verbinden sie sich mit dem Wesen dieses Menschen und mit denen, die mit ihm verbunden sind. Das ist seit jeher der Inhalt des Mysterienwesens: So wird in Eleusis zum Beispiel die Initiation eines Königssohnes beschrieben, Triptolemos, der in den Hades hinuntergeht und von dort Persephone wieder heraufholt, die Seele nach ihrem Fall. Es war eine andere Zeit, und der Weg musste anders gegangen werden. Es gibt ein Ewiges in den Mysterienströmen und etwas, das sich von Zeit zu Zeit wandelt. 

Eine solche große Veränderung ist auch die, die sich in dem Erscheinen der Schrift ‚Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz‘ ankündigt. In ihr ist etwas zu finden, das immer gleich ist – in allen Kulturen –, aber auch etwas, das ganz neu ist. Und ich möchte versuchen, nachdem wir in vorangegangenen Vorträgen auf das Urbild geschaut haben, nun auf das ganz Neue hinzuweisen.

 

Christian Rosenkreutz

Es hängt zusammen mit dem, was schon in dem wunderbaren Namen Christian Rosenkreutz ausgesprochen wird. Es handelt sich nicht um einen bürgerlichen Vor- und Familiennamen, sondern um eine Selbstoffenbarung seines Trägers. Der Name deutet auf einen Menschen hin, der drei Dinge zusammenbringt: Zum ersten ist er mit dem Christuswesen so verbunden, dass er „ein“ Christ ist. Was ist so Besonderes daran, zu sagen, er sei „ein“ Christ? Wir gebrauchen dieses Wort so leichthin. Doch, zu Ende gedacht, ist es ist eine ungeheuerliche Aussage: „Christian“ bezeichnet ein von dem Christus durchdrungenes Wesen.

Und dann haben wir das Kreuz. Es weist auf den Weg nach Golgatha, den er nachgelebt hat. Und schließlich haben wir die Rosen: Das ist der Schritt über Golgatha hinaus. Dieses Dreifache trägt der Mensch mit dem Namen Christian Rosenkreutz. Und das zeigt sich auch an seinem Weg durch die sieben Tage und sechs Nächte.

Die Geschichte betrifft einen Menschen, der ein meditatives Leben führt. Sie beginnt am Vorabend von Ostern – gemeint ist wohl Gründonnerstag. Und sie endet damit, dass der Betreffende an einem Morgen zum Ritter vom Goldenen Stein erhoben wird. Das ist ein seltsamer Ausdruck: Goldener Stein. Was ist damit gemeint? Die Rede ist nicht von dem Edelmetall Gold, sondern von einem Stein, also von etwas Mineralischem. Ein Stein ist zu Gold geworden. Das bedeutet: In der mineralischen Erdensubstanz leuchtet die Sonne auf: Wir stehen am Anfang der terra lucida.

In dem Begriff des Goldenen Steins spiegelt sich das Gesamtbild: Es geht um den Auferstehungsvorgang. Christian Rosenkreutz ist in ihn hineingenommen worden. In der mineralischen Substanz, im physischen Menschen, leuchtet die Sonnenwirksamkeit auf, die Wirksamkeit des sonnenhaften Wesens, das als der Christus in der Welt erschienen ist. Hierzu führt der Weg des Christian Rosenkreutz. Er wird „ein Christ“.

Am Anfang ist er im Felsen eingeschlossen. Sein Weg beginnt damit, dass der Felsraum gesprengt wird. Die Wände erhalten Risse. Wir wollen den Felsen als ein Bild unseres Leibes verstehen. Wer wirklich eine leibfreie Erfahrung machen will, darf nicht im Leibesgehäuse bleiben. Er muss partiell aus seinem Leibeshaus heraus – und das geht nicht, ohne dass wir uns losreißen, nicht, ohne dass auch leibliche Veränderungen eintreten, „Risse“ im Gehäuse.

 

Mythen und ihre Interpretation

Damit komme ich noch einmal auf den Anfang zurück. Jede Mythe kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden. Man kann sagen, es gibt stets sieben Interpretationsmöglichkeiten. So kann man die Chymische Hochzeit als ein Seelendrama verstehen. Man kann aber auch sagen, es handelt sich um die Erzählung von einer Individualität, um einen historischen Vorgang. Ferner kann man sagen – und darauf schauen wir – dass, wenn seelisch eine solche Veränderung im Menschen vorgeht, sie dann notwendig auch den Leib verändert. Wenn man an die Weltentwicklung denkt, so hat die menschliche Leiblichkeit wichtige Veränderungen durchlaufen. Aus seinem seelischen Ursprungszustand fiel der Mensch und er wurde immer mehr Erdenmensch. Gewaltige Veränderungen fanden dabei an seinem Leibe statt. Und künftig wird es weitere Wandlungen geben. Deshalb kann man die Mythen auch vor einem solchen „medizinischen“ Hintergrund deuten.

Und da solche Vorgänge nicht nur einen Menschen betreffen, sondern viele und ganze Kulturentwicklungen daraus entstehen, ist es selbstverständlich, dass die Mythen auch kulturgeschichtliche Hintergründe beschreiben.

Das im Folgenden Dargestellte beansprucht also nicht, eine allein gültige Sicht zu sein. Bei diesem Symposium betrachten wir die Chymische Hochzeit aus verschiedenen Blickrichtungen, um das Ganze verstehen zu können. 

 

Der Turm

Es beginnt mit dem Bruch in der Leiblichkeit. Der Turm ist ein uraltes Bild für den Menschen. Wir finden ihn zum Beispiel im Märchen Rapunzel. Rapunzel wohnt im obersten Stock. Sie hängt ihre Haare heraus, damit der Prinz an ihnen hinaufklettern kann. So etwas machen alle Menschen. Die Fenster sind oben im menschlichen Leib. Dort lassen wir die „goldenen Haare“ heraus. Wir streuen sie überall hin in die Welt. Aus den Augen strömt das Silberne des klaren Blickes, das Goldene des warmen Blickes, des vom Herzen durchdrungenen liebevollen Blickes in die Welt. Aus dem oberen Turmfenster wird also das Gold der Seele herausgegossen und der Jüngling, der sich die eigene Seele und den eigenen Turm, den Leib, zu eigen machen will, muss in den goldenen Strahlen, die aus den Augen heraustreten, aufsteigen und in das eigene Innere eindringen.

Christian Rosenkreutz wird in seinem Traum in der ersten Nacht aus dem Turm seines Leibes herausgeholt, aber er muss dabei tüchtig mithelfen. Wenn der Strick nicht heruntergelassen worden wäre, wäre er nicht herausgekommen; aber es war auch notwendig, dass er zupackte. Gnade und Freiheit ergänzen hier einander. Auffällig ist, dass seine Rettung gelingt, obwohl er sich an einem ganz unglücklichen Ort im Turm befindet, nämlich am Rand, an der Mauer. Er gehört nicht zu denen, die sich in die Mitte drängen, um das herabfallende Seil zu ergattern, sondern er wartet an dem ihm vom Schicksal zugewiesenen Platz ab, bis sich eine Gelegenheit ergibt, die er als Aufforderung zum Zugreifen empfindet. Er wird nicht gerettet, obwohl er am Rand steht, sondern weil er am Rand stehen bleibt, dort, wo sein Schicksal ihn hingestellt hat.

Der Traum lehrt ihn Schicksalsergebenheit und gibt ihm den Mut, sich am nächsten Tag auf den Weg zu machen. Es gehört zum Charakter dieses Mannes, der seine Initiation öffentlich erzählt, dass er außerordentlich sorgsam ist und auch Angst hat, ob er würdig genug ist. Er gehört nicht zu denen, die meinen, sie seien ganz ausgezeichnet. Vielmehr ist er von einer Demut durchdrungen, die ihm zur Natur geworden ist.

 

Das rote Band und die vier Rosen

Während seiner Wanderung trägt er ein rotes Band gekreuzt über der Brust und darunter weiße Kleidung von Kopf bis Fuß. Durch das rote Band wird der Blick in eine Lemniskaten-förmige Bewegung gelenkt. Wie ein Blutstrom, der sich selbst in Herzhöhe wieder begegnet, werden zwei Ströme des Ätherleibes gezeigt, die sich dort befinden. Damit wird angedeutet, dass sein Ätherleib wohlgeordnet ist. Christian Rosenkreutz hat ein Bewusstsein von den Vorgängen in seinem ätherischen Leibe. Vom Herzen steigt ein Strom auf zum Haupt, vom Haupt kehrt er wieder zurück, um schließlich in die unteren Bereiche des Leibes einzutauchen. Sein Leib ist geläutert, eine „weiße“ Hülle.

Auf dem Kopf trägt der Wanderer vier Rosen. Am Rosenkreuz befinden sich sieben. Es fehlen also noch drei. Man könnte sagen: An vier Stellen hat er seine Leiblichkeit so geläutert, dass er es wagen kann, in den Bereich der Hochzeit vorzudringen. Einiges steht schon in seiner Macht: der physische Leib, der ätherische Leib, der seelische und das Ich. In diesen vier ersten Bereichen des menschlichen Wesens hat er es zu einer gewissen Läuterung gebracht, sodass man von „Rosen“ sprechen kann. Im Bereich der Lebenskräfte, im Ätherleib ist etwas aufgeblüht.

 

Der rechte Weg

Nach einiger Zeit kommt er an eine Stelle, an der der Weg in vier Wege mündet, die auf einer Tafel beschrieben werden. Die Wege sind verschieden, aber er hat keine Ahnung, welchen er nehmen soll. Alle scheinen schwer gangbar. Hat man einen betreten, so heißt es, kann man nicht mehr umkehren. Er fragt sich nicht, welcher für ihn am leichtesten sei. Das kann nicht die Frage sein, aus der heraus hier die Wahl zu treffen ist. Er wartet ab, ob er irgendeinen Wink erhält. Drei Zedern stehen da; er setzt sich in ihren Schatten und frühstückt erst einmal. Da kommt eine weiße Taube und er wirft ihr einen Brocken zu. Ein Rabe stößt herab, um ihr den Brocken streitig zu machen. Nun fliegt die Taube auf und der Rabe verfolgt sie. Christian Rosenkreutz hat Mitleid mit ihr und eilt hinterher, um die Taube zu schützen. Er lässt sein Frühstück liegen. So kommt er unversehens auf einen der Wege, auf seinen Weg. Nicht der Gedanke, was für ihn am bequemsten ist, leitet ihn, sondern das Mitleid. Wir kennen die Worte: „aus Mitleid wissend, der reine Tor“.

Sein Weg erweist sich als ziemlich lang. Er soll immer geradeaus gehen, wobei ihm sein Kompass hilft. Am Abend sieht er ein Schloss abseits vom Wege liegen. Er merkt, das ist das richtige Schloss, auch wenn der Weg dorthin nicht der Regel entspricht. Man muss einer Regel so lange folgen, bis man erkennt: Hier nützt sie nichts mehr. Christian Rosenkreutz folgt einer Situationsethik, nicht einer gebundenen Route. Er lässt sich in jeder Situation intuitiv sagen, was jetzt und hier das Richtige ist.

Wasser, Salz und der Mantel

Er läuft also hinüber und kommt an ein Tor. Viele Bilder sind an dem Tor angebracht, über die er aber nichts mitteilen darf. Er erhält also einen imaginativen Unterricht. Ein Hüter tritt ihm entgegen, Christian Rosenkreutz gibt ihm etwas von seiner letzten Habe – das Wasser. Dafür bekommt er ein Zeichen. Mit diesem wird er ans zweite Tor geschickt. Hier gibt er dann auch das Salz ab.

Wasser und Salz! Am ersten Tor muss er die überschüssigen Lebenskräfte anwenden (opfern), um die imaginativen Bilder aufnehmen zu können. Er kann die Bilder nur empfangen, indem er das Wasser gibt. Am zweiten Tor übergibt er das Denken, genauer gesagt die kristallinen Gedanken. Er muss die fertigen Gedanken, das „Salz“, das er mitgebracht hat, an der Schwelle zur geistigen Welt aufgeben, damit er in lebendigem Denken neue Begriffe erhalten kann.

Wenn Rudolf Steiner von diesem Vorgang spricht, sagt er auch: Wenn man an dieses Tor kommt – er nennt es das „Tor des Todes“ – muss man alles abgeben, man kann nichts mitnehmen. Das ist ein stärkerer Tod als der normale Tod. Denn da nimmt man seine Gedanken mit; aber hier muss man auch die Gedanken aufgeben. Man muss sie sich von der geistigen Welt neu schenken lassen, man muss sie sich gewissermaßen neu bilden lassen – und zwar konkret aus den Erlebnissen, die man da hat. Überflüssige Gedanken, die man nicht braucht, bekommt man nicht. Diejenigen, die man sich unter Erdenverhältnissen gebildet hat, taugen in der geistigen Welt nicht. Aber wenn man sich auf Erden ein lebendiges Denken erworben hat, kann man das mitnehmen. Sofern das Denken ein plastisch gestaltendes geworden ist, das geeignet ist, das aufzunehmen, was einem nun gereicht wird, muss man es mitnehmen. Die Fähigkeit muss man mitnehmen, aber nicht die Gedanken. Sie taugen nur für Erdenverhältnisse.[ii]

Am zweiten Tor wacht ein Löwe. Christian Rosenkreutz erhält vom Hüter wieder ein Zeichen. Es wird jetzt dunkel und er muss sich sputen, um noch rechtzeitig  an das Portal des Schlosses zu gelangen, das dritte Portal. Er schlüpft gerade noch an der zufallenden schweren Tür vorbei durch die Pforte. Dabei muss er wieder etwas zurücklassen. Ein Zipfel seines Mantels bleibt zwischen Tür und Rahmen hängen und er geht seines Mantels verlustig. Er muss im Moment des Übertretens der Schwelle eine Hülle ablegen. Das kann er, weil er diese Art Opfer schon vorher gebracht hat. Zwei Figuren, links und rechts, tragen die Inschrift: „Ich beglückwünsch dich“ bzw. „Ich leide mit dir“.

 

Der Hochzeitssaal

Unverhüllt tritt er jetzt in diese Welt, erhält am Kopf eine Tonsur und wird in einen Saal geführt, in dem es hoch hergeht. Er befindet sich jetzt in einer Welt, in der die Gefühle, Empfindungen und Emotionen der irdischen Gefühlswelt unverhüllt wahrgenommen werden, in der Astralwelt. Hüllenlos kann er seine Gefühle nicht verbergen, aber es entgeht ihm auch nicht, was in den anderen vorgeht. An der gedeckten Tafel sitzen viele weitere Gäste, die zur Hochzeit gekommen sind. Viele prahlen mit ihren Fähigkeiten und Kenntnissen, aber er merkt, sie sind Schwindler. Christian Rosenkreutz möchte am liebsten umkehren, doch am Ende der Tafel sitzen in seiner Nähe einige Männer, die still sind wie er. Dann erscheint eine vornehme Jungfrau, die eine strenge Prüfung für den nächsten Tag ankündigt und ebenso strenge Strafen für die Unwürdigen. Auf die Frage, ob jemand zurücktreten möchte, meldet er sich mit wenigen anderen Stillen und Demütigen. So wird er denn für die Nacht gefesselt und in einen dunklen, ungemütlichen Raum gebracht.

In dieser zweiten Nacht hat er wieder einen Traum. Er blickt von einem Berg über eine weite Ebene, in der er überall Menschen an Fäden aus der Luft hängen sieht. Manche sind ziemlich tief über dem Boden, andere höher. Ein Alter Mann fliegt herum, beurteilt die Hängenden und schneidet bei einigen die Fäden durch. Diejenigen, die weit unten hängen, fallen nicht sehr tief. Andere, die sich weiter nach oben aufgeschwungen haben, stürzen tiefer und schmerzlicher. Es ist ein humorvoller Traum und er tröstet Christian Rosenkreutz, weil er denkt, er möchte wohl zu denen gehören, die sich nicht so hoch angesiedelt haben.

Auch dieser Traum sollte sich bewähren. Dass Christian Rosenkreutz jede Nacht einen bedeutsamen Traum hat, der sich erfüllt, deutet ebenfalls darauf hin, dass er die Anfangsschritte des Schulungswegs erfolgreich absolviert hat. Denn eines der ersten Ergebnisse des Schulungsweges ist, dass sich das Traumleben verändert. Es wird regulärer und inhaltlich sinnvoll. Das scheint bei ihm eingetreten zu sein.

 

Die Wägung

Am nächsten Morgen – am dritten Tag – findet eine Wägung statt, vergleichbar der Seelenwägung Michaels nach dem Tode, nur differenzierter, als es auf den mittelalterlichen Darstellungen gezeigt wird. Die Prüflinge müssen sieben Gewichten standhalten, die nacheinander einzeln auf die Waage gelegt werden. Man kann sie als die folgenden Tugenden ansehen:

Fides                           der Glaube

Prudentia                    die Klugheit

Potentia                      die kraftvolle Wirksamkeit

Humilitas                    die Demut

Sobrietas                     die Mäßigkeit

Operatio                     der Fleiß

Concordia                  in Eintracht mit seinem Herzen sein

Diesen Tugenden der Seele entsprechen im Osten die Übungen auf dem achtgliedrigen Pfad Buddhas. Im christlichen Mittelalter gleicht ihnen die Ausbildung in den Sieben Freien Künsten, und in der Neuzeit kennen wir die sieben „Übungen für die Tage der Woche“ auf dem anthroposophischen Schulungsweg.[iii] Stets ist geübt worden und wird weiterhin geübt werden.

Das erste Gewicht bedeutet: die richtige Meinung haben, das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden. Fides, der Glaube, ermöglicht, am Wesentlichen festzuhalten und sich nicht von Unwesentlichem ablenken zu lassen.

Das richtige Urteil haben ist die Tugend der Prudentia oder der Klugheit.

Das richtige Wort sprechen, Potentia oder kraftvolle Wirksamkeit, bedeutet: nur dann zu sprechen, wenn es wirklich nötig ist. Dann hat man auch die Kraft dazu und das Gewicht des Gesagten wird erlebbar.

Die richtige Tat, das ist Humilitas, die Demut: nicht nach etwas greifen, was gar nicht für mich ist, sondern da wirksam werden, wo ich etwas tun kann, also etwas, das meinen Fähigkeiten entspricht. Demut bedeutet Selbstbescheidung.

Den richtigen Standpunkt findet man durch die Mäßigkeit, Sobrietas, das rechte Maß. Es bezieht sich auf den Raum. Ich maße mir nicht mehr etwas an, greife nicht über meinen Fähigkeitsbereich hinaus, ich ordne die Dinge um mich herum in der rechten Weise.

Das richtige Streben, das ist der Fleiß, Operatio.

Und schließlich das richtige Gedächtnis, das ist Concordia. Es bedeutet: mit dem Herzen im Zusammenhang leben, das bedenken, was für mein Wesen bestimmend und prägend ist – das nie aus dem Bewusstsein verlieren .

Auf dem achtgliedrigen Pfad Buddhas kommt noch eine achte Übung hinzu, der hier kein Tugendgewicht entspricht: die richtige Beschaulichkeit. Sie wird für jeden Tag gefordert. Meditieren soll man täglich. Die Woche selbst wird von den sieben Tugenden gegliedert.

Es handelt sich bei den Gewichten also um vom Menschen entwickelte Eigenschaften, die ihm nicht von Natur aus zur Verfügung stehen, um Tugenden, die bereits Teil der Entwicklungsdynamik sind, die die Menschheit entfaltet hat. Wir kennen sie seit langen Zeiten. Sie sind mit jeder menschlichen Höherentwicklung verbunden. Im Laufe der Zeiten hat sich der erstmals von Buddha beschriebene Tugendkanon entfaltet. Er wird immer etwas anders benannt, und er erfährt auch Umgewichtungen. So gibt es zum Beispiel eine Demut des Denkens, eine Demut des Fühlens und eine Demut des Wollen. Im Mittelalter tritt der Kanon in der Gestalt der Sieben Freien Künste auf. Hier wird deutlich, dass die moralischen Qualitäten auch neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnen und praktische Fähigkeiten veranlagen. Damit haben wir auch einen Übergang zu den Planetenkräften, denen ja am fünften Tag die Schiffe gewidmet sind, die die Fahrt über den Weltenozean ermöglichen.  

Im Schloss wird nun am dritten Tage ermittelt, ob die Prüflinge die Tugenden  genügend geübt haben. Die Prüfung wird als Wägung durchgeführt. Es wird geprüft: Welches Gewicht hat diese Tugend für dein Leben? Ist sie gewichtig oder führst du sie nur im Munde? Und je nach dem, wie wichtig die jeweilige Tugend war oder ist, besteht man oder besteht man nicht.

Nur ganz wenige kommen durch, und so ruft denn einer: Lasst uns doch die, die gestern zurückgestanden sind, auch auf die Waage bringen, lasst uns unseren Spaß daran haben. Zum Teil ist es auch sehr lustig: Einige haben, um ihr Gewicht zu erhöhen, noch schwere Bücher unter den Mantel gesteckt, die dann im unpassendsten Moment herunterfallen. Nach erheiternden Momenten kommt Christian Rosenkreutz als vorletzter auf die Waage und besteht alle Gewichte! Eine Stimme ruft: „Der ist’s!“. Man wusste, er würde kommen!

Dass der Initiand durch seine Tugendübungen nicht nur etwas für sich tut, sondern für die ganze Menschheit, wird dadurch angedeutet, dass Christian Rosenkreutz einen, der nicht bestanden hat, auswählen und auf den weiteren Weg mitnehmen darf.

Jetzt nimmt die Jungfrau die Rosen wahr, die Christian Rosenkreutz von seinem Hut abgenommen hat und in der Hand hält. Durch einen Knaben lässt sie darum bitten und er übergibt ihr seine Rosen. Eine feine Verbindung wird damit angezeigt, deren Erfüllung sich erst am Ende der Chymischen Hochzeit zeigt.

 

Schätze im Schloss

Es wird einige Zeit auf die Verurteilung derer verwendet, die in Vermessenheit in den Hochzeitssaal gelangt waren, und auf die Vollstreckung der Urteile. Danach wird den Hochzeitsgästen von dem jugendlichen Ingenium ihrer Knaben – jedem ist einer zugeteilt worden – das Schloss gezeigt. Gemeinsam mit seinem Gesellen hat Christian Rosenkreutz Gelegenheit, die Gräber der Könige zu besichtigen, „bey welchen ich mehr gelernet, dann in allen Büchern geschrieben steht“.  An diesem Ort befindet sich auch der Phönix. Der Knabe zeigt ihm ferner eine vorreformatorische Bibliothek, was hier auch vorchristliche Bibliothek heißen kann. Beides hätte er nicht sehen dürfen.

Schließlich gelangen sie zu einem Globus, der an der Oberfläche wie gewohnt die Erdteile abbildet, aber mit goldenen Ringlein die Orte anzeigt, von denen die geprüften Alchemisten herkommen. Sodann steigen sie in das Innere des Globus und erblicken auf der Innenwand den Sternenhimmel. Es ist ein Unterricht, der den Zusammenhang des Erdinneren mit dem Sternenhimmel betrifft. Nach alchemistischer Erkenntnis lassen Sonne, Mond und Sterne im Erdinnern die Metalle wachsen.

Den Abend bringen sie mit einer Gruppe von Jungfrauen in fröhlichem Gelächter zu, indem sie einander Rätselgeschichten erzählen. In ihnen geht es wiederum um die rechte Gewichtung der Tugenden, diesmal aber vor allem um das Gewicht, das verschiedene Arten von Zuneigung, Liebe und Verehrung haben.

 

Hermes, der Fürst

In der dritten Nacht hat Christian Rosenkreutz wieder einen Traum. „Die gantze Nacht gieng ich mit einer Thüren umb, die kundt ich nit auffbringen, entlich gereth es mir.“[iv]

Er erwacht und besieht zunächst „die herrliche Bilder und Figuren, so hin und wieder in meinem Gemach waren“. Das „hin und wieder“ möchte ich so auffassen, dass er nunmehr aus dem Schlaf noch Bilder mit in das Morgenbewusstsein hereinholen kann, die er meditativ bearbeitet. Sein Knabe hat verschlafen und führt ihn ohne Frühstück in den Garten. Die Jungfrau nimmt ihn an der Hand und geleitet ihn zu dem Brunnen, an dem der Löwe wacht. Er hält jetzt eine Tafel, aus der hervorgeht, dass es Hermes (Merkur) ist, der hier fließt:

Hermes der Fürst. Nach so vielem, dem menschlichen Geschlecht zugefügten Schaden, nach göttlichem Ratschluss: und durch Beistand der Kunst zur heilsamen Arznei bestellt, fließe ich hier. Trinke aus mir, wer kann. Wasche sich, wer mag. Trübe mich, wer es wagt. Trinket, Brüder und lebet.“[v] 

Durch Hermes ist ein Einweihungsstrom inauguriert worden, der später auch nach Europa gekommen ist. In christianisierter Form strömte er auch in Steiners Memphis-Misraim-Maurerei. Der sich selbst zu Hermes erklärende Brunnen warnt die Brüder durch diese Tafel: Nur wer es kann, möge aus mir trinken. „Trübe mich, wer es wagt.“ Es ist gefährlich, aus dem Brunnen der Weisheit zu trinken. Denn die Weisheit ist eine eifersüchtige Göttin, man kann keine anderen Götter neben ihr haben. Sie vernichtet alles, was ihr widerspricht.

Der vierte Tag befindet sich in der Mitte, drei Tage liegen davor und drei folgen. Jan van Rijckenborgh macht darauf aufmerksam, dass der Hermesbrunnen den Beginn der Mitte bezeichnet. Van Rijckenborgh meint, der Brunnen sei der Quell der Gnosis schlechthin, der lebendige Ausgangspunkt der alten und neuen Rosenkreuzbewegung.[vi]  Er setzt die Betrachtung des Brunnens gewissermaßen an den Anfang seiner ganzen Betrachtung der Chymischen Hochzeit.

Der Merkur-Brunnen hat seinen Namen und seine Bedeutung vom Mercurius, dem lateinischen Namen eines Gottes, der auch ein Metall bezeichnet: das Quecksilber. Es ist ein merkwürdiges Metall. Im Gegensatz zu den anderen festen Metallen ist es bei Zimmertemperatur noch flüssig und sehr beweglich, quicklebendig. Das deutet darauf hin, dass es Eigenschaften bewahrt hat, welche die anderen Metalle nicht mehr haben. Es ist bei seinem Weg auf die Erde flüssig geblieben. Darin zeigt sich eine bleibende Verbundenheit mit den kosmischen Quellen der Metalle. Erst auf der Erde sind sie fest geworden. Quecksilber ist eine Substanz, die noch ein Stück von der Wirksamkeit der Planetensphäre in sich trägt. Deswegen ist der Mercurius so wichtig. Er trägt lebendig in sich, was in den anderen Metallen nur wie eine Erinnerung in Farbe, Glanz und anderem vorhanden ist. In ihm steigen die Kräfte auf und nieder, es ist der Bote der Sternenwelt.

Aus diesem Quell, der die lebendigen Rhythmen der Sterne, die bis in die Metallsubstanzen hineinwirken, enthält und der ihre seelenverwandelnde Kraft überträgt, sollen die Gefährten trinken. Das vermögen nur diejenigen, die ihre Seele soweit verwandelt haben, dass sie dadurch nicht zerstört wird. Denn was als eine Wirksamkeit des Kosmos fortwährend den Menschen umgibt, würde ihn zerstören, wenn es ihn durchdränge und er dem nicht standhalten könnte. So wie der Ton nur eine Saite ergreifen und zum Klingen bringen kann, wenn sie auf diesen Ton eingestellt ist, so kann der Mensch nur dann von der Wirksamkeit der Sterne ergriffen werden, wenn er darauf eingerichtet ist. Die Wirksamkeit der Sternen- und Planetenwesenheiten um uns herum ist immer da, aber wir müssen uns erst dahin entwickeln, dass wir sie ertragen können. Daran wird deutlich, wozu die siebenfache Prüfung nötig war. Diejenigen, die diese Prüfung bestanden haben, dürfen aus dem Brunnen der Weisheit trinken.

 

Sonnenkräfte

Die Jungfrau führt die Alchemisten über eine Treppe von 365 Stufen hinauf in einen Saal. Stellt man sich die aufsteigenden Jünger vor, wie sie in der Schnecke um eine Mittelachse herum sich bewegen und aufsteigen, so kann man die Ähnlichkeit mit der Bewegung der Erde um die Sonne erkennen. Die Erde beschreibt ihre Bahn um die Sonne herum. Indem die Sonne sich fortbewegt, macht die Erde auch diese Bewegung mit; beide Bewegungen kombinieren sich zu einer Spiralbewegung der Erde im Gefolge der Sonne. Im Aufsteigen werden die Gefährten der ungebrochenen Einwirkung der Sonne auf die Erde und ihrer Wirksamkeit auf der Erde gewahr.

Sie werden im Saal zunächst einem gnädigen Königspaar vorgestellt, um dann an einer anderen Stelle des Saals drei recht verschiedene thronende Paare bewundern zu können.

Gemeinsam mit den Königspaaren ziehen sie sodann in das „Haus der Sonne“, wo ihnen in einem manichäisch anmutenden Spiel die Geschichte der fallenden und wieder auferstehenden Lichteskräfte gezeigt wird. Es ist eine Allegorie der Chymischen Hochzeit. Man könnte sie als einen Kommentar in moralischen Bildern bezeichnen. Stand am Anfang die Begegnung mit den sonnenhaften Königskräften, so zeigt das Spiel den Eintritt derselben in ihr „Haus“, den Menschen, und die Kämpfe des Lichtfunkens im Menschen, die nur mit Hilfe eines Prinzen aus einem fernen Lande erfolgreich bestanden werden können. Das ist zugleich eine Chiffre der ganzen Menschheitsgeschichte.

Die Enthauptung

Nach dem Spiel werden die Alchemisten zur Hochzeit geführt. Sie beginnt sehr schön mit einem Nachtessen. In einem Festsaal sind die Tische gedeckt. Aber nach und nach verdüstert sich die Stimmung. Die Jünger müssen schließlich einen Eid leisten, dass sie den Königen die Treue bis über den Tod hinaus halten wollen. Sie leisten diesen Eid mit Bangigkeit, sie merken, es wird gefährlich. Ihnen wird ein Verschwiegenheitstrunk gereicht. Schwarze Vorhänge werden herabgelasssen. Eine Glocke läutet, die königlichen Herrschaften erblassen, ziehen ihre schneeweißen Kleider aus und legen schwarze an. Die Jungfrau holt schwarze Binden herein und verbindet den königlichen Personen die Augen. Diener bringen sechs verdeckte, schwarze Särge herbei und stellen einen schwarzen Sessel in die Mitte. Dann wird die Tür aufgerissen und ein „kohlschwartzer langer Mann“ kommt mit einem Beil herein. Er schlägt den sechs Personen, einer nach der anderen, den Kopf ab. Das Haupt wird jeweils in ein Tuch eingewickelt, das Blut in einem Pokal aufgefangen. Leichnam, Kopf und Kelch eines jeden kommen in einen der Särge. Nach der Enthauptung verlässt der schwarze Mann den Saal, die Jungfrau läuft ihm aber nach und kommt mit seinem abgeschlagenen Kopf zurück. Auch er wird in schwarzen Stoff gewickelt und in einem Kasten aufbewahrt.

„Diß gedauchte mich warlich eine blutige Hochzeit,…“[vii], schreibt der Erzähler.

Seltsam erscheint es, dass wir im Hochzeitssaal zuerst ein Königspaar haben und dann drei. Die drei Paare können die drei Seelenkräfte symbolisieren, die jeweils eine männliche und eine weibliche Seite haben.[viii] Sie finden auch im Kosmos eine Entsprechung. Aber zunächst sind es die drei Seelenkräfte von Denken, Fühlen und Wollen. Sie sitzen von dem ersten, sie empfangenden König, dem herrscherlichen Ich, entfernt. Das zeigt, dass Denken, Fühlen und Wollen noch nicht völlig vom Ich ergriffen und verwandelt worden sind; sie sind noch nicht in das Ich integriert.

Die drei Seelenkräfte müssen jeden Tag sterben, und zwar ununterbrochen. Wir sind eingebunden in einen fortwährenden Sterbeprozess. Am zweiten Tor musste Christian Rosenkreutz, bevor er zu dem Schloss gelangen konnte, Salz abgeben, seine toten Gedanken, seine fertigen kristallinen Gedanken. Jetzt kann er dem Sterben wie von außen zusehen. Das Denken ist in ununterbrochener lebendiger Beweglichkeit – die Gedanken indes sind tot. Im Verhältnis zwischen dem lebendigen Denken und den Gedanken findet ein Sterbeprozess statt. Er vollzieht sich immer dort, wo die Tätigkeit des Denkens, die nicht leibgebunden ist, auf den Leib auftrifft und etwas in ihn hineinprägt. In dem Augenblick erstirbt das Denken in die Substanz des Leibes hinein. Es muss sich dort den Gegebenheiten anpassen, muss hineintreten bis in die tote Substanz. Wir verdanken unser menschliches Bewusstsein der natürlichen Tatsache, dass die drei Seelenkräfte, die die menschliche Seele bestimmen, auf dem Schauplatz des Bewusstseins ersterben. Bei dem einen steht mehr das Denken im Vordergrund, bei dem anderen mehr das Fühlen oder Wollen.

Auch das Fühlen muss sterben. Ein Gefühl kann wunderbar und tief sein – doch wenn ich mich daran erinnere, ist es oft fade und dünn geworden. Jedes Gefühl macht in dem Moment, in dem ich beginne, es mir ins Bewusstsein zu bringen, auch einen Sterbeprozess durch. Schiller sagt „Spricht die Seele, so spricht, ach, die Seele nicht mehr!“. 

Und wie ist es denn mit dem Willen? Trägt er die Menschen ununterbrochen fort? Oder ist er irgendwann auch ermüdet? Der Wille stirbt fortwährend in der Tat.

So ist unser Seelenleben in ein Sterben eingebunden. Es erscheint als eine nicht ganz gelungene Heilige Hochzeit, wenn der Geist, der sich in Denken, Fühlen und Wollen zeigen will, der darin leben will, ersterben muss in dem Versuch, in die menschliche Seele, in den menschlichen Leib einzutauchen und sie zu durchdringen und zu verwandeln. Aber da ist auch einer, ein König, der keine anderen neben sich hat und der die drei ins Gleichgewicht bringt: Das bin Ich.

Christian Rosenkreutz war Beobachter bei dem angekündigten Hochzeitsmahl. Er beobachtete den Versuch einer heiligen Hochzeit mit den Seelenkräften der menschlichen Natur. Er erkannte, dass sie in dieser Weise nicht möglich ist, dass der Geist bei der Begegnung mit dem Menschenleib erstirbt. Von Anfang an konnte er beobachten, was sich in den menschlichen Wesen als ätherische Vorgänge abspielt.

 

 

Nach dem Tod

Darum nimmt er nun auch wahr – und da beginnt der Fortschritt –, was nach dem Tod der Könige  geschieht. Christian Rosenkreutz wird zurückgeführt in sein Zimmer und nun überlistet er seinen Knaben. Dieser versucht, ihn irgendwie dazu zu bringen, dass er einschläft. Doch Christian Rosenkreutz tut nur so, als ob er zu Bett ginge und einschlafe. Sein Knabe legt sich nun beruhigt hin; Christian Rosenkreutz steht indes wieder auf und geht ans Fenster.

Er ist eigenwillig, das wird deutlich. Er ist ein freier Mensch. Auch in dem Einweihungsprozess handelt er, wenn er sich innerlich dazu gedrängt fühlt, entgegen dem, was ihm als üblich und richtig nahegelegt wird. Er ist neugierig, aber es ist eine höhere Neugier. Durch das Fenster sieht er, was mit den Leichnamen geschieht. Sieben Schiffe kommen Schlag Mitternacht übers Meer und einen damit verbundenen See. Über den Mastspitzen schwebt je eine Flamme, die er als die Geister der verstorbenen Könige erkennt. Unter der Leitung der Jungfrau werden die Särge der königlichen Personen auf die Schiffe gebracht. Die sieben Flammen lösen sich von den Schiffen und schweben über den See davon.

Christian Rosenkreutz schaut also, was geschieht, nachdem die Seelenfähigkeiten erstorben sind. Er nimmt wahr, dass die Leichname nicht in ihrem Zustand bleiben, sondern sich auf eine Reise auf das Weltenmeer hinaus vorbereiten. Sie gehen ein in den großen Lebenszusammenhang der Erde. Wo sie hingehen, verfolgt er am nächsten Tag, an dem er gemeinsam mit ihnen über das Meer fährt.

Er schläft traumlos, hat er dieses Mal den Wink zum Verständnis des nächsten Tages doch schon bei wachem Bewusstsein erhalten.

 

Venus

Am Morgen wacht er früh auf und findet daher noch niemanden wach. Er bittet seinen Knaben, ihm das Schloss zu zeigen. Was er nun erlebt, ist die Folge seiner Fähigkeit, wahrzunehmen, wie sein Geist dem Gehirn begegnet. Der Knabe führt ihn in den Keller des Schlosses und zeigt ihm den Lebensbaum sowie die Frau Venus, völlig entblößt.

Nachdem Christian Rosenkreutz die Enthauptung der Seelenkönige beobachtet hat, steht die Frage vor ihm: Wie kann das wieder ins Leben gebracht werden? Die Jungfrau hatte ihnen nach der Enthauptung gesagt: „Dieser Leben steht nunmehr in eurer Hand …“[ix]. Und er fragt sich: Wo finde ich die Lebenskräfte, die ich brauche, um mein Denken so mit Leben zu durchdringen, dass ich nicht nur das Tote erleben kann, sondern auch den lebendigen Geist? Dass ich den lebendigen Geist nicht nur in seiner Abschattung im toten Gedanken oder Bild wahrnehmen und erleben kann, sondern als Schöpfer, als Bildschöpfer, als pflanzenschöpferische Tätigkeit? Wo finde ich diese Kräfte?

So geht er ins Untergeschoss, dahin, wo die Lebenskräfte herkommen. Er geht in den Bereich der Frau Venus. Und er nimmt dort alles wahr. Die Venus nimmt er in einer Intensität wahr, die zu stark ist, um für ihn gut zu sein. Die Begegnung mit diesen Prozessen ist eine Begegnung mit der Sphäre, in der wir uns befanden, als wir im Paradiese weilten. Es ist die Glückseligkeit, die wir in Augenblicken der liebenden Begegnung immer noch erleben – physisch. Diese Erlebnisse hängen mit dem Ursprung der Lebenskräfte zusammen und es ist ungeheuer verführerisch, darin bleiben zu wollen.

Aber sein Knabe sagt ihm, es sei jetzt genug, eigentlich hätte er die Venus gar nicht sehen dürfen. Sobald sie aus dem unterirdischen Kämmerchen und Gang wieder ans Tageslicht kommen, bleibt von der Begegnung mit der Venus nur Cupido. Der kommt auch äußerlich herbeigeeilt und fasst einen Argwohn. Da sie betont unauffällig in der Nähe der Tür stehen, fragt Cupido, ob sie etwa in das Grab der Venus eingedrungen seien, worauf die beiden flunkern.

 

Eingeweihte und Heilige

Sind nicht Eingeweihte Heilige? Ich war lange der Ansicht, das sei dasselbe, Heilige und Eingeweihte. Es gibt in Rudolf Steiners „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ jedoch eine Bemerkung, die mich darüber aufgeklärt hat, dass hier noch ein Unterschied besteht. Da heißt es: Es gibt eine Grundregel für den Eingeweihten und die lautet: Er darf niemals einem Menschen etwas verheimlichen, wenn der es verstehen kann und braucht. Wenn jemand kommt, der es verstehen kann und es braucht, dann muss er es ihm offenbaren. Das Wissen, das der Eingeweihte hat, hat er nicht für sich, sondern für die Menschheit. Das ist die erste Regel. Die zweite besagt: Der Eingeweihte darf niemals einem Menschen etwas offenbaren, der es nicht verstehen kann oder es nicht verdient zu wissen. Das ist die komplementäre Ergänzung. Und dann schreibt Rudolf Steiner einen ganz schlichten Satz, der für mich erschütternd war: „Und ein Eingeweihter ist umso vollkommener, je strenger er diese beiden Gesetze beobachtet.“ [x] Da gibt es also Unterschiede.

Offenbar betrifft die Abstufung vor allem den modernen Eingeweihten, bei dem das eigene Potenzial, die eigene Kraft eine größere Rolle spielen und der sich stärker herausgelöst hat aus der geistigen Welt, als es früher der Fall war: Er ist umso vollkommener, je genauer er sich an die beiden Gesetze hält. Ein solch moderner Eingeweihter war auch Christian Rosenkreutz, denn er hat sich nicht immer ganz genau an die Vorschriften gehalten.

Cupido, die Begierde, verwundet ihn mit einem Pfeil, die Strafe folgt auf dem Fuß. Die Konsequenz davon stellt sich am siebten Tag ein.

 

Die Fahrt aufs Weltenmeer

Jetzt werden Christian Rosenkreutz und sein Begleiter hinausgebeten. Es finden Scheinbegräbnisse mit leeren Särgen statt, die ihn aber nicht täuschen können. Unter Pomp werden leere Särge in die Erde versenkt. Seine Gefährten denken, es wären die Leichname der Könige darin. Christian Rosenkreutz jedoch weiß, dass sie sich auf den Schiffen befinden. Er hat etwas wahrgenommen, was die anderen mit den physischen Sinnen nicht wahrnehmen können. Das vermochte er, weil er eintauchen kann in die Ätherwelt des gestaltenden Denkens und Vorstellens. Deshalb nimmt er nicht nur den Vorgang wahr, der die Ideenwelt in den ins Wort erstorbenen Gedanken konzentriert, wobei die Idee in die Form des Gedankens erstirbt. Er nimmt nicht nur das Ersterben in die Form wahr, sondern auch, wie das, was jetzt zusammengezogen ist in äußerster Konzentration, sich wieder auflöst. Er hat begonnen, in dieses sich Auflösende, in das Nachtodliche des Gedankens einzutauchen.

So wie der Mensch vom vorgeburtlichen Zustand aus sich verkörpert und sich nachtodlich auflöst, so ist es auch mit jedem Gedanken, jeder Meditation. Deshalb muss man etwas tun mit dem, was durch das Denken des Gedankens, durch das Meditieren des Gedankens entstanden ist. Man sollte sie nicht einfach wegfließen lassen, sondern die Empfindung hineingießen in den Leib. Man sollte die nachtodliche Quintessenz des Gedankens verwenden. Dahinein ist Christian Rosenkreutz aufgewacht in dem Moment, in dem er die nächtliche Verschiffung der Leichname beobachtet hat.

Nach den Scheinbegräbnissen besteigen sie die Schiffe, auf denen auch die Särge transportiert werden, und fahren aufs Weltmeer hinaus. Jedes der Schiffe trägt das Zeichen eines Planeten. Die kosmischen Astralkräfte sind es, mit deren Hilfe sie sich fortbewegen. Zuerst befinden sie sich noch auf einem See, dem Bild des Ätherleibes des Menschen. Bis jetzt waren sie in sich und haben Vorgänge im Innern des Menschen erlebt und erfahren. „Im Innern“ heißt nicht nur im Innenraum des physischen Menschen, sondern auch im Strom des ätherischen Menschen und in den Seelenbewegungen.

Nun fahren sie durch einen kleinen Kanal hinaus auf den Weltenozean. Es ist eine präzise Beschreibung. Indem sie den Kanal verlassen und auf die freie See gelangen, kommen ihnen Sirenen, Nymphen und eine Meeresgöttin entgegen. Als Hochzeitsgeschenk übergeben sie eine Perle und singen ein Lied:

I.

„Nichts besser ist auf Erden,

Dann die schön edel Lieb,

Damit wir Gott gleich werden,

Das keins das ander trüb.

Darumb lasst dem König singen,

Das gantze Meer thu erklingen,

Wir Fragen, Antwort ihr.  

II.

Wer hat uns bracht das Leben?

Die Lieb.

Was hat Gnad wieder geben?

Die Lieb.

Waher seind wir gebohren?

Auß Lieb.

Wie wären wir verlohren?

Ohn Lieb.

III.

Wer hat uns dann gezeuget?

Die Lieb.

Warumb hat man uns g‘seüget?

Auß Lieb.

Was seind wir den Eltern schuldig? Die Lieb.

Warumb sein sie so dultig?

Auß Lieb.

IV.

Was thut dieß uberwinden?

Die Lieb.

Kann man auch Liebe finden?

Durch Lieb.

Wa lest man gut Werck scheinen?

In Lieb.

Wer kann noch zwey vereinen?

Die Lieb. …“

 

Was Christian Rosenkreutz zuerst – solange er noch in seinem Innern war – auf einer anderen Stufe zugänglich wurde, das wird ihm jetzt von Wesen, die Nymphen genannt werden, auf einer höheren Stufe offenbart. Die Astralwesen „Nymphen“ führen den Alchemisten tönend, singend und tanzend eine andere Art von Liebe vor die Seele.

Dabei haben sie aber aufgrund der unvollkommenen Beschaffenheit des Ätherleibs und Astralleibs der ihnen begegnenden Menschen etwas Verführerisches. Damit das nicht zu stark wirken kann, ordnet die Jungfrau an, dass sich die Schiffe in einer besonderen geometrischen Form gruppieren, nämlich im Fünfeck. Fünf Schiffe bilden die Eckpunkte. Das Fünfeck ist die Form des geordneten  Ätherleibes. Er wird geordnet, damit dem Gesang der Nymphen der rechte Empfang bereitet werden kann.

Die Nymphen überreichen als Geschenk eine Perle, gebildet aus der Liebe, von der sie singen.

Die Alchemisten begegnen im Weltenäther den Sternenseelenkräften des Kosmos, die von den Sonnenkräften herabgetragen werden. Diese durchdringen die Seelen und die ätherischen Leiber. Sie erscheinen in dem Bilde der in Wasser getauchten, aber sich zugleich über die Oberfläche erhebenden Wesen, die zwischen Wasser und Luft, an der Grenze zwischen dem Ätherischen  und dem Astralischen ihr Bewusstsein gewinnen. Ihre seelischen Bewegungen spiegeln sich in den Strömungen des Wassers.

 

Der Turm Olympi

Die Fahrt übers Meer führt schließlich zu einer kleinen Insel, deren Grundfläche quadratisch ist. In der Mitte der Insel steht der Turm Olympi, ein Rundturm, an den sich sechs weitere niedrigere Rundtürme anlehnen. Die Alchemisten werden vor dem Betreten des Turms beiseite geführt, damit sie nicht sehen, dass die Särge in den Turm getragen werden. Dann dürfen sie in den Turm hineingehen, müssen aber bald anfangen zu arbeiten. Sie bekommen Mineralien, Kräuter und anderes, um es zu zerkleinern, zu zerstampfen und aufzulösen. Die solcherart gewonnenen Säfte, Pulver und Mineralsände werden eingesammelt und abgefüllt und dienen ihnen am kommenden Tag als Grundlage ihrer alchemistischen Operationen. Nach einer kärglichen Mahlzeit – Suppe und ein Schluck Wein – begibt sich die Alchemistenschar im Unterbau des Turms zum Schlaf.

Christian Rosenkreutz bleibt auch in dieser Nacht länger wach als seine Kameraden. Er geht hinaus unter den Sternenhimmel und bemerkt sogleich, dass „auff gegenwerdige Nacht ein solche Conjunction der Planeten geschehe, dergleichen nit bald sonsten zu observieren“. Er beobachtet ein Zusammenstehen mehrerer oder sogar „der“ Planeten in einem oder in zwei Tierkreiszeichen. Das deutet darauf hin, dass die Gefährten, die bislang unter der Flagge und dem Schutz der Planeten fuhren, nunmehr unter die Wirksamkeit des Tierkreises gelangen, und davon besonders einer oder zwei Tierkreisregionen. Diese Wirksamkeit entfaltet sich insbesondere bei der Bildung und Gestaltung des menschlichen Leibes. Christian Rosenkreutz wird also erneut als einziger auf den Inhalt des nächsten Tages vorbereitet. Es ist wie eine Bestätigung, dass die Flammen der königlichen Personen herbeigeflogen kommen und sich auf der Spitze des Turmes niederlassen. Sie warten auf den neuen Körper. Der nun aufkommende Sturm treibt Christian Rosenkreutz in den Turm zurück.

Am sechsten Tag wird die alchemistische Arbeit, die schon am Vorabend begonnen hatte, fortgesetzt und zur Vollendung gebracht. Sie besteht nicht allein in einer seelischen Verwandlung dieses oder jenes Teilnehmers, sondern in der Schaffung zweier neuer Leiber für die Enthaupteten.

Ich will jetzt nur den Schluss dieser Arbeit betrachten. Die aus den Prozessen gewonnenen Substanzen werden im höchsten Stock des Turms in Förmlein gegossen und in einen Ofen geschoben. In mehreren Schritten werden die beiden durchwärmten kleinen Menschen mit Leben und Wachstum, mit Sinneswahrnehmung und warmem Miterleben begabt. Schließlich empfangen sie durch eine Öffnung in der Spitze des Turms die sieben Flammen, die durch posaunenartige Rohre in ihre beiden Münder geleitet werden. 

Jetzt sind Denken, Fühlen und Wollen mit dem Ich vereinigt, von ihm individualisiert und gehalten. Es ist die Geburt eines „neuen Menschen“, der Christian Rosenkreutz zusehen und an der er mitwirken darf. Es ist sein neuer Mensch. Aber es ist ebenso das Wirken Christi, des neuen Adam, an der Erneuerung des Menschen, das er beobachtet.

Schon eingangs hatten wir den Turm als ein Bild des menschlichen Leibes erkannt. Auch den Turm Olympi dürfen wir so verstehen. Doch kann es sich nicht in derselben Weise um ein Bild des inkarnierten Menschen handeln, wie das von dem Turm gesagt werden konnte, aus dem Christian Rosenkreutz im Traumbild befreit worden war. Allerdings hatte auch der Turm, in dem er sich im Traum befand, eine Öffnung am oberen Ende, die eine Verbindung zu den geistigen Wesen herstellt. Was den Turm Olympi von dem Turm des physischen Leibes unterscheidet, ist, dass der Turm Olympi erst nach dem Durchgang durch die Planetenwelt erreicht wird. Er gehört weder der Ätherwelt, noch der Astralwelt an, sondern der rein geistigen Welt, der Welt der Urbilder. Der Turm Olympi ist das Urbild des Menschenleibes, das durch das Zusammenwirken der Tierkreiskräfte, die besser Menschenkreiskräfte genannt werden sollten, konstituiert wird.

 

Manis Lehre

Von diesem Menschenurbild, dem Turm Olympi, erzählt schon Mani. In den Acta Archelai ist ein Gespräch wiedergegeben zwischen einem Schüler Manis und einem Bischof aus dem Zweistromland, genannt Archelaos. Mani wollte sich in den Schutz dieses Bischofs begeben und der Schüler musste dem Würdenträger vorher Auskunft über die Lehren des Mani erteilen. Er beschreibt zunächst Manis Lehre von der Auseinandersetzung zwischen Licht und Finsternis, von dem Lichtfunken, der in jeder Menschenseele schlummert, und von dem Ringen jeder Seele, die Finsternis in sich zu überwinden. Wie in dem Spiel am vierten Tag der Chymischen Hochzeit im Haus der Sonne spricht auch Mani von mehreren Rettungsversuchen und erzählt, dass schließlich der lebende Vater „seinen eigenen geliebten Sohn zur Rettung der Seele“ geschickt habe. „Und der Sohn kam und wandelte sich um in die Gestalt eines Menschen und erschien den Menschen wie ein Mensch, obwohl er keiner war, und die Menschen meinten, er wäre gezeugt worden.“[xi]

Der Bischof Archelaos wird mit dem Gehörten zufrieden gewesen sein. Im Weiteren aber skizzierte der Schüler Manis eine kurze Kosmographie, der zufolge der Tierkreis und die Planetenkreise von Christus eingerichtet worden sind, um dem Menschen die Möglichkeit der Wiederverkörperung und damit der schrittweisen Verwandlung zu geben. Er sagte:

So kam er und bereitete das Werk vor, das die Erlösung der Seelen bewirken sollte, und zu diesem Zweck ersann er eine Einrichtung mit zwölf Gefäßen, die durch die Sphäre in Drehung versetzt wird und mit sich heraufzieht die Seelen der Sterbenden. Und das größere Himmelslicht, das ist die Sonne, nimmt diese Seelen in Empfang und reinigt sie mit ihren Strahlen und reicht sie dann dem Mond hinüber; und auf diese Weise wird die Mondenscheibe, wie wir sie nennen, aufgefüllt. Denn er sagt, dass diese beiden Leuchten Boote sind oder Fährschiffe. Wenn der Mond voll wird, überträgt er die Seelen dem von der Sonne her wehenden Ostwind und bewirkt dadurch sein eigenes Abnehmen, indem er von seiner Fracht erleichtert wird. Und in dieser Weise fährt er fort, den Übergang durchzuführen, erneut seine von den Totengefäßen heraufgezogene Seelenfracht auszuladen, bis er seinen rechten Anteil von Seelen rettet.“

Es ist deutlich, dass hier eine Rotationslehre ausgesprochen ist, die die Rettung der Seele durch die Möglichkeit der wiederholten Erdenleben herbeiführt.

Im Mittelpunkt dieses Rettungswerkes, das durch die Umschwünge betrieben wird, steht aber eine Säule aus Licht. Der Schüler berichtet weiter: „Denn Mani behauptet, dass jede Seele, ja sogar jedes lebende Geschöpf, das sich bewegt, teilhat an der Substanz des guten Vaters. Und wenn demgemäß der Mond seine Seelenfracht der Welt des Vaters übergeben hat, verweilen sie dort in jener herrlichen Säule, die ‚der vollkommene Mensch‘[xii]  genannt wird. Und dieser Mensch ist eine Säule aus Licht, sie ist aber erfüllt von den Seelen des Sternenhimmels, und sie ist die Ursache des Heiles der Seelen.“

Mani war demnach der Überzeugung, dass die Seelen nach dem Tode eine Zeitlang in die Lichtsäule des vollkommenen Menschen eintreten, darin verweilen und Korrekturen mit Hilfe der Sternenkräfte empfangen. Die Parallele zur Darstellung der Chymischen Hochzeit ist deutlich.

Nicht nur über diesem Bild des Turms, sondern über der ganzen Chymischen Hochzeit ist ein Hauch von Manichäismus ausgegossen.

 

Die Arbeit der Alchemisten vollzieht sich also im Inneren des Menschenurbildes. Christian Rosenkreutz arbeitet daran mit, dass sich das Bewusstsein nach und nach auch auf die leibbildenden, substanzverwandelnden Kräfte ausdehnt.

Nur Christian Rosenkreutz hat die vorbereitende Behandlung der Leichname miterlebt, nur er hat die Schicksale der Flammen wahrgenommen, nur er ist der Venus auf zweierlei Weise begegnet, nur er hat das Eingreifen der Sternenkräfte am Beginn der alchemischen Arbeit erkannt, nur er hat den Wiedereinzug der Flammengeister der königlichen Personen und deren Verschmelzung beobachtet. Obwohl alle Alchemisten am siebten Tag zu Rittern vom Goldenen Stein ernannt werden, stellt sich doch eine besondere Beziehung zwischen dem Königspaar und Christian Rosenkreutz ein. Seine Einweihung wird geschildert, nicht die einer Gruppe von Menschen. 

 

Türhüter

Der ganze siebte Tag ist der Rückfahrt vom Turm Olympi zum Schloss des Königspaars gewidmet und den anschließenden Festlichkeiten. Die Alchemisten werden zu Rittern vom Goldenen Stein gemacht und der Tag wird mit Ehrungen und in fröhlicher Festesstimmung verbracht. Doch es kommt noch ein „dickes Ende“.

Einer der Wächter an den Toren des zweiten Tages kommt während der Festlichkeiten des siebten Tages hinzu und bittet um Gehör. Ein Ritter vom Goldenen Stein habe in den vergangenen Tagen denselben Fehler begangen, den er vor langer Zeit begangen habe. Er habe die Venus unbekleidet gesehen. Er selbst habe deswegen den Posten am Tor – am zweiten Tor - übernehmen müssen. Christian Rosenkreutz bekennt nach geraumem Zögern seine Missetat, und der neue König erklärt, er müsse nun das Amt des Türhüters übernehmen.

Man kann diese Übernahme des Hüteramtes verschieden verstehen. Ich verstehe sie so, dass sie nicht nur eine Strafe, sondern zugleich eine Bestätigung seines Ranges ist: Er darf von nun an sein eigener Hüter sein. Das bedeutet auch, dass derjenige, der bislang sein Hüter war, von dieser Aufgabe befreit ist.

 

[i] Antwort an die lobwürdige Brüderschafft der Theosophe von RosenCreutz N.N. vom Adam Haselmayr … der zeyten zum heyligen Creutz Dörflein bey Hall in Tyroll wohnende, Ad Famam Frasternitatis Einfeltigist geantwortet, Anno 1612, Getruckt im Jar Anno 1612, Weimar, Anna Amalia Bibliothek, Signatur 4o XII 161 (7). Zitiert nach dem Faksimile in: Carlos Gilly, Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer, In de Pelikaan, Amsterdam 1994, S. 69 ff, S. 73.

[ii] Zu diesen Toren vergleiche Rudolf Steiner, Die drei Entscheidungen des imaginativen Erkenntnisweges. Einsamkeit – Furcht – Schrecken, Vortrag Berlin 2.3.1915, in: R.Steiner, Menschenschicksale und Völkerschicksale – Schicksalsbildung nach dem Tode, Gesamtausgabe Bd.157, Dornach 1960, S. 159-182.

[iii] Vgl. hierzu auch Günter Heuschkel, Alchimia. Johann Valentin Andreä. Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz. Mit Erläuterungen Rudolf Steiners, Selbstverlag Hamburg 2010, S. 38-40. Günter Heuschkel setzt an die Stelle der Prudentia (Klugheit) die Pudicitia (Keuschheit) und an die Stelle der Potentia die Patientia (Geduld).

[iv] Joh. Valentin Andreae. Fama Fraternitatis (1614) – Confessio Fraternitatis (1615) – Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz Anno 1459 (1616), eingeleitet und herausgegeben von Richard van Dülmen, Calwer Verlag, 5. Auflage, Stuttgart. 2000, S. 84.

[v] Dito, S. 85.

[vi] Jan van Rijckenborgh, Die alchimische Hochzeit des Christian Rosenkreuz. 2. Teil, Rozekruis Pers, 2. überarbeitete Auflage, Haarlem 1991, S. 7 ff.

[vii] Wie Anm. 4, S.96.

[viii] Vgl. dazu Rudolf Steiner, Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz, (1918), in: R. Steiner, Philosophie und Anthroposophie, Gesamtausgabe Bd. 35, Dornach 1965, S. 332-390, hier S. 371-74.

[ix] Wie  Anm. 4, S. 96

[x] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, 22.Auflage, Gesamtausgabe Bd. 10, Dornach 1975, S.18

[xi] The remains of bishop Archelaus, Kap.8, übersetzt aus dem Englischen nach: The Works of Gregory Thaumaturgus, Dionysius of Alexandria and Archelaus, translated by Rev. S. D. F. Salmond, M.A., Edinburgh 1871, S. 284-285.

[xii] Lateinisch vir perfectus = der vollkommene Mensch, griechisch άήρ ό τελειοϛ = vollkommene Luft. Man behauptet, άνήρ = Mensch sei falsch abgeschrieben von άήρ = Luft. Ich halte diese Vermutung für unzutreffend.

Sieben Tage mit Christian Rosenkreutz. Vortrag von Rolf Speckner. Calw, 28.Juni 2013
Der Autor stellt die sieben Stufen der inneren Entwicklung dar, die sich in den Tagen der chymischen Hochzeit, wie sie in der gleichnamigen 1616 veröffentlichten Schrift beschrieben worden ist, Schritt für Schritt urbildhaft ereignet haben. Der Vortrag ist im Rahmen zweier Tagungen über Christian Rosenkreutz, welche der 'Zweig am Rudolf Steiner Haus' der Anthroposophische Gesellschaft gemeinsam mit der 'Stiftung Rosenkreutz', die das Gedankengut der "Schule des goldenen Rosenkreutzes" in der Öffentlichkeit vertritt, durchgeführt hat. Die Vorträge dieser beiden Tagungen im Frühjahr und Sommer 2013 sind auch gedruckt worden.
Sieben Tage mit Christian Rosenkreutz. C[...]
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