Helena Blavatskis früher Weg zu den 'östlichen Rosenkreuzern'.

Das folgende Kapitel meines noch unveröffentlichten Buches über Helena Blavatski in Deutschland untersucht die Kindheit und Jugend Helena Blavatskis auf mitteleuropäische und buddhistische Einflüsse. Es steht am Ende auch als Pdf mit Anmerkungen und Quellenangaben zur Verfügung.
Es gibt drei okkulte Strömungen in der Welt, mit denen es Helena Blavatski zu tun hatte. Diese drei sind der Weg des Ostens, der Weg des Westens und der Weg Mitteleuropas. Es handelt sich, um es im Bilde des Goetheschen Märchens zu charakterisieren, um den Weg, der morgens über den Fluß führt, um den, der abends hinüber trägt, und um den der Mittags die Brücke zu schlagen weiß. Im folgenden wird Helena Blavatskis Verhältnis zu diesen Strömungen anzusehen sein.
    Es kann wohl keinen Zweifel daran geben, dass sie den zweiten Teil der ‚Entschleierten Isis‘ und die ‚Geheimlehre‘ im Dienste der indischen Okkultisten geschrieben hat. Diejenige Lebens-leistung, mit der sie in die Geschichte eingegangen ist, hat sie ohne Zweifel in Verbindung mit östlichen Meistern vollbracht. Dementsprechend hatte Helena Blavatsky auch schon, wie William Quan Judge bezeugt, von Anfang an gesagt, dass sie, sobald sie das Buch ‚Isis unveiled’ niedergeschrieben habe, nach Indien zurückkehren werde. Der erste Teil der „Entschleierten Isis“ stand allerdings unter anderen Einflüssen, nämlich unter rosenkreuzerischen. Wie war es zu diesen verschiedenen Einflüssen gekommen? Und warum verband sich H.P.B. von einem bestimmten Zeitpunkt an so intensiv mit dem indischen Okkultismus?

    Helena Petrovna Blavatsky, am 12.August 1831 in Jekaterinoslaw am Dnjepr geboren, war eine geborene Gräfin von Hahn, eine Tochter des aus einem mecklenburgischen Adelshaus stammenden Peter Alexeyevitch von Hahn und der Helene Andrejewna Hahn, geborene Fadeyef. Über die Linie des Vaters, der wie viele deutsche Adlige als Offizier im Dienst des russischen Zaren stand, war sie mit dem deutschen Adel verbunden. Seine Eltern waren Gustav von Hahn und Elisabeth, geborene Gräfin von Proben. Von ihr soll H.P.B. das lockige Haar geerbt haben. Gustav von Hahn war es, der diesen Zweig der mecklenburgischen Familie Hahn von Rottenstern-Hahn nach Russland verpflanzt hatte, indem er als General in russische Dienste trat. 

    Über die Linie ihrer Mutter war H.P.B. anderer-seits mit dem russischen Hochadel verwandt. Helena Andrejewna Fadeyef war die Tochter des Geheimen Rats Andrei Mikhailovich Fadeyef und der Prinzessin Helena Paulowna Dolgorouky, die sich als Malerin hervorgetan hatte. H.P.B.s Großvater Fadeyef hatte bedeutende Ämter in der russischen Verwaltung inne und da ihr Vater seinen Dienst in wechselnden Garnisonen verrichten musste, waren die zeit-weiligen Aufenthalte bei ihren Großeltern so etwas wie ruhende Punkte in ihrem frühen Leben.

   Mit sechs Jahren war sie 1837/38 das erste Mal für ein ganzes Jahr im Haus der Großeltern, und zwar in Astrachan, das an der Mündung der Wolga ins Kaspische Meer liegt. Ihr Großvater war zu dieser Zeit der vom Zaren beauftragte Kurator des für die Kalmücken reservierten Gebietes, das sich vom Unterlauf der Wolga weit hinüber in Richtung auf das Schwarze Meer erstreckte. Als Treuhänder kümmerte er sich um etwa 80 - 100.000 Kalmücken, deren nomadisierendes Leben sich überwiegend in dieser freien Steppe abspielte.

    Die Kalmücken sind mongolischer Abstammung und siedelten bis ins 17.Jhdt. gemeinsam mit drei anderen Stämmen in einem weiten Gebiet Zentral-asiens zwischen dem Altai im Norden und dem Tian-Shan Gebirge im Süden, zwischen der Wüste Gobi im Osten und dem Balkasch-See im Westen. Innere Streitigkeiten zwischen den vier kalmückischen Stämmen, die in blutige Kämpfe mündeten, führten dazu, dass der westlichste Stamm durch die kirgisische Steppe nach Westen auswanderte und sich zunächst südlich vom Uralgebirge, dann aber vor allem an der Wolga in der Steppenlandschaft nördlich und westlich des Kaspischen Meeres niederließ, die daher heute auch Kalmückensteppe genannt wird. In grauer Vorzeit war ein großer Teil des Stammes bereits einmal denselben Weg gezogen und hatte sich im Kaukasus und in Kleinasien verloren. Die zurückgebliebenen aber wurden von den anderen tartarischen Stämmen die „chalmiki“, d.i. die „Abtrünnigen“ genannt.

   Als das russische Reich sich im 18.Jhdt. nach Süden und Osten ausdehnte, wurde auch dieses Gebiet dem Zaren botmäßig. Die Kalmücken behielten aber ihre Lebensform und Herrschaftsstruktur und vor allem ihr religiöses Leben bei.

   Ihre Religion ist die aller Mongolen: der Tibetische Buddhismus oder Lamaismus. Wie die übrigen Mongolen hatten die Kalmücken den Buddhismus aus Tibet erst im 16./17. Jahrhundert angenommen. Die Lamas kann man als eine Art von mönchischem Klerus beschreiben, der auch im Stande der Ehelosigkeit bleibt. Die Lamas leben getrennt von der Landbevölkerung und den nomadisierenden Familiengemeinschaften der Hirten in kloster-ähnlichen Einrichtungen. Bevor die Kalmücken Buddhisten wurden, trieben sie Schamanismus und so ist ihrem Buddhismus ein schamanischer Einschlag geblieben.

  Durch das Leben im Haus des Großvaters eröffneten sich an der kulturellen Grenze zwischen Russland und Asien wichtige Erfahrungsfelder, die Helena entscheidende Eindrücke und Erlebnisse vermittel-ten: "Ich war recht vertraut mit dem Lamaismus der tibetischen Buddhisten. Ich verbrachte Monate und Jahre meiner Kindheit unter den lamaistischen Kalmücken von Astrachan und mit ihrem Großpriester. ... Ich hatte Semipalatinsk und das Uralgebirge mit einem Onkel besucht, der in Sibirien Besitzungen im Grenzgebiet der mongolischen Länder besaß, wo der Terachan Lama residiert; auch machte ich zahllose Ausflüge über die Grenzen, und wusste über die Lamas und die Tibeter alles bevor ich fünfzehn Jahre alt war."  

   Was Helena Blavatsky hier über ihr zweites Jahrsiebt (Mitte 1838 - Mitte 1845) erzählt, erscheint, wenn man sich die Stellung ihres Großvaters als Treuhänder im Gebiet um Astrachan vorstellt, durchaus glaubwürdig. Es ist meines Erachtens bislang nicht genügend berücksichtigt worden. Immer wieder kamen Gesandtschaften der in der Steppe nomadisierenden Kalmücken zu ihrem Großvater, die freundlich empfangen wurden, deren Anliegen ebenso ernst genommen werden mussten wie diejenigen der christlichen Untertanen des Zaren. Fadeyef hatte offenbar genügend Verständnis für das buddhistisch geprägte Volk und traf den rechten Ton. Astrachan, die Stadt im Delta der Wolga, besaß einen lamaistischen Tempel, ein weiterer derartiger Tempel stand am Westufer der Wolga in der von Wolgadeutschen gegründeten und geprägten Stadt Sarepta, 400 km flußaufwärts am Wolgaknie. Ein deutscher Reisender in Turkestan berichtet auch von nicht ortsgebundenen kalmückischen Klöstern in Turkestan: "Sie haben in ihren Winterlagern gemauerte Tempel, auf der Wanderung aber dienen ungeheuer große und hohe Zelte als Gebetsstätten. Im Tale des Kasch traf ich im Jahre 1880 ein nomadisierendes Kalmückenkloster; die Mönche wohnten in gewöhnlichen Filzjurten rings um ein außerordentlich hohes Tempelzelt aus blauem und weißem Baumwollstoff. Diese Mönche, von denen drei eine Zeitlang in meiner Gesellschaft reisten, erinnerten mich durch ihre Kleidung aus gelbem Stoff, ihre Mützen, ihr bartloses Gesicht und ihr ganzes Äußere lebhaft an unsere Franziskaner."       
   Die westlichen Kalmücken pflegten einen Buddhis-mus, der die ganze Vielfalt des tibetischen Buddhismus umfasste. Nachdem sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Tod Buddhas alles um die eine ausgezeichnete Persönlichkeit des Gautama Buddha und des von ihm gelehrten und gelebten achtglied-rigen Pfades gedreht hatte (Theravada Buddhismus), entwickelte sich nach und nach die Ansicht, der Gautama sei nur ein Boddhisattva unter vielen gewesen, das Entscheidende an ihm sei seine Lehre. (Mahayana-Buddhismus). Zu den ursprünglichen Selbsterziehungsmethoden trat seit dem 7. Jahrhun-dert ein System von esoterischen Ansichten und Praktiken, die man Tantrismus nennt. Ein Ergebnis dieser Übungen kann es sein, eine mystische Vereinigung mit der Gottheit herbeizuführen. Für den meditierenden Hindu war das Ziel die Vereinigung mit einer Hindu-Gottheit, für den Buddhisten eine Vereinigung mit einem der Boddhisattvas oder Buddhas. Man stellte das in der Form dar, dass man das jeweilige heilige Wesen in der leiblichen Vereinigung mit seiner Geliebten zeigte, die auf seinem Schosse sitzend ihn mit ihren Beinen umschlingt. Als Mittel, um zu dieser mystischen Einheit, in der alle Differenzierung verschwinden soll, zu gelangen, verwendet der tantrische Buddhist: mantrische Sprüche, mystische Silben, okkulte Bilder (Mandalas) und Gesten und Stellungen des Leibes (Mudras). In einigen Formen des Tantrismus wird das Symbol der Vereinigung nicht bloß als Symbol angesehen, sondern als realistische Handlungsanweisung aufgefasst und praktiziert. Unter die Vielfalt dieser Mittel konnte sich ferner manches aus der alten tibetischen Naturreligion „Bon“ mischen, insbesondere ein magischer Umgang mit Naturwesen, sowie die Orakelkunst.

   All das lebte auch bei den Kalmücken an der Wolga. Die Tatsache, dass die kalmückischen Lamas dieselben Musikinstrumente benutzen wie die tibetischen, nämlich die aus Metall gefertigten Langtrompeten, die Oboen, die aus Menschenknochen angefertigten Kurztrompeten, die großen Trommeln sowie die sanduhrförmigen aus zwei Schädelkalotten gefertigten kleinen Trommeln, legt nahe, dass sich die westlichen Kalmücken damals auch in ihrem seelischen Erleben noch nicht weit von der Seelenverfassung ihrer tibetischen Verwandten entfernt hatten.

   Der Gedanke, Menschenknochen in Musikinstrumente zu verwandeln, wird bei manchem Leser eine Gänsehaut verursachen. Der Verfasser hatte 1981 die Gelegenheit, die Tibetsammlung des Hamburger Kaufmanns Gerd Wolfgang Essen zu besichtigen und dabei mit Knochentrompeten und Schädeltrommeln zu hantieren. Besonders beeindruckte ihn die harmonische Form der Schädelkalotten, deren Hügel der anschmiegsamen Hand so schmeichelten, dass ihm die himmlische Gewalt dieser Form erlebbar wurde. Ein Gedicht, das Goethe anlässlich der Betrachtung von Schillers Schädel geschrieben hat, kam ihm dabei in den Sinn. Darin heißt es:

  "Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte,
die gottgedachte Spur, die sich erhalten:
ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten,
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
Und in die freie Luft zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre."
  
   In der Form der menschlichen Schädelkuppe spiegelt sich die Harmonie des Sternenhimmels wieder, die uns in sternenklaren Nächten vom Himmel unhörbar und doch unüberhörbar entgegentönt. Für eine goetheanistische Betrachtung erweisen sich die Knochen des Schädels als eine Metamorphose, genauer eine Umstülpung der Oberschenkelkochen, die die Lamas gern für die kurzen Trompeten verwenden: für die hohen und feineren Töne weibliche Knochen, für die tiefen und stärkeren Töne die männlichen Knochen. H.P.B. erwähnt bei den Kalmücken auch Trompeten, „die aus den Zehen und Armknochen ihrer verstorbenen Regenten und Hohenpriester gemacht werden“.  Offenbar war man der Überzeugung, dass die Beschaffenheit einer Menschenseele mit der Form ihres Leibes, insbesondere der Form der Knochen, in einem inneren Zusammenhang steht. Versprach man sich von der Verwendung der Knochen hervorragender Menschen nur besonders wohlklingende Töne? Oder suchte man vielleicht eine Beziehung zu den Verstorbenen zu ermöglichen?

    Ein anwendbares Wissen von den Zusammenhängen von Makrokosmos und Mikrokosmos scheint sich jedenfalls hinter diesen merkwürdigen Gepflogenheiten zu verbergen. Und dieses Wissen der nordbuddhistischen Schule leuchtet uns auch aus Goethes rosenkreuzerisch inspiriertem Gemüt entgegen. Goethe gibt aber durch seine Metamorphosenlehre, in der Wissenschaft und Kunst zu einer Einheit verschmelzen, eine Anweisung, wie man zu einer Erkenntnis dieser flutenden Gestaltenwelt kommen kann ohne das helle wissenschaftliche Bewußtsaein aufzugeben. Das okkulte Wissen der buddhistischen Lamas und des rosenkreuzerisch inspirierten Mitteleuropäers wiederspricht sich nicht, ist aber auf verschiedene Weise gewonnen. 

    An derselben Stelle der ‚Isis entschleiert‘ weist H.P.B. erneut auf die oben erwähnten Begegnungen hin, die sie schon früh mit dem buddhistischen Hohenpriester der Kalmücken von Astrachan hatte. Sie erzählt, er habe ihr einen Talisman geschenkt, der ihr später im Umgang mit den Lamas des Ostens sehr geholfen habe. Es handelt sich um einen Stein: „Unser Talisman war eine Gabe des ehrwürdigen Hohenpriesters, einem Heiloung, eines kalmückischen Stammes. Obgleich sie als Abtrünnige ihres ursprünglichen Lamaismus behandelt werden, unterhalten diese Nomaden freundlichen Verkehr mit ihren Kalmücken-Brüdern, den Chokhots des östlichen Tibet und Kokonors, ja sogar mit den Lamaisten Lhasas. Die kirchlichen Autoritäten jedoch wollen keine Beziehungen zu ihnen haben. Wir haben überreich Gelegenheit gehabt, mit diesem interessanten Volk aus den Astrachanischen Steppen bekannt zu werden, da wir in unseren frühen Jahren in ihren Kibitkas gelebt und die großzügige Gastfreundschaft des Fürsten Tumen, ihres letzten Häuptlings und seiner Gemahlin genossen haben."

   Was Helena Blavatsky über die Beziehungen der Kalmücken zu den Lamas von Lhasa schreibt, lässt sich trotz der dünnen Quellenlage ebenfalls historisch erhärten. In den Grenzen des damaligen Russland, also einschließlich Zentralasiens und Sibiriens lebten bis zu 600.000 Anhänger der Lamas. Erwin Erasmus Koch schreibt: „Unbestreitbar reichte die geistige Herrschaft des Potala weit nach Russland hinein. Die Torgoten, auch Kalmücken genannt, gehörten dem gelben Glauben an, und obwohl von ihnen 100 Jahre zuvor ein ungeheurer Tross in die Steppe der Mongolei zurückgekehrt war, hatten sich dennoch hunderttausende an der Wolga und am Balkaschsee angesiedelt. Überdies bemühten sich noch unausgesetzt Missionare der Gelugpa um die Bekehrung der Burjäten ... Die Steppen um den Baikalsee und am Irkutsk wurden blühende Kirchenprovinzen der‚Tugendhaften‘. Mehr und mehr Zaubererpriester bemühten sich zudem um die Sojoten im Reich des Zaren und drangen über den Hoch-Altai vor, noch über den Lauf des Irtysch hinaus. Längst waren in Russland die ersten großen Tempelklöster gegründet worden, der Zar hatte einen Khri-pai-Blama, einen ‚Thron-Lama‘, als Haupt der Gelbmützen in Russland eingesetzt. Für die Äbte der Klöster galt das Inkarnationen-Dogma. ..."

  Der kalmückische Fürst Tumen, den sie erwähnt, hatte in seiner Jugend als Vasall des Zaren mit einem Regiment von kalmückischen Reitern an der Niederringung Napoleons mitgewirkt und war 1813-14 bis nach Paris gekommen. Er lebte im Alter in einem Palast auf einer der vielen kleinen Inseln im Delta der Wolga. –

   Als Kibitkas bezeichnet man die Zelte der Kalmücken, die aus einem einfachen hölzernen Rahmen bestehen, über den Fell gespannt wird. Eine runde Öffnung in der Mitte oben lässt den Rauch austreten. Laurence Oliphant, der im Sommer 1852 die Wolga bereiste, beschreibt ganze Städte aus solchen Zelten. Eine lag am Ostufer: „Am folgenden Tag kamen wir zur Linken an einer elenden Stadt mit einem unaussprechlichen Namen vorbei, die nur dadurch verdient, erwähnt zu werden, daß sie jährlich nicht weniger als neun Millionen Pfund (poods) Salz exportiert, die aus einer Marsch sechzig Werst landeinwärts hierher gebracht wird. Ein großer Teil der Stadt bestand aus Zelten; und derjenige Teil der Bevölkerung, der darin wohnte, bestand anscheinend aus kalmückischen Tartaren, die über diese unermesslich weiten Steppen wandern. Eine Anzahl von Ochsen, angebunden in der Nähe ihrer Karren, legte nahe, dass die Hauptausfuhrware erst kürzlich angekommen war." Laurence Oliphant weiß wenig Erfreuliches über die Kalmücken zu berichten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Blick des dreiundzwanzigjährigen Schriftstellers an der Oberfläche hängen blieb. Neben vielen interessanten Einzelheiten fällt auf, dass er alle Bevölkerungsgruppen, auf die er stößt, an der britischen feinen Gesellschaft misst.

   So war Oliphant auch schon mit jenen mongolischen Verwandten der Kalmücken verfahren, auf die er im Tal von Kathmandu gestoßen war, und war zu einem ähnlich ungünstigen Urteil gekommen. Es ist dies von besonderem Interesse, weil Laurence Oliphant, wie wir gesehen haben, später ebenfalls Okkultist wurde. Offensichtlich hat er die Gelegenheit, denselben Quellen zu begegnen, denen Helena Blavatsky so viel verdankte, nicht genutzt. Nach den eigenen Worten H.P.B.s begegnete sie ihrem Meister im Leibe zum ersten Mal 1850 in London. Er war im Troß einer Gesandschaft des nepalesischen Hofes gekommen. Einer ersten kurzen Begegnung folgte eine längere Aussprache im Sommer des folgenden Jahres ebenfalls in England. Die Reisegruppe war inzwischen im Winter 1850/51 nach Indien zurückgekehrt – möglicherweise ohne den Meister – und der nepalesische Delegationsleiter Jung Bahadur hatte auf der Rückreise in Ceylon den Sohn des dortigen englischen höchsten Richters kennengelernt und nach Nepal eingeladen. Das war Laurence Oliphant. Oliphant reiste demnach mit derselben Gesandtschaft, eingeladen vom nepalesischen Premierminister, 1851 nach Nepal. Er gibt aber keinen Hinweis darauf, dass er auf der Reise oder im Hochland von Nepal wissentlich einem Eingeweihten des Ostens begegnet ist. Im Gegenteil scheint sich bei ihm auf dieser Reise die Ansicht verfestigt zu haben, dass der Buddhismus nicht geeignet sei einen bedeutenden Fortschritt der Menschheit zu bewirken.    

   Helena Blavatskys Blick aber blieb nicht an der Oberfläche, sie stellte Fragen. An einer prominen-ten Stelle der ‚Isis entschleiert‘, nämlich gleich auf den ersten Seiten, skizzierte sie die Umrisse des umfassenden Weltgebäudes, das ihr der Hohe-priester der Kalmücken mitgeteilt hat: "Die Kalmücken und einige Stämme Sibiriens beschreiben in ihren Legenden ebenfalls unserer jetzigen Rasse vorausgehende Schöpfungen. Sie sagen von diesen Geschöpfen, dass sie von fast unbegrenztem Wissen waren und in ihrer Kühnheit selbst dem höchsten Geist mit Empörung drohten. Um sie für ihre Anmaßung zu bestrafen und zu demütigen, sperrte er sie ‚in Körper’ ein und verschloss so ihre Sinne. Aus diesen Körpern können sie nur durch lange Bußen entkommen, durch Selbst-Reinigung und Entwicklung. Ihre Schamanen, so glauben sie, genießen gelegentlich die ursprünglich von allen menschlichen Wesen besessenen göttlichen Kräfte."

     Geistvoller und wahrer sind auch die von Plato überlieferten Mythen und die Erzählungen des Alten Testamentes nicht. Das Alte Testament erzählt weitgehend dieselbe Geschichte. Die Menschen lebten einst – soeben aus der Hand des Schöpfers gekommen – in der wahrgenommenen Anwesenheit Gottes und der Erzengel. Es geschieht ein partielles Sich-Losreißen des Menschen von der Führung des Schöpfers. Der Schöpfer versetzt die Menschen auf die Erde und macht sie abhängig von ihrer Leiblichkeit. Schließlich verspricht der Erzengel Gabriel: „Ich will Euch langsam rufen wieder!“ Allerdings geht die Erzählung der buddhistischen Kalmücken in einer bezeichnenden Hinsicht über die des Moses hinaus: sie spricht dem Menschen die Möglichkeit zu, durch „Selbstreinigung und Entwicklung“ den Status der frühen Menschheit zumindest partiell zurückzugewinnen.

    Es gab andererseits auch eine Zukunftsschau  der Lamas. Sicherlich hat dieses Bild in verschiedenen Versionen gelebt, und man wird nicht leicht sagen können, welche Version die richtige ist. Ich gebe sie in der Form wieder, in der sie einem der deutschen Reisenden in Sinkiang in der Zeit zwischen 1920 und 1930 erzählt worden ist. Sven Hedin gibt in seinem Buch ‚Rätsel der Gobi‘ die Erlebnisse Henning Haslund Christensens bei den Torgoten wieder. Torgoten nennen sich die Nachkommen der von der Wolga nach Sinkiang zurückgekehrten Kalmücken selbst. Immer wieder hörte er, von verschiedenen Menschen erzählt, die folgende Zukunftserwartung:

Noch 500 Jahre lang wird die Welt schlechter und schlechter, und danach folgt Sjambal, wo die guten und die bösen Menschen einen vernichtenden Kampf gegeneinander führen, einen Kampf, der damit endet, dass nur die guten Menschen am Leben bleiben. Danach tritt ein großer und guter Khan auf, der über alle Völker der Welt herrschen wird, und dieser Khan ist von der weißen Rasse. Wenn der Khan ein hohes Alter erreicht hat, wird sein einziger Sohn sehr krank, und alle die berühmtesten Medizinmänner der weißen Rasse sind der Krankheit gegenüber machtlos. Aber da kommt ein buddhistischer Lama an das Krankenbett, und es geschieht das Wunder, daß der todkranke Sohn des Khans gesund wird. Dieser buddhistische Lama ist Maitreja, der Maidari der Mongolen, der zukünftige Buddha, auf den die Welt wartet und der auf die Erde kommt, um die Menschen zu erlösen. Maidari geht nun zu einem Berg, der sich auf wunderbare Weise vor ihm öffnet, und dort empfängt er Gautama Buddhas Gewand. Feuer und Rauch steigen aus dem Berg auf, und von allem und allen ertönt ein Gemurmel: Om mani padme hum, O du heiliges Kleinod in der Lotusblume, amen." Mir ist nicht bekannt, wann diese Erzählung entstanden ist, wann also die 500 Jahre begonnnen haben und wann sie abgelaufen sind.

   Insofern sich solche Belehrungen in mythischen Bildern abspielten, deren Wahrheit nur gefühlt, nicht diskutiert werden kann, konnte H.P.B. auch im Alter zwischen 7 und 14 Jahren viel von den Lamas der Kalmücken „lernen“. Was sie in Bildern auf-nehmen konnte, wuchs mit ihr heran, wurde zum Wissen, wurde begriffen und schließlich erkannt. Ein solcher Reifeprozess dauert Jahre und Jahrzehnte – und doch kann ein Mensch im Rückblick sagen, was ich später erkannt habe, habe ich schon sehr früh gewusst. So konnte Helena Blavatsky schreiben, sie habe über die Lamas und die Tibeter alles gewusst bevor sie fünfzehn Jahre alt gewesen sei.

   Dass H.P.B. die Gelegenheit, die sich ihr geboten hat, so intensiv ergriffen hat, deutet meines Erachtens auf eine schicksalhafte Vorbestimmtheit ihres Wesens hin. Wie man diese Vorbestimmtheit ihres Wesens verstehen muss, ob als Ausdruck vergangener Erdenleben, als Einfluss von Seiten des Erbstromes oder als Ausdruck ihrer Individualität, bleibe dahingestellt. Die Einflüsse, die sie aus ihrer Umwelt empfangen hat, genügen als Erklärungsgrund jedenfalls nicht. Das wird gerade im Vergleich mit Laurence Oliphant deutlich. 1829, also zwei Jahre vor Helena Blavatsky, geboren, verbrachte auch er sein zweites Jahrsiebt im Lebenszusammenhang eines buddhistischen Volkes, nämlich auf der Insel Ceylon (Sri Lanka). Sein Vater hatte als höchster Richter der britischen Inselkolonie eine ähnliche Vertrauensstellung gegenüber der buddhistischen Bevölkerung wie Helena Blavatskys Großvater in Astrachan. Auch er verbringt wie H.P.B. einen Großteil seines Lebens auf Reisen und ist ein wahrer Kosmopolit. Seine Loslösung vom Elternhaus vollzieht sich auf der erwähnten Reise nach Nepal, die er mit einer Reisegruppe durchführt, zu der wahrscheinlich der Mann gehört hatte, der H.P.B. in London auf den Weg der Initiation brachte. Laurence Oliphant aber lässt nicht die geringste Nähe zum Buddhismus erkennen, seine Reise nach Nepal führt im Gegenteil bei ihm zu der Überzeugung, dass der Buddhismus es nicht geschafft hat, den Völkern Asiens einen Quell der Moralität zu erschließen. Die äußeren Voraussetzungen dieser beiden Okkultisten waren in ihren frühen Jahren sehr ähnlich und doch entwickeln sie sich in ganz verschiedene Richtungen.
Kalmücken Lamas mit Musikinstrumenten. Aus Franz von Schwarz. Turkestan. Freiburg 1900. S.36.
Kalmückentempel in Astrachan. Aus Siegbert Hummel. Die lamaistische Kunst in der Umwelt von Tibet. Leipzig 1955. Abb.74.

Ein zweiter Grund, Helena Blavatskys frühe Neigung zum Buddhismus als in ihrem Wesen begründet anzuschauen, liegt darin, dass sie in ihrer Kindheit außer der russischen Kultur, die ihre Persönlichkeit natürlich vornehmlich geprägt hat, und der des kalmückischen Lamaismus noch einer dritten Kultur begegnet ist, nämlich der deutschen. Der Einfluss der deutschen Sprache und Kultur auf sie blieb aber denkbar gering.

Dass ihr Vater zum mecklenburgischen Adel gehörte, hatte die Folge, dass Helena von Kindesbeinen an mit der deutschen Sprache konfrontiert war. Ihr Vater legte sogar großen Wert darauf, dass sie die deutsche Sprache gut erlerne. Da er mit seinem Regiment häufig versetzt wurde und wohl auch nicht der zartfühlendste Ehemann war, zog die Mutter es zeitweilig vor, mit den Kindern in Odessa im Familienzusammenhang zu leben. Sie engagierte ein englisches Kindermädchen, damit Helena Englisch lernte. Helenas russischer Großvater war in Odessa im 'Kuratorium der Siedler' angestellt, das den nach Russland Einwandernden in den neugewonnenen Ländern Grund und Boden zuwies, darunter wie Cranston ausdrücklich vermerkt, vielen Siedlern aus Deutschland. Als die Familie wieder zusammenkam, veranlasste Peter von Hahn, dass Helena dreimal in der Woche Deutschunterricht erhielt. Sylvia Cranston meint sogar, Helena hätte die Sprache lernen wollen. Er soll über die Fortschritte der kleinen Tochter gesagt haben: sie sei eine würdige Nachfahrin ihrer rühmlichen Vorfahren, die nie eine andere Sprache konnten als Deutsch. Es scheint mir zweifelhaft, ob er damit ihre Fähigkeiten charakterisieren wollte oder ihre Unfähigkeiten.
Der Zynismus von Helenas Vater muss für seine junge Frau schwer erträglich gewesen sein. Cranston zitiert eine Stelle aus einem Roman, den Helenas Mutter geschrieben hat, die autobiografische Züge tragen könnte: "Täglich vernichtete der geschliffene, rasche Verstand meines Mannes, in der Regel begleitet von schneidender Ironie, meine schönsten, unschuldigsten und reinsten Bestrebungen und Empfindungen. Über alles, was ich bewunderte, alles, was ich seit meiner Kindheit anstrebte, alles, was meinem Herzen lieb und teuer war, lachte er nur, oder er machte es im erbarmungslosen zynischen Licht seiner kalten und grausamen Argumentation herunter." Dass die Ehe zwischen ihren Eltern nicht glücklich war, kann Helena nicht entgangen sein. Und daß ihre Sympathien später eindeutig bei ihrer Mutter lagen, geht aus ihren Äußerungen klar hervor. So stellt sich die Frage, ob das schmerzliche Erleben der Mutter so auf die Tochter abgefärbt hat, dass diese sich der Sprache des Vaters verweigerte. Ich kann in diesem Punkte gegenwärtig nicht weitergehen als diese Vermutung zu äußern.
Helena erinnerte sich später, daß sie die deutsche Sprache nie richtig gelernt habe! Auch in Astrachan war der Großvater nicht nur zuständig für die Kalmücken sondern auch für die deutschen Siedler. Welche Bedeutung damals die deutschen Siedler an der Wolga gehabt haben, geht aus einer charakteristischen Beobachtung Laurence Oliphants hervor. Er berichtet, die meisten kultivierten Menschen - „respectable“ nennt er sie - die ihm auf seiner Wolgareise 1852 begegnet seien, seien entweder Deutsche gewesen oder hätten zumindest Deutsch gesprochen. Das wird nicht überall in Russland so gewesen sein, sondern beschreibt einen Zustand wie er in dem von den deutschen Siedlern an der Wolga mitgeprägten Gebiet sich ergeben hatte. Und natürlich dürften Oliphant auch kultivierte Russen begegnet sein, die er nicht als solche erkannt hat, weil er nicht Russisch sprach. Diejenigen kultivierten Menschen mit denen er ins Gespräch kam, die er also kennenlernte, waren Deutsche oder sprachen zumindest Deutsch. In Helenas persönlichem Umfeld muß auch aus diesem Grunde die deutsche Sprache und Kultur eine gewisse Bedeutung gehabt haben.

Nachdem Helenas Mutter im Juni 1842 im Alter von nur 27 Jahren gestorben war, sandte Helenas Vater sie mit ihren beiden Geschwistern dauerhaft zu den Großeltern nach Saratow. Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr hat sie dann etwa fünf Jahre im Haus der Großeltern zugebracht. Ihr Großvater war inzwischen der Gouverneur des Distrikts Saratov geworden, der sich damals an der Wolga nördlich an das Gouvernement Astrachan direkt anschloss. Die Grenze lag am Wolgabogen flußabwärts von Sarepta. Der buddhistische Tempel von Sarepta lag also im Gouvernement Saratow, wo es ebenfalls Kalmücken gab, wenn auch weniger als im Gebiet von Astrachan.
Das Gouvernement Saratow hatte im Jahr 1846 gut 1,7 Millionen Einwohner, darunter immerhin einige hunderttausend deutschstämmige Kolonisten. Deren Siedlungen erstreckten sich hauptsächlich am rechten Ufer der Wolga zwischen Volgst und Kamyschinst, sowie im Westen des Gouvernements an den Oberläufen einiger Don-Zuflüsse. Ortsnamen wie Schaffhausen, Zürich, Glaris, Luzern, Unterwalden, etc. belegen den starken Anteil von Schweizern unter den Siedlern. Das erwähnte Sarepta am Südende des Gouvernements wurde unter Katharina II. 1764 –74 von „Mährischen Brüdern“ gegründet. Das war, als Helena Blavatsky in Saratow lebte, gerade 60 Jahre her und die „Mährischen Brüder“ waren in Sarepta noch immer bestimmend. Viele Siedler waren aus dem Rheingau, Hessen, der Pfalz, dem Elsass und aus Holland gekommen. Insgesamt mögen in den Gouvernements Saratow und Astrachan längs der Wolga etwa 500.000 - 600.000 Wolgadeutsche gelebt haben. Dreiviertel von ihnen waren Protestanten, die ihr kirchliches Zentrum und Konsistorium in Saratow hatten.

Saratow, die Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets, lag ebenfalls am rechten Ufer der Wolga und hatte etwa 45.000 Einwohner. Die Stadt war 1665 gegründet worden und ihre Häuser waren überwiegend aus Holz erbaut. Sie wird in dem englischen Lexikon Cyclopedia Brittanica aus der Zeit um 1850 als schmucklos und schlicht bezeichnet, besaß aber eine rege Kaufmannschaft, die mit unternehmerischem Elan Fernhandel betrieb. Auf dem "sehr großen Marktplatz" hielten sie drei Messen im Jahr ab. Saratow war ein Zentrum der Wolgadeutschen.

Trotz alledem erlernte Helena Blavatsky die deutsche Sprache so unvollkommen, daß sie später, als sie in Deutschland lebte, zwar die Sprache verstand, aber nicht sprechen konnte. Während sie andererseits Englisch und Französisch, die sie ebenfalls in ihrer Kindheit gelernt hatte, perfekt beherrschte.

Nun gehört es zu den bedeutsamen Merkwürdigkeiten im Leben Helena Petrovna Blavatskys, dass sie im Hause ihres Großvaters auf eine weitgehend deutsch-sprachige Bibliothek stieß, die eine Fülle von okkulter Literatur umfasste. Diese Bibliothek gehörte ihrem Großvater Fadeyef, stammte aber von ihrem Urgroßvater mütterlicherseits, dem Prinzen Pavel Dolgorucki. Als Helena 1842 nach Saratow kam, war dieser bereits seit vier Jahren tot, und sie durfte in der Bibliothek des Verstorbenen nach Herzenslust stöbern. Sie erinnert sich: "Er besaß eine seltsame Bibliothek, die hunderte von Büchern über Alchemie, Magie und andere okkulte Wissenschaften enthielt. Ich hatte sie mit dem aufmerksamsten Interesse gelesen, bevor ich fünfzehn Jahre alt wurde."

Wie bei den Weisheitslehren des Großlamas der Kalmücken betont Helena Blavatsky auch hier, daß sie die Bücher über Alchemie, Magie und andere okkulte Wissenschaften bevor sie 15 Jahre wurde gelesen hatte, daß sie das darin enthaltene Wissen sich also schon im 2.Jahrsiebt einverleibt hatte. Sie will damit darauf hinweisen, daß sie rosenkreuzerisches Gedankengut zu einer Zeit verinnerlicht hat, als in ihrer Leiblichkeit die nach der Geschlechtsreife auftretenden Impulse noch keine Rolle spielten.

Tatsächlich hat ihre Schwester Vera von dem großen Leseeifer und seltsamen Gebaren der jungen Helena berichtet. Demnach bewohnte die Familie des Großvaters ein altes und überaus geräumiges Landhaus in Saratow, dessen Kellergeschoß eine Fülle von ungenutzten Räumen enthielt, deren einziger Schmuck aus Spinnweben und Staubteppichen gewoben war. Hierhin zog sich Helena gern mit Büchern zurück – auch nachts. Es kam öfter vor, daß man sie vermisste und wenn man sie suchte, im Keller fand. Helenas Schwester beschreibt eine besonders auffällige Begebenheit in einem der entlegenen Kellerräume: "Sie hatte sich selbst in einer Ecke einen Berg aus zerbrochenen Stühlen und Tischen unter einem eisenbewehrten Fenster aufgetürmt. In dieses Versteck, hoch oben unter der Decke, zog sie sich stundenlang zurück, wenn sie ein Buch las, das unter dem Titel ‚Die Weisheit Salomos‘ bekannt ist, in dem alle Arten von volkstümlichen Legenden gelehrt werden." Als die Bediensteten alle Verstecke im Keller kannten, ging sie dazu über, im Freien stille Plätze an entlegenen Stellen des Gartens und schließlich in den umliegenden Wäldern aufzusuchen.

Die Intensität ihrer Lektüre beschreibt die Schwester Vera wie folgt: "Kein alter Gelehrter hätte in seinem Studium beharrlicher sein können; und sie konnte nicht überzeugt werden, ihre Bücher aufzugeben, die sie Tag und Nacht verschlang, so lange der Impuls anhielt. Die enorme Bibliothek ihres Großvaters schien dann kaum auszureichen, um ihre Begierde zu stillen." Es ging Helena auch nicht bloß darum, ein weltanschauliches Wissen in sich anzuhäufen, vielmehr war sie von Kindesbeinen an geneigt, sich die von den alten Autoren beschriebenen Fähigkeiten anzueignen. Was später so auffällig hervortrat als Möglichkeit, Elementarwesen zu kleinen Diensten heranzuziehen, wie z.B. zur Hervorbringung zarter Töne ohne ein äußeres Instrument, dazu hatte sie schon vor dem fünfzehnten Geburtstag die Grundlagen gelegt. Auch dazu weiß ihre Schwester ein charakteristisches Ereignis zu erzählen: "Sie verschwand auf dieselbe mysteriöse Weise auch tagsüber. Hatte man sie gesucht, nach ihr gerufen, sie überall aufgestöbert, entdeckte man sie oft nach langem Bemühen an den am wenigsten aufgesuchten Plätzen; einmal war es in dem dunklen Taubenschlag, direkt unter dem Dach, wo man sie fand, mitten unter den Taubennestern, umgeben von Hunderten dieser Vögel. Sie ‚brachte sie zum Schlafen‘, und zwar gemäß den Regeln, die in ‚Salomos Weisheit‘ gelehrt werden, wie sie erklärte. Und tatsächlich wurden bei solchen Gelegenheiten Tauben gefunden, die, wenn sie auch nicht schliefen, doch noch unfähig waren, sich zu bewegen und als wären sie betäubt, in ihrem Schoß lagen."

Diese Erzählung halte ich für glaubhaft, weil sie von einer Augenzeugin stammt. Wer der Überzeugung ist, so etwas könne es nicht geben, weil es nur eine stoffliche Wirklichkeit gebe, innerhalb derer für Magie kein Platz sei, der darf sich damit zwar in bester Gesellschaft wissen. Hat doch Rudolf Bultmann 1941 mit diesem Argument die ganze Mythologie des Neuen Testamentes für erledigt erklärt: keine Verklärung, keine Wunder, keine Dämonen, keine Auferstehung, keine Höllenfahrt, kein Jüngstes Gericht u.s.w. Doch kann eine derartig eingeschränktes Erkennen nicht als Erfahrungserkenntnis bezeichnet werden, weil es all jene Erfahrungen ausblendet, die mit den von ihr als richtig angenommernen Prinzipien des Materialismus nicht zu denken sind. Der strenge wissenschaftliche Materialismus beruht daher nicht auf dem vollen Umfang der Erfahrung, sondern auf ausgewählten Beobachtungen, für deren Auswahl die materialistischen Grundlehren maßgebend sind. Widersprechende Erfahrungen werden geleugnet ("Das gibt es nicht!"), ausgeblendet ("Das sind Randerscheinungen, die wir später noch verstehen werden.") oder "wegerklärt". Der wissenschaftliche Materialismus der Neuzeit ist keine Erfahrungswissenschaft sondern ein dogmatisches Gebäude.

Überblickt man aber die Geschehnisse im Umfeld von H.P.B., die ihr Zusammenwirken mit einer übersinnlichen Welt nahelegen, fällt eine bestimmte Charakteristik dieser Vorfälle auf: ein großer Teil der 'Phänomene' – so nannte man die dem materialistischen Verstehen unzugänglichen Ereignisse – beruhte auf ihrer Fähigkeit, unter Aufrechterhaltung des Bewusstseins sich mit einem räumlich von ihr getrennten Individuum im Wesen zu verbinden.

Es war dies der Fall als sie sich als junges Mädchen aufgrund von Bildern und Briefen mit einer mecklenburgischen Dame verband und aus der intuitiven Verbindung mit deren Wesen deren Erlebnisse aufschreiben konnte, wie auch später als sie als Erwachsene in Verbindung mit ihren spirituellen Lehrern die ‚Entschleierte Isis‘ schrieb. Es war der Fall als sie als junges Mädchen mitten am Tag Tauben 'zum Schlafen brachte' wie auch später als sie als Erwachsene Elementarwesen in ihre Dienste nahm, um seltsame Klingeltöne und dergleichen hervorzubringen. Vieles in der Seele Helena Blavatskys wird aus dieser besonderen Stärke, das Wesen statt der Erscheinung ins Auge zu fassen, verständlich. Sinnett beschreibt beispielsweise, H.P.B. habe sich von früh auf zu den einfachen Leuten der unteren Klassen hingezogen gefühlt. Tatsächlich hat sie sich ihnen gegenüber genauso offen verhalten wie jedem anderen Menschen gegenüber. Sie hat nicht nach dem Äußeren unterschieden. Das war aber bereits etwas, was den bürgerlichen Horizont Sinnetts überstieg.

Aus dieser Fähigkeit ist ein solches "zum Schlafen bringen" der Tauben am hellichten Tage zu verstehen. Was im ersten Augenblick wie ein Wunder aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung doch als etwas, was uns nicht so ganz unbekannt ist. Zu den unverstandenen Erscheinungen des täglichen Lebens gehört die Möglichkeit des Menschen, einem Tier seinen Willen aufzuzwingen, die bei jeder Dressur oder Abrichtung eine Rolle spielt. Was bei der Abrichtung eines Hundes zwar beobachtbar ist, aber nicht mehr verwunderlich scheint, bekommt seine rätselhafte Dimension sofort zurück, wenn es darum geht einen Tiger zum Sprung durch einen brennenden Reifen zu bewegen oder einen Elefanten zur Balance auf einem schmalen Balken, u.s.w. Die Dompteure benutzen zwar Zuckerbrot und Peitsche, sind sich aber ihrer unmittelbaren Willensbeziehung zu den Tieren bewußt. So ist das eigentliche Rätsel nicht, daß so etwas möglich sein soll, sondern daß sich Helena Blavatsky schon so früh für derlei interessiert hat. Ihre Aufmerksamkeit war von früher Jugend an nicht allein auf das gerichtet, was der Seele durch die Sinne zukommt, sondern ebenso stark auf das, was in der Mitte ihres Wesens an das Tor pocht.

Die Bibliothek Pavel Dolgoruckis war im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstanden. Ein Großfürst von Dolgorucki, der unter der Zarin Katharina II. als Militärführer gedient hatte, hatte die Bücher zusammengetragen. Er hatte eine Beziehung zu russischen Freimaurern, die nach dem in Deutschland ausgebildeten System der ‚strikten Observanz‘ arbeiteten. Genannt werden Nicolai Novikov und die Prinzen Nikita und Yuri Troubezkoi, die seit 1778 in den Logen ‚Latona‘ und ‚Isis und Osiris‘ in Moskau arbeiteten.

Freiherr Johann Gottlieb von Hund hatte das System in der Mitte des 18. Jahrhunderts (1764) entwickelt. Zu den kennzeichnenden Besonderheiten der strikten Observanz gehörte zum einen die Ansicht, daß die Freimaurerei, insbesondere deren Hochgrade, von den Tempelrittern abstammt. Ein Teil der Templer sei rechtzeitig vor dem Untergang des Ordens 1314 aus Frankreich und aus anderen Ländern verschwunden und habe sich an Orten niedergelassen, wo man sie nicht kannte, zumindest nicht verfolgte. Dabei dachte man besonders an die Westküste von Schottland sowie an Skandinavien. Durch diese Überzeugung wurde der Freimaurerorden zu einem christlichen Orden.

Eine weitere Besonderheit ist die Lehre von den ‚unbekannten Oberen‘. Die Freimaurer der strikten Observanz wussten nicht, wer den Orden leitet. Von Hund behauptete, sein Wissen von diesen unbekannten Oberen empfangen zu haben. 1768-69 gelang es Johann August Starck eine bereits bestehende Freimaurerloge in St. Petersburg, in der er ein hohes Amt bekleidete, der 'Strikten Observanz' anzuschließen, wobei Starck, wie es scheint, aus dem Petersburger Freimaurerkreis wichtige Erkenntnisse in die strikte Observanz eingebracht hat. Als die Strikte Observanz ihre grundlegende Ansicht, dass sie von den Templern abstamme, 1782 auf dem Wilhelmsburger Konvent offiziell als historisch nicht belegbar anerkannte, begann der Abstieg dieses bis dahin in Europa führenden freimaurerischen Systems.

In der Zeit nach dem Anbruch der Französischen Revolution, als Ludwig der XVI. bereits gefangen genommen worden war, starb am 1.3.1792 Kaiser Leopold II. in Wien eines plötzlichen und unerwarteten Todes. Am 29.3. wurde König Gustav III. von Schweden bei einem Maskenball ermordet. Die europäische Öffentlichkeit brachte diese Ereignisse mit der französischen Revolution und mit den Freimaurern in Zusammenhang. In Russland trat erschwerend hinzu, dass die russische Geheimpolizei einen Briefwechsel russischer Freimaurer mit dem deutschen Logensekretär Wöllner in Berlin mitgelesen hatte: Wöllner war ein Minister Friedrich II. von Preussen, den die Zarin Katharina als ihren Feind ansah und der ebenfalls dem Bund angehörte. Der Briefwechsel enthüllte, daß die russischen Logen der deutschen Obödienz angehörten und damit die russischen Freimaurer der deutschen Ordensleitung unterstanden. Der geheime Briefwechsel mit Preussischen Staatsdienern und mit dem Herzog von Braunschweig, auf den die russischen Freimaurer ihren Eid abgelegt hatten, war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte.

Katharina II. witterte Gefahr. Die Zarin ließ Novikov und andere wichtige Freimaurer 1792 in Russland ins Gefängnis werfen, schloss die Logen und verbot die Freimaurerei. Pavel Dolgorucki scheint von den Verfolgungen der Zarin nicht erreicht worden zu sein.

Dabei enthielt seine Bibliothek nicht nur Bücher sondern auch verfängliche Dokumente. Henry Steel Olcott nimmt in seinen Tagebuchblättern auf solche Dokumente Bezug. Er spricht da von der eigentümlichen Verkennung des Grafen von St. Germain. Da man dessen Motive nicht durchschaute und die Quellen seines Reichtums ebensowenig, verfiel man auch bei ihm auf die Idee, er habe als Spion an verschiedenen europäischen Höfen gearbeitet. Dann fügt er hinzu: "Wenn Madame Fadeef, H.P.B.‘s Tante, nur bewegt werden könnte, gewisse Dokumente in ihrer berühmten Bibliothek zu übersetzen und zu veröffentlichen, würde die Welt einen näheren Zugang zu einer wahren Geschichte der vorrevolutionären europäischen Mission dieses östlichen Adepten erhalten als bisher zugänglich war." Helena Blavatsky gibt in ihrem frühen Artikel 'A few questions to Hiraf' weitere Hinweise darauf, was dieses Manuskript aus der Hand des Grafen von St. Germain, das er dem russischen Edelmann selbst übergeben hatte, enthielt. Der Graf habe „die völlige Verwandlung der ganzen europäischen Landkarte, beginnend mit der Französischen Revolution von 1793, bis ins Einzelne“ in dem Manuskript im Voraus beschrieben. Man kann sich vorstellen, dass ein derartiges Manuskript, egal ob es die vorausgesagten Veränderungen begrüßt oder ausdrücklich nur, ohne sie zu bewerten, beschreibt, die Zarin in helle Aufregung versetzt haben würde, wenn es in ihre Hände gelangt wäre.

Auffallend und für uns besonders wichtig ist, dass Olcott den Grafen von St. Germain als östlichen Adepten bezeichnet. Wenn man den Gedanken, dass die rosenkreuzerischen Eingeweihten sich am Ende des 18. Jahrhunderts aus Europa zurückgezogen haben, einmal unbefangen prüft, entdeckt man, dass durch ihn vieles schlüssig wird, was sonst rätselhaft bleibt: zum einen das enge Zusammenwirken der nordbuddhistischen Eingeweihten mit Christian Rosenkreutz, das sich in dem Entstehungsprozess der Theosophical Society und der ‚Isis entschleiert‘ wiederspiegelt, zum anderen die eigentümliche Ausbildung Helena Blavatskys in ihrer Jugend, durch die sie mitteleuropäisches Rosenkreuzertum ebenso aufgenommen hatte wie auch durch Vermittlung der Kalmücken die grundlegenden Lehren des tibetischen Buddhismus.

Wie schon die von Helena Blavatsky erwähnten Aussagen des Grafen von St. Germain belegen, hatte auch diese Strömung eigene Vorstellungen davon wie die Zukunft sich entwickeln werde oder solle. Auf derartige Zukunftserwartungen wirft eine andere Aussage, die in Berliner Freimaurerkreisen im 18. Jahrhundert bekannt war, ein weiteres Licht. Überliefert hat sie eine russische Theosophin, Olga Aleksevna Novikoff, die sich ebenfalls mit dem mitteleuropäischen Rosenkreuzertum des 18. Jahrhunderts und dessen Einfluss in Russland beschäftigte. Sie zitiert 1906 aus deren Unterlagen: "Simson [ein Rosenkreuzer aus Berlin] glaubt, dass die wahre Maurerei einmal wieder aus Tibet erstehen wird." Der Aufsatz ist überschrieben ‚Das Rosenkreuz in Russland' und der Autor beruft sich auf ein Manuskript aus dem Jahre 1784. Es bestand demnach die Vorstellung, dass die okkulte Bewegung in Mitteleuropa (oder gar weltweit) untergehen könnte und aus Tibet neue Impulse werde empfangen müssen.

Ganz in diesem Sinne stellte auch Rudolf Steiner die Vorgänge schon 1904 dar. Dabei konnte er sich ebenfalls auf Unterlagen stützen, die nicht jedermann zugänglich waren. Als er ab 1905 daran ging, der königlichen Kunst eine neue Form zu geben, knüpfte er auf Anregung des tschechischen Freimaurers František Zavřel an die Memphis-Misraim Maurerei John Yarkers an. Dazu musste er mit dem 'windigen' Theodor Reuss in Kontakt treten, der verschiedene Grüppchen und Orden gegründet hatte und schon seit den Neunziger Jahren Mitglied der Deutschen Theosophischen Gesellschaft in Berlin war. Reuss sammelte Mitgliedschaften wie andere Briefmarken sammeln. Er war, als Rudolf Steiner die Deutsche Sektion der Theosophical Society übernahm, Mitglied der Berliner Zweigniederlassung. Wilhelm Hübbe Schleiden hatte, wie aus seinem Tagebuch hervorgeht, bereits recht merkwürdige Erfahrungen mit Reuss gemacht. Ich nehme an, dass er Rudolf Steiner davon unterrichtet hatte und dieser also bestens über Reuss Bescheid wusste. Bevor Steiner sich darauf einließ, zog er nachweislich seit September 1904 vielfältige Erkundigungen über Reuss und den Memphis-Misraim-Orden ein, darunter auch bei einem Theosophen, der ein hochgraduierter Freimaurer in einer regulären Loge war. Es handelt sich um den damals in Hamburg lebenden Kolonialdirektor Albrecht Wilhelm Sellin.

A.W.Sellin schreibt über das letzte Jahrzehnt vor seiner Begegnung mit Rudolf Steiner das Folgende: "Im Jahre 1892 zog ich mich von den Arbeiten der Gesellschaft für Experimental-Psychologie zurück, um die Redaktion eines freimaurerischen Blattes in Berlin zu übernehmen, ein Amt, das mir zu meiner großen Freude auch Gelegenheit gab, mich mit der Geschichte des Rosenkreuzertums im 18. Jahrhundert eingehender zu befassen und sogar die noch vorhandenen Reste von dessen Geheimarchiv kennen zu lernen."

Sellin beschreibt dann aufgrund dessen, was er in diesem Archiv hat wahrnehmen können, das Ende des rosenkreuzerischen Okkultismus in Mitteleuropa. Wenn es sich – angesichts der Kürze seiner Darstellung – auch nicht um eine umfassende detaillierte Zeichnung der verwickelten Verhältnisse und Beziehungen handeln kann, haben wir doch damit ein Zeugnisses eines Mannes, der lange Jahre in einem Archiv der alten rosenkreuzerischen Maurer gearbeitet hat und die Geschichte der Rosenkreuzer studiert hat. Summarisch fasst er zusammen: "Gewiß offenbarte sich in jener Bewegung viel reines, edles Streben nach Erkenntnis höherer Wahrheiten, aber zugleich eine gefährliche, auf Gewinnung irdischer Macht gerichtete Verirrung, die von moralisch anfechtbaren Leuten für Sonderzwecke ausgebeutet wurde. Der Versuch des Goldmachens, die Alchemie, wurde Hauptzweck, und ihr Verbot im Jahre 1775 mit gleichzeitiger Hinlenkung der Ordenstätigkeit auf religiöse Ziele vermochte dem Rosenkreuzertum kein neues Leben mehr einzuflößen. Im März 1793 löste sich diese Vereinigung, die zuletzt ein sektenartiges Dasein unter dem Namen der 'Stillen im Lande' geführt hatte, für immer auf."

Es ist eine summarische Zusammenfassung, die das Wesentliche charakterisieren will. Man wird sie leicht 'widerlegen' können, indem man das Fortbestehen dieser oder jener Gruppe als äußere Einrichtung belegt. So darf diese Schilderung aber nicht aufgefasst werden, sondern als das summarische Urteil eines erfahrenen Mannes, das er sich im Laufe jahrelanger Beschäftigung mit den Fragen gebildet hat. Zentral ist für uns dabei die Aussage, daß der rosenkreuzerische Okkultismus aus inneren Gründen ein Ende gefunden hat und daß dieses Ende für den Einsichtigen abzusehen war. Das genannte Datum muss uns an den Ausbruch der Französischen Revolution 1789 erinnern. Es liegt kurz nach der Hinrichtung Ludwigs XVI., die im Januar 1793 geschah.

Die Entwicklung war dahin gekommen, dass die ihre Freiheit und ihre Gleichheit ahnende und die Brüderlichkeit suchende Menschheit auf nichts mehr hören wollte als auf das, was aus den Tiefen der eigenen Seele aufstieg. Die katastrophalen sozialen Verhältnisse Frankreichs, die Phantasie- und Ideenlosigkeit des herrschenden Adels mussten deshalb zur Revolution führen. Ein Bewusstsein von diesen tieferen Impulsen der Menschheit lebte damals vor allem bei den Freimaurern.

Der Graf von St.Germain, der am Französischen Hofe seit 1743 bekannt gewesen war, und von dem bekannt war, daß er 1784 in Eckernförde (Schleswig-Holstein) zu Grabe getragen worden war, trat in den letzten Jahren vor der Revolution trotzdem in Paris auf. Seit 1784 hat er die französische Königin mehrfach vor dem heraufziehenden Gewitter gemahnt, ohne dass sie oder ihr Gatte Ludwig XVI. die Mahnungen verstehen konnten. Diese Begegnungen sind durch die Memoiren der Gräfin d’Adhemar überliefert worden. Nach Karl Heyer sind die Memoiren der Gräfin, denen von vielen Historikern natürlich keinerlei Quellenwert zugesprochen wird, zwar keine Originalwortlaute der Gräfin, aber doch von dem Verfasser, einem Modeautor des nachnapoleonischen Frankreich, nach Unterlagen der Familie d’Adhemar verfasst. Der Verfasser dieser Memoiren hebt einige Äußerungen des Grafen von St.Germain hervor: Der Graf habe gesagt, die Französische Revolution wäre verhinderbar gewesen, wenn rechtzeitig soziale Reformen durchgeführt worden wären. Von einem bestimmten Zeitpunkt an, habe der Graf nichts mehr tun können. Er sei zwischen 1784 und 1792 längere Zeit in China und Japan gewesen und er werde sich 100 Jahre lang, bzw. drei Generationen lang zurückziehen, um dann wiederzukommen.

Daß sich der Graf von St.Germain zurückziehen musste, scheint mit der Notwendigkeit zusammenzuhängen, dass die neuere Menschheit einmal eine Kultur nur aus dem rein Menschlichen schaffen musste. Vor diesem Hintergrund wird das Entstehen des mitteleuropäischen Okkultismus der Goethezeit, der die Inhalte der Freimaurerei und der Mysterien wie im vorigen Kapitel beschrieben ins volle Licht der Öffentlichkeit stellte, indem er sie als Inhalt der reinen Menschlichkeit neu gebar, ein folgerichtiger Schritt der Menschheitsgeschichte. Man stelle sich vor, in Frankreich wären die staatlichen Formen rechtzeitig gefunden worden, die dem Einzelnen weitgehende Freiheit garantiert hätte, Gleichheit vor dem Recht und einen Schutz vor der wirtschaftlichen Ausbeutung durch den Adel. Was für eine Entwicklung hätte Europa nehmen können, wenn dann die mitteleuropäische Kulturerrungenschaft der Goethezeit, ein aus dem Individuum wiedergeborener Okkultismus in den in Frankreich errungenen staatlichen Formen hätte leben können? Stattdessen kamen die Dämonen des Klassenhasses und des Nationalstolzes, Machtimpulse traten an die Stelle der Freiheitsimpulse. Das festländische Europa – von Madrid bis Moskau – wurde von einer Kriegsmaschine überrollt. Und nachher suchten die englischen Geheimgesellschaften das Bedürfnis, das durch die allgemeine Kultur nicht mehr erfüllt werden konnte, abzudecken, wie es Annie Besant charakterisiert hat.

Gerade in einem solchen Augenblick, in dem sich die guten Führermächte der Menschheit zurückziehen, können andere umso wirksamer werden, die sich nicht um der Freiheit des Menschen willen zurückhalten. Auch diese Seite des Geschehens hat Sellin beschrie-ben. Über die Gründe für den Niedergang des freimaurerischen Rosenkreuzertums im 18.Jahrhundert schreibt er äußerst knapp, fast nur andeutend: "Es war für mich als modernen Mystiker sehr lehrreich, diesen eigentümlichen Wandlungen nachzugehen und zu erkennen, dass der Niedergang der rosenkreuzerischen Bewegung im 18. Jahrhundert eine große Ähnlichkeit aufweist mit den Wirren, unter denen das okkulte Leben früherer Zeiten und auch das in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu leiden hatte. Diese Wirren trugen nämlich einen ausgesprochen dämonischen Zug, der aus den bekannten Nachtseiten des menschlichen Wesens heraus nicht allein erklärt werden kann, sondern von niedrigen Kräften einer übersinnlichen Welt verursacht zu sein scheint und durch eine besonders boshafte Raffiniertheit und kaltherzige Niedertracht gekennzeichnet wird. Es wird später Gelegenheit gegeben sein, über diesen Gegenstand noch eingehender zu sprechen."

Auch Rudolf Steiner stellt eine Seite der okkulten Geschichte des 19.Jahrhunderts so dar, daß aufgrund des stark sich geltend machenden Materialismus Christian Rosenkreutz sich für eine Zeit zurückziehen mußte. Er konstatiert 1904, was wir schon bei Betrachtung der gemeinsamen Beweggründe der Okkultisten in Ost und West beobachtet haben, daß es nämlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts notwendig geworden war "in der Menschheit das spirituelle Leben zu wecken als Gegengewicht für die materialistische Weltanschauung, die nicht nur die wissenschaftlichen, sondern auch die religiösen Kreise ergriffen hat, denn die Religionen haben ein ganz materialistisches Gepräge angenommen." Er macht dann weiter darauf aufmerksam, daß sich Esoterik nicht allein äußerlich durch das gedruckte Buch mitteilen lässt, sondern, daß sie angewiesen ist darauf "von Mund zu Ohr“"weitergegeben zu werden. "Dazu aber war notwendig, daß in dem kleinen Kreise des Orients, in dem sich noch eine fortlaufende Strömung erhalten hatte aus den Zeiten eines hochentwickelten spirituellen Lebens im Beginne unserer Wurzelrasse, daß von da die Anregung ausging."

"Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit herein hat es auch in Europa große Weise gegeben; und auch solche Brüderschaften hat es gegeben. Die Rosenkreuzer muß ich da immer wieder erwähnen; aber das materialistische Jahrhundert konnte wenig mehr annehmen von dieser Rosenkreuzergesellschaft. Und so kam es, daß die letzten Rosenkreuzer sich schon im Beginne des 19.Jahrhunderts vereinigt hatten mit den orientalischen Brüdern, von denen dann die Anregungen ausgegangen sind. Es war der europäischen Kultur die spirituelle Kraft verloren gegangen, und die großen Anregungen mußten daher zunächst vom Orient kommen. Daher das Wort: Ex oriente lux."

Rudolf Steiner fasst die Sache allerdings nicht so auf, als ob es die Aufgabe der Gegenwart wäre, die Geheimlehre des nördlichen Buddhismus in der Form zu übernehmen, in der sie von den östlichen Meistern gegeben werden kann. Es habe sich um eine mächtige Anregung gehandelt, doch wären die Formen des nördlichen Buddhismus nicht geeignet für die europäische Kultur. Darauf wird zurückzukommen sein.

Vielleicht ist es gut, sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, daß die Zusammenarbeit zwischen den rosenkreuzerischen und den nordindischen Okkultisten noch älter ist als wir es bislang ins Auge gefasst haben. Roland Edighoffer macht darauf aufmerksam, dass schon am Beginn des 18. Jahrhunderts ein gewisser Samuel Richter unter dem Pseudonym Sincerus Renatus eine Schrift mit dem umfangreichen Titel ‚Die wahrhaffte und vollkommene Beschreibung des philosophischen Steins der Bruderschaft aus dem Orden des Gülden- und Rosenkreutzes denen Filiis Doctrinae zum Besten publiciret.' in Breslau drucken ließ. Edighoffer charakterisiert den Inhalt der Schrift in Hanegraaffs 'Dictionary' wie folgt. Der Autor füge nach Abhandlung des Steines der Weisen eine Reihe von Artikeln hinzu über die Organisation und Durchführung des Ordens. "An ihrer Spitze stand ... ein Imperator auf Lebenszeit. Die Mitglieder konnten, im Unterschied zu denen des ursprünglichen Rosenkreuzes wie es in den Manifesten beschrieben ist, Katholiken sein; aber es war den Brüdern untersagt, nach der religiösen Überzeugung ihrer Mitbrüder zu fragen. Sie durften nicht heiraten, aber es war ihnen erlaubt, Beziehungen zum andern Geschlecht zu pflegen, wenn ihr Begehren zu groß war. Einige der 52 Artikel behandelten die alchemistischen Fähigkeiten der Brüder, ihr Vermögen, den philosophischen Stein zu materialisieren, kostbare Gemmen oder Perlen, wie auch ihre Fähigkeit, sich zu verjüngen und zu erneuern. Sincerus Renatus hebt in seinem Vorwort den göttlichen Charakter der wahren Alchemie hervor, deren Ziel die Veredelung von Mensch und Natur sei". Edighoffer meint mit einiger Sicherheit sagen zu können, es sei „praktisch bewiesen“, daß der Orden seiner Zeit noch nicht existiert habe. Das Wort 'praktisch' sagt mir allerdings, daß es eben nicht bewiesen ist. Nun fügt aber Edighoffer noch eine Bemerkung hinzu, die für uns von besonderem Interesse ist, nämlich: "Darüberhinaus stellte Sincerus Renatus fest, daß die Rosenkreuzer nach Indien gezogen seien, um dort in Frieden zu leben." Das schrieb Renatus sechzig Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648), in dessen Wirren der Rosenkreuzerimpuls vom Anfang des 17. Jahrhun-derts untergegangen war.

Schließlich berichtet schon die Fama Fraterni-tatis, dass auch Christian Rosenkreutz um 1400 herum selbst nach Osten – es ist da die Rede von Damcar im Jemen – gezogen sei, um das Geheimwissen zu erlangen und nach Europa zu bringen. Dann habe er es den europäischen Verhältnissen angepasst und im deutschen Sprachraum an einen kleinen Kreis - die ersten Rosenkreuzer – weitergegeben.

Die Verbindung zu schlagen zu den Weisen des Ostens ist demnach ein Motiv, das von Anfang an zum Wesen des Rosenkreuzertums gehörte. Es ist nachweislich falsch, zu behaupten, Helena Blavatskys Erzählung, die Meister des Rosenkreuzes hätten zu ihrer Zeit, d.h. im 19. Jahrhundert, mit denen des Ostens zusammengewirkt, sei ihre Erfindung. Vielmehr ist die Verbindung zwischen den Rosenkreuzern und den esoterischen Schülern des Buddha ein Motiv, das mindestens seit 1604 vielfach aus dem Strom der europäischen geheimen Traditionen hervortritt. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich und glaubhaft, dass das Mädchen Helena Blavatsky, bevor sie fünfzehn Jahre alt war, aus beiden geistigen Strömungen zentrale Inhalte aufgenommen hatte.

K. Paul Johnsons Überlegung, sie habe bei ihrem jugendlichen Studium der Rosenkreuzerschriften den Gedanken der „unbekannten Oberen“ aufgenommen, und das habe Einfluss gehabt auf ihr Konzept der Meister der ‚Weißen Loge‘, bleibt hingegen eine psychologische Spekulation. Er berücksichtigt auch nicht, dass sie die deutsche Sprache nur sehr unvollkommen aufgenommen hatte. Was auf sie wirkte waren die Bilder. Joscelyn Godwin hält die 1953 vorsichtig von K.Paul Johnson formulierte These für ein zentrales Ergebnis des Buches, er konstatiert 1994 direkt: "Den Mythos der Meister führte H.P.B. ein, indem sie den zeitbedingten Traditionen des Rosenkreuzertums, der Freimaurerei der ‚Strikten Observanz‘ und des Spiritismus folgte ... Wenn die Theorie Johnsons richtig ist, beginnt das ganze Gebäude jener offenbarten oder gechannelten Lehren zu wanken." So werden vorsichtig formulierte Möglichkeiten zu 'Tatsachen'.

Wer glaubt, die Tatsachen sprächen für sich, der vergisst, dass er das nur sagen kann, indem er unausgesprochen Voraussetzungen macht. Wer ohnehin der Überzeugung ist, dass es gar keinen Geist gibt, für den ist damit die Erklärung der Koinzidenz der Aussagen klar: da Madame Blavatsky, was auch immer sie sagt, keine geistigen Erfahrungen haben kann, muss ihr der Gedanke von den Meistern auf einem sinnlichen Wege zugekommen sein. Ich möchte dem gegenüber einen Einwand äußern, von dem ich meine, dass der gewöhnliche Historiker ihn nicht anerkennen wird. Für andere mag er eine gewisse Bedeutung haben. Es ist nämlich so, dass es durch eine solche Argumentation unmöglich wird, dass der historische Materialist durch Erfahrungen zu einer Änderung seiner Meinung kommen könnte. Seine Ansicht erweist sich damit als dogmatisch.

Es ist eine weitverbreitete Eigenschaft von Menschen, die Schwächen der anderen leichter als die eigenen zu bemerken. Das gilt auch für Historiker, die das materialistische Weltbild für das einzig wissenschaftliche halten. Diese haben insofern Recht, als es ohne Zweifel auch Menschen gibt, die eine geistige Wesenswelt nur als 'Lehre' kennen. Aber muss das für alle gelten, die von so etwas sprechen? Wer das behaupten wollte, würde damit den Boden der Erfahrungswissenschaft verlassen. Viele heutige Historiker denken so und haben damit den Boden der Erfahrungswissenschaft verlassen.

Was soll es denn heißen, der Gedanke der 'unbekannten Oberen' habe Einfluss gehabt auf Blavatskys Konzept der Meister der 'Weißen Loge'? Wenn Johnson an eine unbewusste Aneignung des Begriffs der 'unbekannten Oberen', ein Versinken im Unbewussten und Wiederauftauchen in verwandelter Form ohne Bewusstsein des Zusammenhangs denkt, dann ist das hochgradig Spekulative eines solchen Gedankens wohl deutlich. Johnson könnte sich auf keine Zeugnisse berufen. Nicht einmal darauf, dass man von anderen solchen Fällen wisse. Auch in diesen Fällen bleibt die Beobachtungslücke bestehen. Meint Johnson hingegen, sie habe sich des Gedankens der 'unbekannten Oberen' wie eines Elementes eines Ideen-Baukastens bedient und ihn bewußt in veränderter Form – ohne den Ursprung zu nennen – in ihr Gedankengebäude eingefügt, dann ist Johnsons behaupteter "Einfluß" in einer Grauzone zwischen Plagiat und Betrug anzusiedeln. Wenn er das hätte sagen wollen, wäre er sicher der Verpflichtung, dieses ehrenrührige Verhalten nachzuweisen, nachgekommen.

Mit den "östlichen Rosenkreuzern" meinte Helena Blavatsky die Rosenkreuzer, die im Osten mit den buddhistischen Meistern zusammenwirkten. Ihr Weg zu den östlichen Rosenkreuzern war zugleich ihr Weg zu den Schülern Buddhas. Sie suchte beide, fand beide und stand lange unter den Einflüssen beider Richtungen, die damals eng zusammenarbeiteten.

Rolf Speckner. Helena Blavatskis früher Weg zu den östlichen Rosenkreuzern.
Helena Blavatski erfuhr in ihrer Kindheit und Jugend prägende Eindrücke sowohl aus der Begegnung mit hohen Priestern des einzigen in Europa lebenden buddhistischen Volkes wie auch aus einer umfangreichen mitteleuropäisch-rosenkreuzerischen Bibliothek im Hause ihres Onkels. - Text mit Nachweisen.
Rolf Speckner. Helena Blavatskys früher [...]
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