Ansgar, der erste Erzbischof von Hamburg, war eine ungewöhnliche Erscheinung. Rimbert, sein unmittelbarer Schüler und Nachfolger, hat uns seine Biografie vermittelt (Vita Anscarii). Von Kindesbeinen an hat Ansgar geistige Erfahrungen gemacht. Weil Ansgar es so wollte, sind nur wenige davon aufgeschrieben worden. Ansgar war - abgesehen von irischen Mönchen, deren Spuren hier und da wahrnehmbar sind, von denen aber keine schriftlichen Zeugnisse berichten - der erste, der versucht hat, im großen Stil in Skandinavien zu missionieren. Dass er den Auftrag dazu in Corvey empfangen hat, jenem Kloster, das m.E. ursprünglich an den Externsteinen gegründet worden ist, macht ihn mir besonders interessant. Wir wissen wenig über seine Kindheit und Jugend im Kloster Corbie an der Somme, dem Mutterkloster von Korvey. So habe ich versucht, mir vorzustellen, wie es in Corbie zugegangen sein mag, wer ihn unterrichtete und so weiter.
Das Ergebnis war ein kleine Bühnenszene, auch als Lesestück geeignet, die ich mit Freunden auf einer Tagung in Aachen 2015 aufgeführt habe. Als auf der Tagung des 'Forschungskreises Externsteine' ein Vortrag ausfallen mußte, haben wir das kleine Stück ad hoc ebenfalls in das Programm eingefügt.
Alle historischen Tatsachen, die erwähnt werden, sind verbürgt. Amalarius, Radbert und Ansgar waren gleichzeitig in Corbie. Das Gespräch aber ist frei erfunden.
Paschasius Radbertus, 22jährig, und der Knabe Ansgar, 10 jährig, mittags im Scriptorium von Corbie/Somme. Paschasius sitzt und liest im Augustinus. Ansgar nähert sich ihm scheu.
Ansgar: Herr, habt Ihr nicht das Glöcklein zum Essen gehört?
Paschasius antwortet nicht. Ist ganz in das Bild in dem vor ihm aufgeschlagenen Buch versunken.
Ansgar: Herr, das Essen wird bald weggeräumt, Ihr werdet hungrig bleiben müssen. Und wie wollt Ihr mir Schreiben beibringen, wenn Ihr hungrig seid?
Paschasius, langsam zu sich kommend: …Bitte? Was sagtest Du? Gut, dass Du da bist, kleiner Asenspeer: wir können gleich mit dem Unterricht beginnen. Nimm Deine Tafel und komm zu mir an den Tisch! Bis zum E waren wir gekommen.
Hmmm…. Mal einen Fisch, schräg über das Blatt, mal ihn so, dass er von unten an die Wasseroberfläche stößt als wolle er mit seinem Mund atmen. Mal eine schöne Welle über dem Fischmaul. Und nun mal die ausladende Flosse. --- Er ist schön geworden! Und nun verstärke mit einem dicken Strich den Bauch des Fischs, den oberen Bogen der Schwanzflosse, die Seitenflosse und die Welle: siehst Du, das ist ein F. F wie Ffffisch. Kannst Du Dir das F merken? Das F hat den Fisch geschaffen, alles ist aus dem Wort!
Ansgar: Ja, Herr! Wie voller Wunder ist die Welt! Sind das die neuen Runen, von denen der dicke, dicke Koch sprach?
Paschasius: Sprich nie abschätzig von Anderen, kleiner Speer. Wenn Du etwas abschätziges gehört hast – frage Dich, ob Du es wirklich weißt. Wenn Du es nicht sicher weißt, sprich es nicht aus. Wenn Du es sicher weißt, frage Dich, warum Du es aussprechen willst!
Ansgar: Herr, ich weiß es sicher, ich mag ihn sehr und möchte ihn gern umarmen: ich komm aber nicht ruuum…
Paschasius muß lachen, tröstet den Knaben dann aber, indem er ihn an sich zieht.
Paschasius: Nun gut. Also es sind wirklich die neuen Runen. Unser Abt Maurdramnus hat sie vor dreißig Jahren geschaffen, da hab ich noch nicht gelebt. Sieh mal hier: wie die Schrift früher aussah.
Ansgar: Überall sind ja Pflanzen um die Buchstaben ….. und da sitzen auch Tiere in den Pflanzen: eine Eidechse und ein prächtiger Vogel. Und da turnt ja ein Männchen! Das sind aber seltsame Bilder, ganze Wälder, in denen man sich verirren kann.
Paschasius: Und nun sieh dies Blatt!
Ansgar: Herr, die bunten Figuren waren zwar lustig, aber hier ist alles ist so harmonisch, klar und ruhig. Herr, das ist doch schöner. So will ich schreiben lernen.
Amalarius tritt ein
Paschasius: Gut, dann mal noch zwölf Fische und finde das F in ihnen. Du kannst die Schiefertafel nehmen und das Bild immer wieder auslöschen.
Amalarius (für sich): Alles wird mir immer klarer! (Zu Paschasius gewandt) Lieber Bruder Bibliothekar, ich kenne Eure geistliche Waffenkammer noch kaum. Besitzt ihr ein römisches Messformular?
Paschasius: Herr Bischof, welches meint Ihr denn?
Amalarius: Habt ihr etwa mehrere?
Paschasius: Ja sicher. Hier sind zwei ältere, noch im Rollenformat. Und hier zwei neuere. Welches möchtet Ihr denn?
Amalarius : Das ist ja unglaublich! Dass wir in Trier nur drei Exemplare haben – es reicht gerade für den Meßdienst – das mag an der fernen Lage Triers liegen, aber auch In Rom konnte man kein Exemplar für mich auftreiben und hier sind vier Stück vorhanden! Ich brauch sie alle!
Paschasius: Unser verehrter Vater Adalhard bringt immer, wenn er für Kaiser Karl nach Italien muss, ein paar Bücher mit. Er nennt sie „Blumen des Südens“ und gibt wohl auch viel Gold unserer Cobier Münze dafür her. Bruder Schuster hat seine liebe Mühe, genug gegerbtes Kalbsleder aufzutreiben. Herr, Ihr könnt sie leihen, solange Ihr hier seid – nur mitnehmen dürft ihr sie nicht. – Aber sagt mir doch Herr, wozu braucht Ihr denn vier gleiche Bücher?
Amalarius: Sie sind nicht gleich, das ist es ja gerade! Sie unterscheiden sich – und das nicht unerheblich! Neulich hat Karl eine Synode einberufen, die meisten Bischöfe des Reiches waren da: aus Italien und der Gascogne, aus Fulda und Mainz, aus Köln, Bremen und Innsbruck und Passau waren sie nach Frankfurt gekommen. Aus Katalonien war ein Sternenweiser dabei. – Und seit Karl so viel Freude an meiner Taufformel gefunden hat, dass er sie den anderen Bischöfen als vorbildlich empfohlen hat, darf ich an den Reichssynoden auch teilnehmen. Der Kaiser sitzt immer mitten unter uns. Er ist sehr aufmerksam und hat Ohren, die reichen ins Unendliche.
Paschasius: So seid Ihr Bischof Amalarius? Wir haben Karls Sendbrief vor wenigen Wochen auch erhalten. Er wurde bei Abendessen verlesen. Ihr tauft die Heiden Öl auf der Brust und Salz im Mund. Ihr tauft sie zu Ostern, damit sie, wenn sie in das Element des Wassers getaucht werden, „mitbegraben werden mit Christus“, wie Paulus sagt. Herr Bischof, dass ist schön und wahr und muß also gut sein. Verzeiht, dass ich frage, aber niemand konnte es mir sagen, wer Ihr seid. – Mögt Ihr noch weiter erzählen von der Synode?
Ansgar: Herr, ich bin fertig!
Paschasius: Gut, so höre, was Bischof Amalarius uns vom Hof erzählt.
Amalarius: Die Synode war einberufen worden, weil fränkische Pilger italienische Priester beschimpft hatten, weil deren Worte in der Messe anders lauteten als die ihren. Sie schimpften einander „Heiden!“ und „Sünder!“ und wurden schließlich sogar handgreiflich. Der Kaiser berief die ersten Bischöfe des Reiches und sie mussten erkennen, dass die Texte in den verschiedenen Gebieten des Reiches tatsächlich voneinander abweichen. Karl wünschte, dass wir uns auf die richtige Version verständigen. Nun kam es zu einem Schlagabtausch. Der Erzbischof von Venedig, der von Lyon, der von Mainz waren der Überzeugung, ihre Version sei die ursprüngliche – und auch die anderen traten für ihre Fassung ein. Das ging so zwei Tage und einige sahen ein, dass sie unvollständige Texte hatten, aber andere beharrten auf den Vorzügen ihrer Messformulare. Schließlich stand der Kaiser auf und sagte: „Wenn man reines Wasser aus einem Fluss schöpfen will, sucht man dann die Mündung auf oder den Quell?“
Ansgar: Oh, wie schön. Das ist ja so klar wie die neuen Runen, äh, ich meine Buchstaben.
Amalarius: Du meinst wohl Maurdramnus Schrift? Ja wirklich: mit Karls Worten war klar, was zu tun war. – Karl ist zwar kein Gelehrter, er soll erst spät Lesen und Schreiben gelernt haben, aber er ist auf eine erstaunliche und rätselhafte Art weise. Ein Hofdichter hat ihn sogar einmal den „Leuchtturm Europas“ genannt. Es ist zehn Jahre her - in einer Dichtung über die Errichtung der Aachener Pfalz und den Reichstag in Paderborn 799 behauptete er sogar, Karl kenne alle geheimen Wege der Seele. Wollte er ihm schmeicheln? Oder wusste er mehr als wir? Ich habe seinen Namen vergessen.
Wir lernen jedenfalls immer von Karl. Er hat mir den Auftrag gegeben, zu den Quellen unserer Liturgie zu reisen, dahin, wo sie hoffentlich noch ihre ursprüngliche Reinheit bewahrt hat. Ich werde nach Italien reiten und gemeinsam mit Peter, dem Abt von Nonantola, mich von Brindisi nach Byzanz einschiffen. Wir haben einen Brief an Kaiser Michael mit und hoffen, dass er uns gnädig empfängt und wir die ursprüngliche Messe, die uns Christus enthüllt hat, rein den Römern und Franken wieder zurückbringen können.
Paschasius: Sprecht Ihr denn Griechisch?
Amalarius: Wir Schüler haben bei Alkuin Sternkunde gelernt. [Zu Ansgar gewandt:] Obwohl ich schon zwanzig war, kam ich mir in Tours, wenn Alkuin eintrat, immer wie ein Knabe vor! [Wieder zu Paschasius:] Er hat ein griechisches Lehrbuch zu Grunde gelegt, das ein Sternkundiger am Hof Alexanders in Pella geschrieben haben soll. Aratos hat es in griechische Verse gebracht, damit man es besser lernen kann. Alkuin hat eine Übersetzung, die auch im Skriptorium vervielfältigt und im Reich verbreitet wurde. Aber ich wollte gern den griechischen Text lesen. Unter seinen Schülern war damals der Grieche Gregorius, der mir die Sprache und die weichen Schriftzeichen beigebracht hat.
Ansgar: Gibt es denn noch viele andere Runen?
Paschasius: Ja, aber wir nennen sie nicht Runen, wir nennen sie Buch-Staben.
Ansgar: Buch-Staben? Mein Großvater erzählte von den Los-Orakeln, bei denen man Buchenstäbchen so auf den Boden warf, dass sich einzelne Runen ergaben: die nannte er Buch-Staben. Sind Buchstaben nicht auch Runen? Raunen die Fische nicht noch im ffffff ? Sie schwimen doch in der Form?
Paschasius: Ja, aber wir nennen sie Buch-Staben. Merk es Dir!
Amalarius: Die Liturgie ist das Wichtigste, was wir haben. Was nützt uns ein großes irdisches Reich, wenn wir die Ewigkeit darüber verlieren? Wir müssen die rechte Form des Ritus unbedingt wiedergewinnen.
Paschasius: Und der Höhepunkt der Messe, die Wandlung von Brot und Wein in seinen Leib und sein Blut scheint mir zugleich das größte Rätsel, das uns aufgegeben ist. Meine Augen nehmen keine Änderung wahr, aber meine Seele erlebt die stärkende Kraft der Substanzen.
Amalarius: Du liest Augustinus? Weißt Du, was Augustinus über das Sakrament gesagt hat? „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum.“
Ansgar: Was heißt das?
Amalarius: Es tritt das Wort an das Element heran und es geschieht das Sacrament.
Ansgar schüttelt verwirrt den Kopf.
Amalarius: Weil in unserem Wort das Wort leben kann, kann das Element von ihm ergriffen und verwandelt werden.
Ansgar: Wie bei meinem Fisch!
Amalarius: Was hast Du gesagt?
Ansgar: Wie das Fffff den Fisch bildet, so bildet das Wort im Wort des Priesters das Mehl und den Wein um. Und der Engel hilft dabei.
Amalarius: Woher weißt Du das?
Ansgar: Ich hab es selbst gesehen!
Paschasius: Der Junge sieht vieles, was andere nicht sehen, Herr Bischof. Gott hat ihn mit dem zweiten Gesicht ausgestattet. Er sieht in dieser und in jener Welt. Er wurde dem Kloster mit fünf Jahren von seinem Vater übergeben. Er kommt aus Flandern.
Amalar: Wie heißt Du denn, mein Junge?
Ansgar: Ansgar nennt man mich, den Asen-Speer. Meine sächsische Mutter – sie hatte so schöne rote Haare - starb als ich fünf Jahre alt war. Mein fränkischer Vater ritt im Kampf für den Kaiser und schickte mich hierher in die Klosterschule. Mein Großvater rief noch den Odin an und die Ostara. Vor vier Sommern kam ich hier her. Ich habe große Sehnsucht nach meiner Mutter, aber manchmal sehe ich sie im Gefolge der Maria! Das gibt mir Trost.
Amalarius: Der Großvater mag gehofft haben, Ansgar, daß Du ein tapferer Speer für die Asen wirst, aber Du könntest den Asen selbst ein tödlicher Speer werden!
Ansgar: Ich will niemanden töten! Die Asen haben sich zurückgezogen, hat Großvater der Mutter erzählt. Er wußte, dass eine neue Zeit angebrochen war, doch er konnte nicht verstehen, daß die neue Zeit, das Licht nach dem Untergang der Götter, mit klirrenden Waffen kam, mit Steuern und Frondienst, und mit einer Gottesverehrung in einer Sprache die niemand versteht… . So kämpfte er gegen Karl.
Aber meine Mutter Hrothswitha liebte einen Franken – und lernte durch ihn den Erlöser lieben. Da floh der Großvater nach Nordelbien, ja weiter hinauf zu den Dänen. Mutter hat nie erfahren, was aus ihm geworden ist. Sie betete jeden Tag für seine Seele. Sie hat mich das Beten gelehrt. Und wenn ich bete, ist es mir oft, als knie sie neben mir.
Amalarius: Ich komme gerade aus Nordelbien von der Hammaburg, dort hab ich den ersten Priester nördlich der Elbe eingesetzt: Heridag. Er soll den Heidenleuten das Licht und die Wärme Christi bringen.
Ansgar: Sie haben bisher nur das Blitzen der Klingen und die Hitze des vergossenen Blutes kennengelernt.
Paschasius: Beruhige Dich, Ansgar! Wala, der Halbbruder unseres Antonius, [zu Amalar gewandt:] ich meine unseres Abts Adalhard, hat selbst eine Mutter aus sächsischem Adel – wie Du. Wala liebt die Sachsen und sie lieben ihn. Sie nennen ihn ihren Dux, ihren Herzog. Wala verhandelt mit seiner Familie, weil er an dem Ort, an dem man früher die Asen aufgesucht hat, ein Tochterkloster von Corbie gründen möchte. Von dort aus, vom Tor zu Asgard, soll die Botschaft des neuen Christuslichtes das ganze weite Land unter unter dem Odinswagen erhellen!
Ansgar: Wie schön!
Amalarius: Du meinst das Land unter dem großen Bären?
Paschasius: Ja, aber Ansgar hat noch als Fünfjähriger mit seinem Großvater unter dem Sternenhimmel gesessen. Er kennt die Sterne noch unter den alten Namen! Ich kenne ihn nicht so gut, dass ich ihm die richtigen Namen lehren könnte.
Amalarius [zu Ansgar]: Du kennst den Sternenhimmel schon?
Ansgar: Herr, jedes Kind unter dem nördlichen Himmel kennt die Sterne. Und auch hier kennt jeder Landmann und Schiffer die Sterne besser als ihr Mönche. Ihr habt den Blick vom Himmel abgewendet und sucht den Zugang zu ihm in eurem Inneren. Aber es ist ja derselbe Himmel, der uns im Herzen aufblitzt und aus den Sternen entgegen leuchtet.
Amalarius: Gebe Gott, dass Du einmal dem Norden das Licht Christi bringen darfst und dass meine Augen es noch sehen werden. – Nimm diesen Goldbrakteaten mit einem Reiter, der einen Speer über seinem Haupt trägt. Manche sagen, es sei Odin. Aber vielleicht ist es auch ein Edler wie dein Großvater.
Ansgar: Danke Herr, ich würde ihn gern annehmen, doch dürfen wir, wie ihr wisst, keinen privaten Geldbesitz haben.
Paschasius: Niemand kennt diese Münze hier. Wir betrachten es als ein kostbares Bild Deines Großvaters, dann kannst Du es behalten. Du mußt mir aber versprechen, es nie als Münze zu verwenden!
Amalarius: Ich muss nun an die Arbeit gehen, denn ich habe nur vier Tage Zeit. Dann muß ich weiter nach Italien.
Paschasius: Gott behüte Euch, Herr Bischof.
Amalarius geht mit den Büchern ab.
Ansgar: Ich habe den dicken Koch gebeten, ob er uns etwas aufbewahrt und er hat bei St. Brigide geschworen, er wolle uns nicht vergessen.
Paschasius: Dann sollten wir ihn jetzt aufsuchen, ehe er die Küche schliesst.
Sie entfernen sich. Im Abgehen sagt
Ansgar: Wer ist die Heilige Brigide, kannst Du mir von ihr erzählen?....