"Pythagoras". Von Johann Baptist Kerning.

Der Name Pythagoras ist auf allen Schulen bekannt, sein Leben aber und seine Lehre sind der Welt ein Geheimnis, so sehr sie sich abmüht, den Lehrbegriff seines Zahlensystems zu ergründen.

Es ist auch hier die Absicht nicht, die ganze Tiefe seines Lehrgebäudes zu untersuchen, sondern nur aufmerksam auf einen Mann zu machen, der nach allem, was wir noch von ihm wissen, die größte Gründlichkeit in der Kunst besaß.

Als Beweis, wie hoch er in seiner Sphäre stand, mag der Umstand dienen, daß sein Name die Grundelemente aller seiner Erkenntnisse und Handlungen enthält: Er wurde, was er war, durch ihn, durch sein sich selbst zur Aufgabe gesetztes Wort.

Um hierüber eine deutlichere Ansicht zu geben, wollen wir eine Skizze der Prüfungen, denen er die Suchenden unterwarf, und die Enthüllung einiger Grundsymbole, die er bei seinen Aufnahmen gebrauchte, hier anführen.

 

„Eines Tages kam der Pförtner zu ihm [Pythagoras] und sprach: Vor den Toren steht ein Edler von Syrakus und meldet sich um Aufnahme in unsern Orden.

Pythagoras: Führe ihn zu dem Aufseher, daß er ihn über die Beweggründe seines Wunsches prüfe.

Pförtner: Ich wollte das, allein der Suchende meint, als Edler habe er ein Vorrecht, gleich vor dich geführt zu werden.

Pythagoras: So führe ihn her.

Der Pförtner ging und brachte den Fremden.

Pythagoras hatte sich in die Mitte des Zimmers gestellt und betrachtete ihn vom Scheitel bis zur Zehe.

Es herrschte einige Sekunden lang Stille. Als der Syrakusaner Miene machte, dieses Stillschweigen zu brechen, frug

Pythagoras: Was suchst du hier?

Edler: Pythagoras.

Pythagoras: Suchst du den Namen oder den Mann?

Edler: Ich suche den Mann, denn den Namen kenne ich schon.

Pythagoras: Wenn das ist, so hast du Alles, was du wünschest. Wer den Namen kennt, kennt auch den Mann, weil dieser aus jenem hervorgeht.

Edler: Daß ich nicht wüßte. Der Name gehört dem Manne, aber nicht der Mann dem Namen.

Pythagoras: Die Verschiedenheit solcher Ansichten trennt uns. Entferne diese Scheidewand, die zwischen uns steht, dann sollst du Pythagoras kennen lernen.

Er winkte. Der Aufseher, begleitet von einigen Brüdern trat in das Zimmer, jener aber entfernte sich.

Der Fremde sah betroffen um sich her und frug: Was wollt ihr hier?

Aufseher: Dich zu Pythagoras führen.

Edler: So war jener nicht Pythagoras?

Aufseher: Er war es, wenn du richtige Augen hattest. Da dir aber noch die eigentliche Sehkraft mangelt, so sahst du nur sein Kleid. Darum folge uns, damit dein Wunsch vollkommen befriedigt werde.

 

Sie führten ihn in ein rundes Gemach, das von einer einzigen Öffnung erleuchtet wurde. In der Mitte desselben stand eine runde Säule, auf deren Lichtseite der Name P gezeichnet war. Der Aufseher sprach, indem er auf die Säule wies:

 

Dies ist Pythagoras, wie du ihn gesehen: das Kleid, die Rinde nur, erblicken Deine Augen. Auf diesen Außenteilen steht das P geschrieben, die andern Buchstaben sind in seinem Innern. Suche sie dort in ihrer Kraft, dann kennst du Mann und Namen.

 

Sie machten Miene ihn fortzuführen. Er aber sprach:

 

Wie! Das wäre Alles, was ich von euch erführe? Ich habe erwartet, ihr würdet mich einweihen in eure Geheimnisse, mich auf Proben stellen, und soll nun fort ohne Anleitung für die Zukunft!

 

Der Aufseher hieß ihn warten und eilte fort zum Meister. Bald kam er wieder und überreichte dem Ungeduldigen eine Münze, auf welchem die im Zimmer stehende Säule nebst der Inschrift geprägt war, und sprach: Dies sendet Dir Pythagoras zum Angedenken an diese Stunde. Wenn es dein Ernst bleibt, ihn kennenzulernen, so betrachte es täglich und komm in einem Jahre wieder.

 

Man führte ihn vor die Pforte und überließ ihn sich selbst und seinen Betrachtungen.

 

Zu Hause angekommen überlegte er die Ereignisse des Tages. Ich habe Sonderbares erwartet, sagte er für sich, aber so hätte ich es nicht gedacht. Jene Männer betrugen sich, als kämen sie aus andern Welten, um mich, wenn ich geschmeidig wäre, auch unter sich aufzunehmen. Und er, der berühmte Meister, von dem man soviel Wunderbares erzählt, er setzt seinen Namen als Scheidewand zwischen mich und ihn, und will sich erst hinter dieser enthüllen.

 

Er betrachtete seine Münze von allen Seiten, in der Hoffnung irgendeine geheime Inschrift zu entdecken, fand aber nichts. Die Pythagoräer, sprach er zu sich, sind entweder die feinsten Betrüger, oder wissen Dinge, von denen die gewöhnliche Gelehrsamkeit keine Spur hat. Ich will sie auf die Probe stellen. Werde ich betrogen, so bin ich um eine Erfahrung reicher; ist etwas Gutes dahinter, so wäre es strafbar, nicht den Versuch gemacht zu haben.

 

Kaum war das Jahr vorüber, so kam er wieder. An der Pforte zeigte er seine Münze und verlangte zu dem Meister. In wenig Augenblicken wurde sein Wunsch erfüllt. Pythagoras stand, wie vor einem Jahr, wieder in der Mitte desselben Zimmers, und frug ihn, wie das erste mal:

Was suchst du hier?

Edler: Pythagoras.

Pythagoras: Seine Person, oder den Namen?

Edler: Diesmal suche ich seine Erkenntnisse.

Pythagoras: Auf welchen Wegen?

Edler: Auf denen, die er gegangen.

Pythagoras: Kannst du meine Wege gehen?

Edler: Zeige sie mir.

Pythagoras: Meine Wege sind mein Name.

Edler: Das fasse ich nicht.

Pythagoras: Wenn du es fassen könntest, so wärest Du am Ziele.

Edler: Enthülle mir dieses Rätsel.

Pythagoras: Gebiete der Natur, gebiete den Göttern, sie nur vermögen es.

Edler: Wie, du stellst dich den Göttern gleich?

Pythagoras: Nicht mich, den Namen. Auch ihn nicht, denn er ist nur der Schlüssel zum Tempel der Ewigkeit.

Edler: Wo ist dieser Tempel?

Pythagoras: Der Name hat seine Wurzeln in ihm; suche sie auf, dann bist du im Tempel.

Er gab ein Zeichen. Der Aufseher mit mehreren Brüdern erschien. Nun fuhr er fort:

Vor diesen Zeugen frage ich dich: bist du entschlossen in den Tempel zu dringen?

Edler: Ja.

Pythagoras: So führt ihn durch die Pforte des Mittags, des Abends und der Mitternacht.

 

Man führte ihn fort. Standhaft durchwandelte er Feuer, Wasser und Mitternachts-Stürme. Als er wieder vor Pythagoras erschien, sprach dieser: du hast Stärke gezeigt in leiblichem Ungemach, du sollst dafür belohnt werden. Laßt ihn den Eid der Verschwiegenheit bei den vier wirksamen Kräften des Lebens schwören und enthüllet ihm das zweite Licht in der Säule.

Nun fand eine förmliche Aufnahme statt. Man zeigte ihm mehrere Symbole, Stellungen und Zeichen. Zuletzt führte man ihn wieder vor eine Säule, der ersten ganz ähnlich. Er wurde ermahnt, aufmerksam zu sein. Mit einem Mal öffnete sich das P nach unten und oben und ließ in eine Art Gewölbe schauen, was mit einem hellblinkenden T erleuchtet war. Man frug ihn, ob er erkenne, was er sehe? Er bejahte es und die Oeffnung schloß sich wieder.

Du hast das zweite Licht auf dem Wege nach dem Tempel gesehen; lerne es in dir selbst erkennen, übe es, damit du reif werdest, das Allerinnerste zu betreten. Von jetzt an bist du unser, an uns mit Lebensbanden geknüpft, werde nicht ungetreu deinen Verpflichtungen, und die ewige Wahrheit wird dir den Lohn dafür reichen.

 

Der Aufgenommene war ermüdet und ergriffen von den Eindrücken dieses Tages und sehnte sich nach Hause, um sich zu sammeln. Er gewann lange die Ruhe nicht, die zum gehörigen Nachdenken erforderlich ist, und doch war er entschlossen, mit sich selbst im Reinen zu sein, ehe er mit seinen Aufgaben zu einer ernstlichen Uebung schreite. Endlich fing er an, das P und das T von allen Seiten zu betrachten; doch, wenn er auf einer sichern Spur sich deuchte, so trat wieder ein Heer von Zweifeln gegen ihn auf.

 

In einer solchen Stimmung kam er einmal zum Aufseher. Dieser merkte die Grillen, die in ihm schwirrten, und ließ sich mit ihm in ein Gespräch über innere Erkenntnis und geistige Freiheit ein, das auf folgende Art schloß:

Edler: Warum nennt ihr die zwei ersten Mitlaute im Namen des Meisters, Lichter?

Aufseher: Weil sie es sind.

Edler: Ich kann sie nicht als Lichter, sondern nur als Mittel, solche hervorzubringen, erkennen. Buchstaben sind zufällige Teile von Worten und Ausdrücken, in denen dann Begriffe, das heißt, Gedanken enthalten sind. 

Aufseher: Wenn wir die Sprache nur als ein Gedanken-Register betrachten, so magst du recht haben. Wenn sie aber mehr ist, als das, wenn in ihren Elementen, das heißt, in den Buchstaben, die eigentliche Kraft enthalten ist, die, wie alle Urkräfte, in ihrer Einfachheit am sichersten wirken, und das Verhältnis kund tun, in welchem sie unter sich selbst und zu andern Dingen stehen, so sind sie Wesenheiten, die wie Feuer und Wasser unabänderlich und unvertilgbar sind.

 

Edler: Dieses ist es, was mir unbegreiflich scheint. Buchstaben sollen mehr Kräfte haben als Begriffe!

 

Aufseher: Weil sie elementarisch einfach sind. In diesem Stein ist Feuer genug, ein Haus anzuzünden, mit Erde und Wasser zusammengepicht, ist es unwirksam. Doch gedulde dich, es wird dir noch so klar werden, als du weißt, daß du siehst.

 

Edler: Gib mir nur einen Anfang dieser Kraftsprache.

Aufseher: Kannst du P denken?

Edler: O ja.

Aufseher: Wo oder womit denkst du es?

Edler: Halt! Ich muß es belauschen. Mit den Lippen.

Aufseher: Und das T ?

Edler: Mit der Zunge.

Aufseher: Kannst du das P mit der Zunge, oder das T mit den Lippen denken?

Edler: Nein, das ist mir unmöglich.

Aufseher: Kannst du das P im Leibe denken?

Edler: Nein.

Aufseher: Aber auf dem Leibe?

Edler: Wahrhaftig, zwar ganz leise, aber doch deutlich.

Aufseher: Und das T ?

Edler: Fühle ich im Innern des Leibes.

Aufseher:Also fühlst du doch schon Elementarkräfte der Sprache. Verfolge diese Spuren und du wirst finden, daß in diesen Elementen mehr enthalten ist, als die Phantasie sich träumen und die geübteste Denkkraft sich vorstellen kann. Die Gottheit kann zwar, vermöge ihrer Weisheit, nach unsern Begriffen sich richten, aber am reinsten gibt sie sich kund in den elementarischen Eigenschaften der Sprachen, die unter allen Nationen, zu allen Zeiten, in allen Sphären, ja für die ganze Ewigkeit dieselben bleiben.

Edler: Du öffnest mir eine neue Welt, in der mir schwindelt. Doch habe Geduld! Ich will mir Mühe geben, in das Wesen eurer Lehre einzudringen.


Und er hielt Wort. Kaum war ein Jahr vorüber, so wurde er fähig erfunden, das dritte Licht zu schauen. Pythagoras übernahm selbst den Vorsitz bei dieser Handlung. Als beim Schluß die Säule geöffnet wurde, das P sich teilte, und in dem Gewölbe, wo das T schimmerte, noch eine Öffnung sich zeigte, in welchem das G gleich dem Morgenstern leuchtete, sprach er:

 

Dort ist der Mittelpunkt. Dort ist die Kraft, in welcher der Schöpfer sein höchstes Ziel erreichte, indem er das Geschöpf in übereinstimmender Erkenntnis mit sich selber verband und den Menschen der Unsterblichkeit fähig machte. Im Namen ist das Leben, nicht in wandelbaren Stoffen, darum halte fest an ihm, damit wir durch ihn vereinigt bleiben in Erkenntnis und Liebe für Zeit und Ewigkeit.

Pythagoras nahm sich jetzt unmittelbar des neuen Bruders an. Er enthüllte ihm bald die zwei wirksamen Lichter R und S; machte ihn bekannt mit dem System seiner Naturzahlen und öffnete ihm dadurch die vier Quellen des Lebens, die ewig aus dem Urstrom fließen.“

 

"Pythagoras". Von Johann Baptist Kerning.
In der Erzählung 'Pythagoras' macht Kerning auf die gestaltenden Kräfte aufmerksam, mit denen wir die Konsonanten hervorbringen. Diese spiegeln die Weltenkräfte wieder, die als Weltenwort schöpferisch in der Welt tätig sind. Damit wird die Sprache ein Weg zum "Wort".
Pythagoras von J.B.Kerning.pdf
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© Rolf Speckner