Einige Funde im Vreedearchiv in Den Haag
Ein Aufsatz über Elisabeth Vreede in der Zeitschrift 'Die Drei', Dezember 2019, ist die Grundlage dieser erweiterten Ausführungen zum gleichen Thema. Der Aufsatz macht deutlich, welch hervorragende Rolle Rudolf Steiners F.M. oder Michaeldienst in ihrem Leben gespielt hat. Frau Vreede wird noch nicht in ihrer wahren Bedeutung gesehen, denn 1921 empfing sie auf Anordnung von Christian Rosenkreuz ein "Bijoux", das auch heute noch auf manchen Betrachter eine tiefe Faszination ausübt und ihm viel über sie erzählt.
Abb.1 Elisabeth Vreede auf einem gemälde von Margarita Woloschina, entstanden nach Januar 1922. Das Bild hängt im Vreede-Huis der Antroposofisk Nederlands Vereniging in Den Haag.
Elisabeth Vreede war von Rudolf Steiner zur Leiterin der Mathematisch-Astronomischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft bestimmt worden.
Abb.2 Das goldene Anhängsel, das Elisabeth Vreede 1922 bekam und das sie auch auf dem Porträt trägt. Man beachte auch die Kette, die aus elliptischen und lemniskaten-förmigen Ketten-gliedern besteht.
Anfang März dieses Jahres hielt ich mich für drei Tage im Vreede-Archiv in Den Haag auf (Abb. 3). Ich war auf der Suche nach einem eventuellen Briefwechsel zwischen Dr. Elisabeth Vreede und Elise Wolfram. Frau Wolfram, deren Biografie (1864-1942) ich weitgehend abgeschlossen habe, hat während
ihres ganzen Lebens ein lebhaftes Interesse am Sternenhimmel gehabt, das sich z.B. in ihrem beharrlichen Fragen nach den eurythmischen Bewegungen und Gesten der Planeten und Tierkreiswesen, in ihrer Bitte um Rudolf Steiners Zyklus ‚Christus und die geistige Welt‘ sowie in ihrem letzten Werk ‚Fixsternhimmel und Menschheit‘ (1940) zeigt. Es war naheliegend, einen Briefwechsel mit der Leiterin der Astronomischen Sektion Dr. Elisabeth Vreede für möglich, ja wahrscheinlich zu halten. Nichts derartiges habe ich gefunden. Doch geben die Fülle des Materials und der bisherige Stand der Katalogisierung Hoffnung, dass noch etwas zu finden sein wird, denn in drei Tagen kann man nur einen kleinen Teil des Materials durchsehen.
Statt dessen traten mir in ungewöhnlicher Weise und Dichte andere Materialien vor Augen. Auf dem Tisch der Bibliothekarin Silvia Rigters lag ein Großfoto (DIN A 3) von einem Schmuckstück, das eindeutig in einem anthroposophischen Stil gehalten war. Es war ein Foto des Anhängers, den Dr.Vreede oft getragen hat, auch auf dem Portrait in der Eingangshalle des Vreede-Huis, das Margarita Woloschina angefertigt hat. (Abb.1) Ich durfte das Bild des Schmuckstücks fotographieren. [Abb.2] Das Schmuckstück befindet sich heute in Privatbesitz.
Frau Rigters brachte mir dann den ersten Kasten. Darin lag obenauf ein Heft mit 154 Seiten (Umfang 22 x 14,8 cm), dessen Inhalt aus Vortragsnotizen aus der Esoterischen Schule (E.S.) und aus Rudolf Steiners Misraim-Maurerei (F.M.) besteht. In diesem Heft sind die Stunden der E.S. fein säuberlich von denen der F.M. getrennt. Es handelt sich um 27 Stunden der E.S. zwischen März 1911 und Oktober 1913 sowie 15 Ansprachen Abb.3. Vreede-Huis , Riouwstraat 1,
(sog. „Baustücke“) im Rahmen der F.M. 2585 GP Den Haag, Niederlande.
Da in der Gesamtausgabe bisher keine oder
keine als solche gekennzeichnete „Baustücke“
veröffentlicht sind, sollen sie etwas genauer aufgelistet werden. Die Arbeiten haben danach in Berlin (28.10.1911, 17.12.1911,Februar 1913), in Hannover undatiert, in Köln (9.5.1912, 11.-12.5.1913 drei Arbeiten in drei Graden), Basel (24.-25.9.1912 im 1. und 3.Grad), in München (1912 drei Arbeiten im 1., 2.und 3.Grad), in Stuttgart (Mai 1913 im 1.Grad) sowie an einem nicht genannten Ort (o.D. im 3.Grad). Da die Daten der E.S.-Stunden nicht in der Reihenfolge im Heft eingetragen sind wie sie gehalten wurden, handelt es sich um eine nachträgliche Zusammenstellung. Bei der ersten eingetragenen Esoterischen Stunde steht ausdrücklich „door Lili opgeteekend“, d.h. „durch Lili aufgezeichnet“. Alle esoterischen Stunden und F.M.-„Baustücke“ in diesem Heft sind ins Holländische übertragen. Da der sonstige Inhalt dieses Kastens aus einem Briefwechsel mit „Lili“ Vreedes Freundin Adelyde Content besteht, dürfte es sich um Aufzeichnungen handeln, die Elisabeth Vreede für sie gemacht hat, oder die Adelyde Content sich bei Dr. Vreede abgeschrieben hat. Es gibt im Archiv in Den Haag viele weitere Aufzeichnungen von E.S. Stunden, Aufzeichnungen, die Dr. Vreede selbst angefertigt hat, und solche, die sie systematisch gesammelt hat. Mit ihrer Abberufung als Vorstand war sie automatisch auch aus der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen - denn die Vorstandsmitglieder waren nicht Mitglieder der Gesellschasft. Sie lebte bis zu ihrem Tode in ihrem Privathaus in Arlesheim. Das von ihr geschaffene Archiv, von dem sie einen Teil wohl mitnehmen konnte, geriet in Vergessenheit.
Das Heft zeigt, dass F.M.-Logenarbeiten in den ersten drei Graden an verschiedenen Orten stattgefunden haben. Für Berlin, Hannover, Köln, Basel, München und Stuttgart sind sie damit dokumentiert. Aus Erzählungen Dr.Vreedes, die Daniel van Bemmelen aufgezeichnet hat, geht hervor, „wie Dr.Steiner in dem Hause ihrer Eltern esoterische Stunden hielt. Die Familie Vreede wohnte im Haag auf der ‚Laan van Meerdervoort‘. Aus dem Fenster, worin Dr.Steiner redete, sah man auf den Park Sorgvliet. Dort war der Friedenspalast noch nicht gebaut, denn das geschah erst 1912. Auf dem, Platz war zuvor ein Gartenhäuschen, in dem die Hochgrade der Freimaurer ihre Zusammenkünfte hielten. Dr.Steiner erzählte, daß im 18.Jahrhundert der Graf von St. Germain (der wiederinkarnierte Christian Rosenkreutz) dabei gewesen war, als er in Holland weilte, und betonte die Bedeutung dieser Tatsache für seine Arbeit im Haus Vreede.“
Abb. 4 Der Park Sorghvliet in Den Haag: Amtshaus und Parnassushügel.
Rudolf Steiner führte aber auch esoterische Arbeiten im Hause Vreede in Den Haag durch. „In diesen Stunden wurden auch kultische Feiern abgehalten, ähnlich denjenigen der Freimaurer. Dafür benötigte Dr.Steiner das Tableau, d.i. ein Teppich mit symbolischen Vorstellungen, u.a. den Säulen Jachin und Boas. Elisabeth Vreede mußte dieses Tableau aus der Freimaurerloge holen. Sie bekam zu diesem Zweck den Ausweis von Dr.Steiner, dass er berechtigt war, Freimaurerkulte zu halten. Später erzählte uns Elisabeth Vreede ausführlich über den Inhalt dieser kultischen Feier und über die Erklärung der Symbole.“ [1] Elisabeth Vreede ist also sehr früh, nämlich zwischen 1903 und 1907 mit den F.M.-Logenarbeiten vertraut gemacht worden und wie selbstverständlich in sie hineingewachsen. Als Elisabeth Vreede Rudolf Steiner 1903 zuerst begegnet ist, war sie 24 Jahre alt. Van Bemmelen schreibt, dass Rudolf Steiner sich noch an das grüne Kleid erinnern konnte, das Elisabeth Vreede 1903 getragen hatte und schließt die Bemerkungen über die Esoterischen Stunden und Logenarbeiten im Hause Vreede mit den Worten ab: „Von dieser alten Zeit konnte sie öfters erzählen…“. Von dem Hause aus konnte man in den Park von Sorghvliet hinübersehen, in dem damals noch ein kleines älteres Gebäude zu sehen war, in dem die Freimaurer unter der Anleitung von dem Grafen von Saint-Germain gearbeitet haben. Für Rudolf Steiner war es bedeutsam, dass sie unweit dieser Stätte arbeiten konnten.
Das Haus, in dem Saint-Germai gearbeitet hat, musste dem Vredespaleis ("Friedenspalast") weichen, der zwischen 1907 und 1913 Im Park Sorghvliet errichtet wurde. Der amerikanische Industrielle und Mäzen Andrew Carnegie finanzierte das Gebäude in der Hauptsache. Ende August 1913 wurde das Gebäude eingeweiht. Weniger als ein Jahr später brach der erste Weltkrieg aus.
In der abgebildeten Tasche fanden sich neben einem hölzernen Hammer, bei dem die Tauform besonders hervorgehoben ist [Abb.6-7]
und einer Reihe von kleinen Abzeichen für die höheren Grade [Abb.8-9]
vor allem drei Schurze und zwei Schärpen.
Zwei Schurze gehören zum 66.Grad der Memphis-Misraim-Maurerei. [Abb.10 - 13] Der hellblaue dreieckige Schurz ist die Rückseite der dreieckigen Seite mit dem beigefarbenen Rand. Da es sich um zwei Schurze in einer Mappe handelt, die auch in ähnlich gutem Zustand sind, dürfte es sich um die Schurze zweier Menschen handeln, die gewöhnt waren gemeinsam zur freimaurerischen Arbeit zu gehen.
Es ist nicht bekannt, dass Elisabeth Vreede in Dornach mit einem Menschen in einer derartigen häuslichen Gemeinschaft gelebt hat, dass sie regelmäßig gemeinsam mit ihm zur freimaurerischen Logenarbeit ging. Ich nehme daher an, dass es sich um die Schurze ihrer Eltern handelt, die am Ende ihres Lebens nach Dornach in das Haus Lily Vreedes gezogen sind: Hendrik Vreede (1847-1933) und Jacoba Elisabeth Schill (1853-1925). Es ist auch ein Briefwechsel im Vreede-Archiv erhalten, dem zu entnehmen ist, dass Hendrik Vreede gemeinsam mit anderen in Den Haag eine Misraim-Loge eröffnen wollte. Wie weit er damit gekommen ist, ist nicht bekannt.
Abb. 14: Lehrlings-Schurz.
Der dritte Schurz ist ein schlichter Lehrlings-Schurz [Abb. 14], Dieser Lehlingsschurz ist der Schurz des untersten Grades und könnte Elisabeth Vreede gehört haben. Es ist nämlich üblich, dass derjenige, der die höchsten Grade trägt, statt eines besonders prächtigen Schurzes wieder den des Lehrlings trägt als Ausdruck der Demut. In manchen Denominationen ist es sogar üblich, dass im höchsten Grad gar kein Schurz getragen wird, sondern wieder die Kleidung der Profanen. Proben ihrer Bescheidenheit hat Dr. Elisabeth Vreede ihr ganzes Leben lang abgelegt.
Die Tasche enthält auch symbolische Werkzeuge (Abb. 16-19), wie sie die "Beamten" in den drei Johannes-Graden an ihren Tischen befestigen. Dem dienten wohl die Schräubchen. Die Werkzeuge sehen genauso aus wie diejenigen, welche Rudolfd Steiner benutzt hat: einen Winkel für den Altar des Meisters, eine Wasserwaage für den ersten Aufseher, ein Senkblei für den 2.Aufseher. Die Messingschraubven dienten der Befestigung der symbolischen Werkzeuge an dem jeweiligen Tisch.
Das Bemerkenswerteste aber waren Vorzeichnungen zu dem Schmuckstück, das Elisabeth Vreede auf dem Bild von Margarita Woloschina trägt. Zwei Vorzeichnungen sind in einer blauen Mappe [2] erhalten. Die eine enthält eine genaue Zeichnung des Anhängsels [Abb.16] in Aufsicht und im Querschnitt. mit der nebenseitigen Bezeichnung: „Man sieht einen länglich querliegenden sechseckigen Schmuckstein, eingefügt in ein siebeneckiges Feld. Darum erstreckt sich ein weiteres siebeneckiges Feld. Der Begriff Anhängsel macht deutlich, dass es sich nicht unbedingt um ein Schmuckstück für eine Halskette handelt.
Abb.20: Vorzeichnung des Anhängsels für den ausführenden Goldschmied.
Oben die Aufsicht, unten die Seiten-ansicht (Riß). Es handelt sich um zwei Siebenecke, in die ein sechseckiger Edelstein eingelassen ist. Drei Ecken sind bei beiden Siebenecken oben, vier sind unten.
Man mag dabei an Rudolf Steiners Interpretation der Form des Hauses denken: Unten das Quadrat oder Rechteck, darüber das Dach in Form eines Dreiecks. Das Quadrat darf als Ausdruck des Erdenmenschen gedeutet werden, der aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich besteht. Darüber ist das Dreieck der höheren geistigen Wesensglieder, die der Mensch aus den unteren Wesensglieder durch Umwandlung erst noch erringen muß: Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch.
Das Schmuckstück ist auch in dem Band "Kleinodienkunst" in der Gesamt-ausgabe enthalten. Dort ist es unter der Nr.31 aufgeführt auf S.43. Ohne Erklärung wird das Schmuckstück dort dem Jahre 1919 zugeordnet. Bei Drucklegung des Bandes 1984 lag auch kein Foto vor, so dass nur eine Kopie des Entwurfs abgedruckt werden konnte wie auf Abb. 20-21. In dem Buch heißt es: "Nr.31. Anhänger. Gold, gelber Turmalin, für Elisabeth Vreede. 1919. Ausführung Bertha Meyer-Jacobs. Diese Zeichnung ist eine Pause der Originalzeichnung, die nicht mehr vorhanden ist. Die punktierten Liniendeuten an, wie die Umrisse des Steines unter der Form liegen." Die Zeichnung, die ich im Archiv gefunden habe, scheint diese Originalzeichnung zu sein. Sie ist nun also doch wieder vorhanden und die auf der Pause fehlenden Worte sind zweifellos sehr bedeutsam.
Ein kleines Detail auf einem anderen Blatt von Bertha Meyer-Jacobs, das in dem Band "Kleinodienkunst" abgebildet ist, ist für das Verständnis nicht unwichtig. Auf der Zeichnung 23 auf S.36 ist der Umriss des gelben Steines noch einmal einzeln gezeichnet und Bertha Meyer-Jacobs schreibt daneben: Für Elisabeth "Vrede" mit einem e. Auch auf den jetzt gefundenen Blättern ist die Recht-schreibung nicht einwandfrei. Es scheint das eine Eigenart der Goldschmiedin gewesen zu sein.
Abb.22: Die zweite Zeichnung zeigt nur das Siebeneck auf einem Kreis. Auf dem gefalteten Blatt, das durch einen Kreisauschnitt den Durchblick auf die Zeichnung zulässt, steht nun ein sehr überraschender Text:
„Okkulte Anordnung
des cr. ros.
Gez. von Rudolf Steiner.
Frl. Dr. Vreede herzlichst zugeeignet von Imme Eckards“.
Im freimaurerischen Zusammenhang ist das Tragen eines „Bijoux“ gang und gäbe, das die betreffende Persönlichkeit am unteren Ende ihres Halskragens tragen kann oder an einer Kette um den Hals. Das war auch in Rudolf Steiners Hochgradarbeit nicht anders.
Diese Zeichnungen und die zugehörigen Anmerkungen werfen große Fragen auf. Wenn es wahr ist, dass Rudolf Steiner ab August 1914 nicht mehr freimaurerisch oder zumindest rituell gearbeitet hat - wozu hat er dann Anfang 1922 auf "okkulte Anordnung des cr. ros" ein Bijoux für Elisabeth Vreede herstellen lassen?
Und wenn cr. ros. (Christian Rosenkreutz) so mit Steiners Misraim-Michael-Dienst verbunden war, dass er sich sogar um das Bijoux einer einzelnen Persönlichkeit gekümmert hat, handelte es sich dann nicht um "die wahre Rosenkreuzer-Schule"?
Rolf Speckner
[1] D.J. van Bemmelen. Elisabeth Vreedes Verbindung mit Holland. In: Elisabeth Vreede. Ein Lebensbild. (hrsg. M.P. van Deventer). Arlesheim 1976. S.54.
[2] Sie befinden sich in einer blauen Mappe, deren Vorderdeckel einen weißen Zettel mit der Aufschrift trägt: „1 Zum Lebensgang Rudolf Steiners I., II., IV., V.“