Dante

Im folgenden sollen zwei Aufsätze abgedruckt werden, die im Jahre 2000 entstanden sind und sich mit Dantes Bedeutung in der  Esoterik befassen. Für ein esoterisches Verständnis der Divina Comedia verdanken wir Dr. Georg Hees sehr viel. Seine kommentierte Ausgabe der Göttlichen Komödie darf als Grundlage angesehen werden für jeden Versuch, sich der göttlichen Komödie  von anthroposophischen oder anderen spirituellen Gesichtspunkten zu nähern.

   Der erste Aufsatz 'Dantes Jenseitswanderung in Hamburg' schildert ein Dantefest in Hamburg am 16.Juni 2000 aus Anlass des 80. Geburtstages von Dr. Georg Hees.

   Der zweite betrachtet die Rolle Vergils und die Gesprächsform, die vor allem für die Schilderung der Wanderungen in den übersinnlichen Bereichen charakteristisch ist. 

Dantes Jenseitswanderung in Hamburg

  Aus Anlass eines besonderen Jahrestags hat sich der Zweig am Rudolf -Steiner-Haus in Hamburg im späten Frühjahr 2000 ausgiebig mit Dantes Göttlicher Komödie beschäftigt. Im Eingangsbild erzählt Dante (1265-1321), daß er sich mit 35 Jahren am Karfreitag des Jahres 1300 in einem dunklen Wald verirrte. Drei Tiere hetzten ihn zu dem Eingang einer dunklen Höhle. Wie sich bald zeigte, stand er an der Schwelle zum nachtodlichen Dasein.

  Dort erwartete ihn der römische Dichter Vergil, der ihm neuen Mut einflößte, indem er sich als Gesandter Beatrices, Dantes ewiger Liebe, erklärte. Er bot sich ihm als Jenseitsführer an. Vergil führte Dante durch  das inferno, die "Hölle", über das purgatorio, einen Berg der Läuterungen, bis zu den Pforten des paradiso. Ins Paradies konnte Vergil ihn nicht geleiten, weil er auf Erden ein Heide gewesen war. Beatrice selbst stand Dante während des weiteren Weges zur Mitte des Paradieses Rede und Antwort. Das letzte Stück hin zur Schau der Trinität führte ihn Berhard von Clairvaux.

  Dr. Georg Hees hatte fünf Jahre früher, 1995, eine Übersetzung der Divina Commedia veröffentlicht.1 Er hat dem italienischen Text eine Wort-für-Wort-Übersetzung gegenübergestellt und ihn Zeile für Zeile kommentiert. Die Beschäftigung mit diesem Werk hat ihn durch sein Leben begleitet. Schon vor fünf Jahrzehnten schrieb er seine Doktorarbeit über Brunetto Latini, den Lehrer Dantes. Georg Hees ganzes Wesen lebt in der Schönheit der italienischen Sprache. Die Hintanstellung einer schönen Ausdrucksweise, die seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprochen hätte, hat eine Übersetzung ermöglicht, die das Verständnis der Göttlichen Komödie im deutschen Sprachraum wohl erstmals wirklich erschließen kann. Georg Hees hat den Eingeweihten hinter dem Dichter gesucht und gefunden.

  Als deshalb der Zweig am Rudolf Steiner-Haus in enger Zusammenarbeit mit der Forum-Initiative vom 16.-18. Juni 2000 ein Dante-Fest durchführte, wollte er damit zugleich gegenüber dem nunmehr 80jährigen Georg Hees seine Dankbarkeit und Verehrung zum Ausdruck bringen. Er nahm am Verlauf des Festes innigen Anteil, wollte aber selbst nichts beisteuern.

  Als ein berufener Cicerone erwies sich in drei Vorträgen der holländische Waldorf-Lehrer Willem Frederik Veltman. Er hat das Dante-Bild der anthroposophischen Bewegung stark beeinflusst. Ihm ist die erste Monografie Dantes aus anthroposophischer Sicht zu verdanken.2  Erfüllt von der Mission Dantes trat er vor die Teilnehmer als wäre er eine der von Dante geschilderten Gestalten. In glühenden Farben schilderte er Dantes Lebenswerk. Dante stand vor der Wahl, entweder ein hohes politisches Amt in seiner Vaterstadt auszuüben und dadurch den Einfluss von Florenz auf die sich entwickelnde Städtekultur in Norditalien zu vergrössern, oder seine Kraft an ein zeitloses Werk zu wenden. Seinem Verzicht auf öffentliche Wirksamkeit, dem die Schicksalstatsachen entgegenkamen, ist die göttliche Komödie zu verdanken. Dantes Anliegen in diesem Werk ist es, den Menschen durch Erkenntnis frei zu machen. Die Einsicht in die notwendigen Folgen seiner Taten kann im Menschen die "Flamme der Liebe" entzünden, aus der heraus er in Freiheit das tut, was seinem wahren Wesen entspricht.

  Dieser Freiheitsweg, dem Dante in der Morgendämmerung des Bewußtseinszeitalters voranleuchtete, führt den Leser auch auf den Pfad der Initiation. Indem er sich inhaltlich mit dem nachtodlichen Leben auseinandersetzt, kann es geschehen dass er aus Liebe zum eigenen höheren Wesen die notwendigen nachtodlichen Wandlungen bereits im Leben aus eigenem Willen ins Werk setzt.

  Es war eine besondere Freude, die beiden Danteforscher, Georg Hees und Willem F. Veltman, sich begegnen zu sehen.

   Vorträge, Rezitationen, malerische Darstellungen des Werkes ergänzten einander. Um das umfangreiche Werk überhaupt zu Gehör bringen zu können, hatte der Dichter Reinhard Moritzen die undankbare Aufgabe übernommen, es etwa auf ein 1/6 seiner Länge zu kürzen.

  Fünf Sprachgestalter hatten sich zusammengefunden, um die Kurzfassung zunächst in wöchentlichem Abstand an sechs Abenden und dann während des Wochenendes noch einmal insgesamt vorzutragen. Fabian Schmidt-Rhen gestaltete in dramatischer Weise den ersten Teil der Hölle in der Prosa-Übersetzung von Georg Hees. Dominique Zeijlmans van Emmichoven nahm die klassische Reimfassung von Karl Streckfuß, die schon Goethe geschätzt hat, und begleitete Dante durch die finstersten Tiefen der Hölle. Die Reue und Wandlung des Menschen auf dem Läuterungsberg ließ uns Andreas Voigt-Siebel hautnah miterleben. Die letzten Schritte auf dem Läuterungsberg brachte Brigitte Müller mit ihrer wohllautenden Stimme in der Fassung von Walther von Wartburg an unser Ohr. Dantes Erlebnisse auf dem Gipfelplateau, im Paradies, in dem die Handlung ganz von Lehrgesprächen zwischen Beatrice und Dante über die Geheimnisse der Theologie und der Himmelreiche beherrscht wird, wurde von Birgit Schlät und Dominique Zeijlmans van Emichoven im Zwiegespräch gestaltet.

  Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Gesprächssituation für das Leben im Geiste wird verständlich, wieso auch Dantes Aufenthalt im Paradiso, der "bloß" aus theologischen und moralischen Gesprächen besteht, nie langweilig wurde. Man hätte den Sprachkünstlern noch stundenlang zuhören mögen.

  In ihrem Wesen und ihrem sprachlichen Ansatz sich deutlich unterscheidende Künstler trugen aus recht verschiedenen Übersetzungen Dantes vor - und doch wurde überraschend die Einheit und Kraft dieses Werkes eindringlich erlebbar. Daran wurde deutlich, "daß wirkliche, echte Kunst zuletzt zurückgeht auf die Geheimnisse der Initiation".3

  Illustrationen der Göttlichen Komödie aus alten Handschriften schmückten dazu die Wände. So war es noch leichter, sich in die geschilderten Situationen zu versetzen. Weitere bildhafte Darstellungen repräsentierten die Einsendungen zu einem Plakatwettbewerb, an dem sich besonders lebhaft die Seminaristen der Kunstschule am Seminar für Anthroposophie beteiligt hatten.

  Zwischen Vortrag und Lesung erklang Renaissance-Musik, dargebracht von einem professionellen Ensemble sowie von Lehrern und Schülern des Musikseminars.

   Ein Buffet mit italienischer Küche, sowie das Flair des Hochsommers ließen für wenige Stunden im Rudolf Steiner-Haus ein Elbe-Florenz einziehen.

   Gefördert wurde das Fest durch das Hotel Elysee, die Kulturbehörde Hamburg und die Gemeinschafts-Bank.

  Rolf Speckner

 

Anmerkungen:

1 Dante Alighieri. Divina Commedia. Italienischer Text mit wörtlicher 

  deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar. Dargeboten

  von Georg Hees. Verlag der Kooperative Dürnau. 3 Bände. Dürnau   

  1995.

2 W.F.Veltman. Dantes Weltmission. Stuttgart.1979

3 Rudolf Steiner.Vortrag Dornach, 30.1.1915.In:G.A.161 Wege der 

   geistigen Erkenntnis und der Erneuerung der künstlerischen Welt-

   anschauung. Dornach 1980.S.48

Dante, Vergil und der Michaelische Zeitgeist

  Die Betrachtung der früheren Einweihungswege, die Rudolf Steiner empfohlen und zum Teil erst ermöglicht hat, entspricht einem Bedürfnis der Zeit. Sie stellt unsere eigenen Impulse in den Strom, dem sie entstammen.

Die Göttliche Komödie

 

  Am Karfreitag des Jahres 1300 verirrt sich Dante (1265-1321) "in der Mitte seines Lebens" in einem undurchdringlichen Wald. Von drei Tieren gehetzt erreicht er einen Berg mit einer Höhle. Er war an die Schwelle des Totenreiches gelangt, die er als Lebender mit vollem Bewusstsein überschreiten sollte.

  Ermutigt durch den römischen Dichter Vergil, beginnt Dante eine einwöchige Jenseitswanderung. Am Todestage Christi steigt er wie jener zur Hölle hinab. Vergil begleitet ihn als Führer. Die Hölle stellt sich ihm als tiefer Trichter dar, der durch den Sturz Luzifers entstanden ist. Die verdrängte Erdmasse hat sich auf der anderen Seite der Erdkugel zum Läuterungsberg aufgewölbt. Vergil führt Dante durch neun Kreise herab bis in den Schlund, in dem der Höllenfürst verharrt. Es ist eine Eiseswelt, die sie am Boden des Trichters vorfinden. Da die Tiefe bis zur anderen Seite der Erde reicht, können sie durch ein Schlupfloch aus der Hölle aussteigen und stehen am Fuß des Läuterungsbergs.

  Gemeinsam erklimmen sie in enger werdenden Kreisen die verschiedenen Grade der Läuterung. Die Büßer leben im Ansehen ihrer Verfehlungen. Sie sind nach Art und Schwere ihrer Fehler eingeteilt und büßen in Gruppen. Die Hochmütigen werden an einer Bilderwand mit Beispielen der Demut entlang geführt, wie etwa den Worten, die Maria an den Engel richtet. Diese Vorbilder sollen sie meditieren. Dann sehen sie Bilder der bestraften Hochmut. Nach ihnen kommen die Neidischen, dann die Zornmütigen, und so fort.

   Vor den Pforten des Paradieses verlässt Vergil ihn, denn als Heide ist ihm der Zutritt verwehrt. Dantes himmlische Liebe, Beatrice,  wandelt während des Weges durch die Planetensphären an seiner Seite und steht ihm Rede und Antwort. Sie verkörpert eine hohe christliche    Weisheit. Das letzte Stück bis zur Schau der Trinität in der "unio mystica" führt ihn Bernhard von Clairvaux.

Dantes Verhältnis zu Vergil

 

  Die Stellung Dantes zu Vergil ist ein Rätsel. Dante widerspricht einerseits nicht der kirchlichen Lehre von der Unerlöstheit der verstorbenen Heiden, andererseits wächst der römische Dichter in Dantes Darstellung zu einer gewaltigen Persönlichkeit. Während Dante, obwohl Christ, ohne Kenntnisse in das Reich der Toten eintritt, kennt sich der Heide in jeder Situation aus. Während der Christ Dante Ängstlichkeit an den Tag legt, tritt der Heide Vergil den Unterirdischen mutig entgegen. Dass es Dante wagt, durch die Schilderung der Persönlichkeit Vergils einen Heiden so über alle Christen zu stellen, muss einen besonderen Grund haben.

  Seit Kaiser Konstantin hatte man Vergils 4.Ekloge, in der er ein ungeborenes Kind als künftigen Retter der Welt gepriesen hatte, auf den kommenden Christus bezogen. Vergil galt seither als Prophet. Musste Dante nicht trotzdem bestrebt sein, einen Christen als Führer zu wählen? Allerdings galt es im Mittelalter als Zumutung, unter Heiden weilen zu müssen, und erst recht unter den Sündern der Hölle. Doch gab es große Beispiele christlicher Barmherzigkeit. Hätte nicht eine solche Persönlichkeit ihm in der Unterwelt dienen können?

Das Totenreich nach der Äneis

 

  Vergil (70-19v.Chr.) hatte in seiner Äneis die Gründung Roms in mythischer Weise als eine Folge des Trojanischen Krieges beschrieben. Äneas war aus Troja geflohen und nach Latium gelangt. Nach Vergils Darstellung im VI. Buch stieg Äneas dort in die Unterwelt, um von seinem Vater Anchises die Zukunft zu erfahren. Die Sibylle von Cumae riet ihm, den "Goldenen Zweig" zu suchen und diesen an die Pforte der Unterwelt zu heften. Damit könne er Proserpina, die Göttin der Unterwelt, erfreuen und werde Einlass erhalten. Äneas bricht den Zweig und, sobald man des Zweiges in der Unterwelt gewahr wird, öffnen sich ihm alle Pforten, Charon ist besänftigt und nach längerem Suchen findet Äneas gemeinsam mit der Sibylle seinen Vater.

  Die Evangelien schweigen in Hinsicht auf Einzelheiten des nachtodlichen Daseins. Außer im Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus [Lukas 16,19-31] geben sie keine nähere Auskunft. Das ist merkwürdig, steht doch im Mittelpunkt des christlichen Strebens die Überwindung des Todes. So blieb Vergils Darstellung die umfangreichste Schilderung des Totenreichs, bis sie durch Dantes Werk abgelöst wurde.

Die Äneis und die Göttliche Komödie

 

Dante hat Vergils Beschreibung des Hades gekannt, aber das 6.Buch der Äneis kann nicht als literarischer Reiseführer durch Dantes Jenseits benutzt werden. Er beschreibt das nachtodliche Dasein recht anders. Viele Einzelheiten treten in den Schilderungen beider Dichter gleich auf: Der Wald um den Eingang zur Tiefe, der Strom, der Fährmann, der Totenrichter Minos, u.s.w. Es gibt aber in der Äneis keinen Höllentrichter, keinen Läuterungsberg, kein Paradies. Einzelheiten stimmen überein, das Verständnis des Ganzen hat sich geändert.

  Trotzdem weist Dante Vergil die Rolle eines Führers zu. Vergil zeigt dem Dichter nicht nur einen gangbaren und sicheren Weg, er macht ihn nicht nur auf Sehenswertes am Wegesrand aufmerksam, sondern er teilt ihm auch die nötigen Begriffe mit. Vergil führt Dante also im Gespräch in einem tieferen Sinn in die nichtsinnliche Welt ein. Dass sich diese "Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbe-stimmung" im Gespräch ereignet, täuscht leicht über ihren wahren Charakter hinweg.

  So stellt sich die Frage, ob der Dichter in der Divina Commedia vielleicht die Wahrheit erzählt? War Vergil wirklich der Jenseitsführer Dantes? 

Das Lehrgespräch in den Mysterien

 

  Schon lange vor Dante und Vergil wurden die Zeugnisse der Einweihungsvorgänge in Form von Gesprächen abgefasst. Die wichtigsten Lieder der Edda beispielsweise geben Lehrgespräche wieder, die in einer strengen Form von Frage und Antwort geschehen. Im Wegtamslied sucht Odin eine Seherin auf, die ihm Antwort geben muss. Im Wafthrúdnismál sucht Odin unter dem Namen Gangradr den Wafthrudnir auf, und im Fiölsvinnsmál befragt ein Fremdling namens Windkaldr an der Schwelle den Wächter Fiölswidr. Dass es sich nicht um Konversation handelt, geht aus dem Kehrreim hervor, den der Eintritt begehrende Windkaldr stetig wiederholt:

     "Verkünde mir, Fiölsvidr,

       was ich dich fragen will und wissen muss."

Er will etwas wissen und er muss es wissen. Solange sein freier Wille und die Weltennotwendigkeit im Einklang stehen, muss ihm der Wächter antworten. In äußerster Konzentration wird das Notwendige vermittelt.

  Selbst die erheblich spätere Prosa-Edda macht davon keine Ausnahme. Dort ist es König Gylfi, der einer Dreiheit von Geistwesen seine Fragen stellen darf.

  Vergleichbare Formen kennzeichnen auch die Mystenpfade anderer Völker. Noch heute haben die rituellen Vorgänge, die in den Tempeln der Freimaurer gepflegt werden, einen solchen Charakter des rituellen Lehrgesprächs.

  Schließlich sei an das Gespräch erinnert, das Nikodemus mit dem Christus "bei der Nacht" führen durfte.[Joh.3]

Das Denken als Selbst-Gespräch

 

  In den Mysterien war das Lehrgespräch durch lange Zeit hindurch eine maßgebende Form der Vermittlung. Die Mysterien schließen die Pforten in dem Moment, in dem die Philosophie erwacht.

  Auch Platons Dialoge haben die Form des Lehrgesprächs. Sie bezeichnen das nahende Ende der Mysterien, indem sie den befragten Schüler dahin führen, sich selbst die Fragen zu stellen und sie selbst zu beantworten. Seitdem diese Möglichkeit Wirklichkeit geworden ist, sind die Mysterien verstummt.

  Das Denken ist ein Selbst-Gespräch: ich frage mich. Wie ist das möglich? Wenn ich der unwissende Fragende bin, wer gibt dann die Antwort? Wenn Ich der wissende Antwortende bin, wem antworte ich dann? Mit dem vom Menschen ergriffenen Denken kam notwendig diese Frage auf. Platons menschenkundliche Ansicht, alles Wissen sei Rückerinnerung an das vorgeburtliche Dasein, gab darauf vorläufig Antwort. Nach Platons Ansicht liegt dem Selbst-Gespräch des Denkens die Erinnerung an einen vorgeburtlichen Aufenthalt in der Ideenwelt zugrunde.1 Platon versteht aber unter Idee etwas wirkmächtig Wesenhaftes. So ist die Begegnung mit der Idee ein vorgeburtliches Gespräch, in dem sich ein Wesen offenbart.

  Rudolf Steiners Charakteristik des vorstellenden Denkens präzisiert Platons Ansicht: "Vorstellen ist Bild von all den Erlebnissen, die vorgeburtlich, bzw. vor der Empfängnis von uns erlebt sind."2

Das Lehrgespräch in der Äneis

 

  Auch Äneas empfängt in Vergils Darstellung seine Kenntnisse in einem übersinnlichen Lehrgespräch. Vergil lässt Äneas zunächst alles Vorbereitende am Höhleneingang aus dem Munde der Sibylle von Cumä erfahren. Dann begleitet sie ihn als Führerin in die Unterwelt, gemeinsam suchen sie seinen Vater Anchises, dem er dann seine eigentlichen Fragen stellt. Wie Dante mehrere Führer hat, so benötigt auch Äneas nacheinander verschiedene Menschen, um das Notwendige zu erfahren. Deutlich zeigen sich ihre verschiedenen Fähigkeiten. Die Sibylle kennt den Weg zur Unterwelt, sie weiß auch, wie man hinein-kommt. Dort angelangt, muss auch sie fragen. Anchises erklärt seinem Sohn den Weltbau, die Seelenwanderung, und weist den Ratsuchenden schließlich auf dessen künftige Aufgabe hin. Auch zeigt er ihm die Seelen seiner Nachkommen, die die Zukunft Albas, einer von ihm zu gründenden Stadt, und Roms prägen werden. Die Sibylle und Anchises verhalten sich zueinander wie der Mystagoge und der Hierophant.3 Schließlich geleitet Anchises die beiden zur elfenbeinernen Pforte, dem Tor des Schlafes, durch das sie in die Erdenwelt zurückkehren.

Dantes Werk an der Schwelle zur Neuzeit

 

  Man sieht, dass Dante zwar an ein literarisches Beispiel anknüpft, dass er aber damit zugleich den angemessensten Ausdruck wählt für die inneren Begegnungen, von denen er spricht. In der Form des Lehrgesprächs kann man eine Verbildlichung des intuitiven Wesens-tausches erkennen. Auf wirkliche Begegnungen weisen daher auch Dantes Gespräche mit Vergil hin.

   Was als Inhalt der "Göttlichen Komödie" bezeichnet werden darf, der Weg von der Befangenheit im Sinnesbewusstsein über das in sich Ruhen des denkenden zu einem schauenden Bewusstsein zu gelangen, es ist auch die Aufgabe, die jeder einzelne Gesang der "Göttlichen Komödie" dem Leser stellt. Inhalt und Form der Dichtung stimmen überein. Denn die Bilder der Situationen, die Dante in hundert Gesängen beschreibt, müssen nicht Bilder bleiben, sie können den realen Zugang zu der zeitlosen Wirklichkeit des intuitiv Geschauten eröffnen. Die vorgestellte Situation kann in der übenden Bewegung zur Imagination, das heißt zu einem von Wirklichkeit durchtränkten und durchklungenen Bild erhoben werden.

  Alles das weist darauf hin, dass Dante seine Dichtung bewusst so gestaltet hat, dass sie an die Stelle von Vergils Schilderung treten konnte. In den alten Mysterien hat man solche Bilder sinnlich vorgeführt. Es war ein Prinzip der alten Mysterien, durch imaginative Bilder den Sinn für Imaginationen zu bilden und zu wecken, indem sie immer wieder und wieder vor Augen geführt wurden. Eines Tages zerriss dann während einer solchen dramatischen Aufführung der Vorhang im Tempel und das Bild erfüllte sich mit Wirklichkeit.

   Dante Werk ist auch darin beispielhaft für den Übergang in die Neuzeit, dass er durch die Veröffentlichung seiner Mysteriendichtung jeden zur Hochzeit einlädt. Aber er macht es niemandem leicht, indem er allein an die Vorstellung appelliert. Damit können wir ein wichtiges Kriterium der neuen Mysterien bei Dante gewahr werden.

  So kann uns diese Dichtung auch ein tieferes Verständnis für die Arbeitsweise der Allgemeinen Sektion der Freien Hochschule [,jenem Arbeitsbereich der Anthroposophischen Gesellschaft, in dem die übersinnliche Michaelschule nach der Weihnachtstagung einen Erdenort finden soll,] erschließen. Im Bereich der übersinnlichen Begegnung ist die Form des Lehrgesprächs zeitlos. Rudolf Steiner schildert sie auch selbst, und zwar gerade für die Einweihung von Dantes Lehrer Brunetto Latini.4

Das Lehrgespräch in den Mysteriendramen

 

  Auf der Erde tritt uns das Lehrgespräch in verwandelter Weise heute in den Mysteriendramen Rudolf Steiners entgegen, einer künstlerisch wahren, individuell geprägten Darstellung des modernen Schulungs-weges. Man hat gegen die Mysteriendramen eingewendet, es gehe in ihnen gar nicht "dramatisch" zu. Die ganze Handlung bestehe in Selbstgesprächen und Dialogen. Ein Dramatiker fand sie sogar komisch.

  Die Mysteriendramen spiegeln die Erkenntniswege einzelner Menschen wieder. Vom Gesichtspunkt des anthroposophischen Begriffs-Realismus ist Erkenntnis Wesens-Begegnung. So muss die Begegnung von miteinander um Erkenntnis ringenden Wesen der Hauptinhalt der Mysteriendramen sein. Die Tatsache, dass der Boden des Erkenntnisgesprächs nie verlassen wird, macht die Dramen, die der Anthroposophischen Gesellschaft durch Rudolf Steiner gegeben worden sind, zu Mysterien. In dem Drama "Die Prüfung der Seele" z.B. führt Maria im 2.Bilde ein solches Gespräch mit Benedictus. Dieses Gespräch findet zunächst in ihrem Zimmer statt. Da es aber zwischen zwei in ihrem Seelenleben nicht mehr völlig leibgebundenen Menschen geführt wird, passiert etwas, was früher in den Mysterienschulen geschah.

Maria erkennt, dass in ihrer Liebe zu Johannes noch Selbstsucht waltet. Benedictus deutet das gleich eingangs an:

                         "Doch darf die Liebe nicht vergessen,

                          Dass sie der Weisheit Schwester ist!"

 Maria kommt im Laufe des Gesprächs zu der Erkenntnis:

                        "Was treibt mit starker Kraft in dieser Liebe mich?

                          Ich sehe meiner Seele Eigenleben wirkend

                          In meines Freundes Wesen und in seinem Schaffen.

                          So such' ich nach Befriedigung,

                          Die ich empfinde an dem eignen Selbst." 5

Kurz darauf geht Benedictus fort, und Maria erscheinen in der Schau drei Seelenwesen. Die Erkenntnis weckt das Schauen; indem sie die Persönlichkeit reifen lässt, macht sie sie würdig zu schauen.

   Auch die Versuchermächte treten durch eine Art von Gespräch an die Menschen heran: im 11.Bild versucht Ahriman vergeblich Maria im Gespräch zu überzeugen. Im 12.Bild naht sich Luzifer erfolgreich dem Johannes Thomasius.

Das Lehrgespräch in Rudolf Steiners esoterischer Arbeit

 

  Rudolf Steiner hat diese Form nicht nur gewählt, wenn er alte Schulungswege öffentlich dargestellt hat. Er hat sie selbst im Rahmen der internen esoterischen Arbeit angewendet, und zwar bis zum 1. Weltkrieg auch in ritueller Weise.  

    In der Esoterik der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft lebt das Prinzip des Lehrgesprächs ebenfalls, wird aber nicht als Ritus dargestellt, sondern soll allein im Vorstellungsleben gepflegt werden. Das darf nicht als grundsätzliche Abwendung vom rituellen Handeln aufgefasst werden, denn für die weitere Ausgestaltung hatte Rudolf Steiner auch Rituale vorgesehen. Und die Rituale haben die Form eines Gespräches.

Geistige Forschung ist Gespräch

  Warum hat der okkulte Unterricht diese Form? Geistige Forschung ist ein Gespräch, das sich von Mund zu Ohr abspielt. Die beiden Sinnesorgane Mund und Ohr sind das Bild für die Fähigkeit, etwas zu sagen und für die Fähigkeit das Wort zu vernehmen.

  Eine Wesensbegegnung kann nicht experimentell wiederholt werden. Wesenheiten sind keine Automaten, die durch Münzeinwurf zu gleichlautenden Antworten veranlasst werden könnten. Die Forderung, eine Wissenschaft des Geistes müsse Ergebnisse vorweisen, die von jedermann "experimentell" überprüfbar seien, ist insofern unsachgemäß.

  Die Prüfung sieht auf diesem Gebiet anders aus. Nicht allein ich prüfe den Inhalt, sondern der Inhalt prüft mich auch! Bin ich ihm gewachsen, wird er sich mir eröffnen können.

  Die geistigen Wesen verhalten sich nicht so, dass sie jedem einzelnen Menschen dieselben geistigen Wahrheiten immer erneut offenbaren. Was einem einzelnen Menschen offenbart wurde, wurde damit der ganzen Menschheit gegeben. Deshalb ist es ein Gesetz der spirituellen  Ökonomie, dass der suchende Mensch eine Wahrheit bei demjenigen suchen muss, der sie zuerst gefunden hat. Die Form, in die der Betreffende den erkannten Inhalt gegossen hat, macht es möglich, an seinem Gedanken und durch ihn an der vorausgegangenen Wesensbegegnung teilzunehmen. Die Idee ist nämlich eine und dieselbe für jeden, der sie denkt.

  So musste Dante aus innerer Notwendigkeit Vergil mit der Seele suchen und er wurde ihm Führer in den Bereichen, die er kennengelernt hatte. Das ist eine kühne Interpretation, höre ich sagen. Wo hat Dante das gesagt? Auf vielen hundert Seiten!

Ausblicke

 

  Der beschriebene Gesprächscharakter der übersinnlichen Erkenntnis beruht darauf, dass der allgemeine Weltengrund aus sich durchdringenden individuellen Geistwesen besteht. Der Weg zu übersinnlichen Erkenntnissen ist an ganz andere Kriterien gebunden als der der Erdenerkenntnis. Das schöne mittelalterliche Wort vom "Gottesfreund", das den Inhalt des Wortes Eingeweihter wiedergibt, spricht viel davon aus. Was gesagt werden kann, hängt auch davon ab, was für ein Ohr hinlauscht.

  Dass ferner das einmal Gesagte nicht beliebig oft wiederholt wird, macht einen selbstlosen Umgang mit solchen Einsichten nötig, ermöglicht aber auch deren Zurückhalten im Dienste von Sonder-interessen. Ein Eingeweihter ist daher bestrebt, "keinem suchenden Menschen ein ihm gebührendes Wissen vorzuenthalten"6. Was ihn dazu veranlasst, nennt Rudolf Steiner  "ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihten".

  Rudolf Steiner stellt ein zweites Gesetz neben das erste. Es besagt, "dass niemandem irgend etwas von dem Geheimwissen ausgeliefert werden kann, zu dem er nicht berufen ist".

  Kann der leitende Ingenieur eines Atomkraftwerks sämtliche Schlüssel und die Passwörter für die Computer seines Werkes einem betrunkenen Toren überlassen? Er würde sich wohl eher das Leben nehmen lassen als die Schlüssel.

  Die beiden Gesetze, nämlich: niemandem ein Wissen vorzuenthalten, der es benötigt, und: niemandem ein Wissen auszuliefern, der es nicht wirklich sucht, gelten im Rahmen der esoterischen Arbeit. Es sind "natürliche" Gesetze für Eingeweihte. Sie entspringen der Natur der Eingeweihten. Diese ist nämlich menschheitlich: in ihnen ist die Menschheit Person geworden.

   Über die Teilnahme an den auf der Erde vollzogenen Handlungen der Michaelschule entscheiden seit dem Tode Rudolf Steiners auch Nichteingeweihte. Für sie handelt es sich nicht um "natürliche Gesetze", die ihrer Natur entsprechen, sondern allenfalls um moralische. Dass die beiden Gesetze in der Vergangenheit nicht immer berücksichtigt wurden, hat z.B. der Anthroposophischen Gesellschaft schweren Schaden zugefügt.

 Persönliches kann dazu führen, Erkenntnisse nicht auszusprechen oder in einem Rahmen zu besprechen, wo sie nicht wirklich aufgenommen werden können. Es kann dazu führen, Menschen zu einer esoterischen Arbeit aufzufordern, die bei besonnener Selbstprüfung das gar nicht gewollt hätten, oder andere in eine Arbeit nicht einzubeziehen, die sie dringend suchen.

   Rudolf Steiner hat das nicht für eine theoretische Möglichkeit gehalten, sondern für ein Stück Lebenswirklichkeit. Denn er schreibt, "ein Eingeweihter ist umso vollkommener, je strenger er diese beiden Gesetze beobachtet". Er hält also in dieser Hinsicht verschiedene Grade von Vollkommenheit selbst unter den Eingeweihten für möglich.

  Obwohl es sich um ein Problem von weltgeschichtlichem Rang handelt - man denke an die Geheimhaltung von übersinnlichen Erkenntnissen im Westen - spricht Rudolf Steiner keinen Tadel aus.

   Die Erfahrung zeigt, dass auch unter Nichteingeweihten Tendenzen walten, eines der beiden Gesetze für das wichtigere zu halten. Wer nur das erste Gesetz für wichtig hält, wird die Hochschule für jedermann zugänglich machen wollen und ihm auch selbst die alleinige Entscheidung über die Teilnahme zusprechen. Er setzt damit die Freiheit als verwirklichtes Gut, aus dem heraus jeder handeln kann. Wer das zweite Gesetz allein berücksichtigt, sieht am Menschen vor allem das noch Unvollkommene, nicht den unfertigen Freien, der sich als lebendiger Keim an die Oberfläche drängt. Er ist in der Gefahr, einsam zu werden und eines Tages zu meinen: eigentlich bin nur ich würdig. In beiden Fällen ist die letzte Konsequenz die Abschaffung der Hochschule.

  Heute ist der Wald, in dem Dante sich bewegt hat, Kulturtatsache geworden. Eine Einrichtung, wie sie die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum sein sollte, könnte uns helfen, den Gang über die Schwelle zu bestehen.

Anmerkungen

 

1 Platon.Menon.81b-d;85b-86c.

2 Rudolf Steiner. Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der 

   Pädagogik. Vortrag vom 22.8.1919.G.A.293. 7.Aufl.1973.S.32-33.

3 Vgl. Raimund J.Quiter. Aeneas und die Sibylle. Die rituellen Motive

    im sechsten Buch der Aeneis. Königstein/Ts.1984 S.49-53.

4 Rudolf Steiner. Vortrag Dornach.  30.1.1915. In: R.Steiner. Wege der

   geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer

   Weltanschauung. G.A.161. Dornach 1980. S.51-58

5  Rudolf Steiner. Vier Mysteriendramen. G.A.Bd.14.Dornach 1962. 

    S.164 + 169

6  Rudolf Steiner. Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?",

    G.A.10, Dornach 1975, S.18.

Rolf Speckner: Dante, Vergil und die Schule des Michaelischen Zeitgeistes
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