Die Michaelschule und die Freimaurerei im 18.Jahrhundert

Die Entstehung der Michaelschule

     Die Michaelschule ist nicht bloß eine irdische Angelegenheit. Sie bildete sich heraus, als ein Teil der Menschheit in die Lage kam, sich nicht mehr allein an den überkommenen Traditionen orientieren zu können, sondern empfand, die Verantwortung für das als erkannt Angenommene und Bewahrte selbst übernehmen zu müssen. Als ein weite Teile der Menschheit (nicht bloß Europas) ergreifendes Geschehen können die Veränderungen des menschlichen Bewusstseins zwischen 1400 und 1420 angeführt werden: die Entdeckung der Gesetze der Perspektive, die Gewinnung des Letternmetalls in Europa, die den raschen und massenhaften Buchdruck ermöglichte, die Entdeckungsfahrten u.s.w.

     Doch in den Häuptern und Herzen einer kleineren Gruppe hatte sich dieser Umschwung schon früher zugetragen, etwa von der Mitte des 13.Jahrhunderts an. Denn den äußeren Entwicklungen und Nöten stand ein gewaltiger innerer Umschwung zur Seite. Man kann vielleicht kurz sagen: die kosmische Intelligenz kam auf der Erde an, in den Köpfen der Menschen. Mikrokosmisch spiegelte sich das darin, dass das Zentrum des Menschen von mehr und mehr Menschen nicht mehr im Herzen sondern im Haupt erlebt wurde.

    Diese Tatsachen machten die Entwicklung einer neuen Spiritualität notwendig, die durch Christian Rosencreutz geschaffen wurde. Natürlich wurde die spirituelle Weisheit der antiken und vorchristlichen Mysterien nicht außer Kraft gesetzt. Insofern es sich dabei um die Kenntnis des äußeren Menschenwesens handelte, war das göttliche Wissen (Theosophie) vom Menschen nicht außer Kraft gesetzt; nachdem aber durch das Hereinwirken des Christus der Natur und dem Menschen ein Wandlungsimpuls einverleibt worden war, der dem vorchristlichen Menschen noch nicht zur Verfügung stand und der in der Mysterienweisheit keine Rolle spielte, musste die Erkenntnis des Menschenwesens und der Natur  um das Wissen von Christus und seinem Wirken für die Menschheit erweitert werden.

     Die Aufgabe, die alte Weisheit mit dem neugewonnenen Zukunftswissen zu vereinen, wurde Christian Rosenkreutz anvertraut. Erschwert wurde diese Aufgabe dadurch, dass sich das Verhältnis der Menschen zur geistigen Welt damals änderte. Hatten bis dahin die Geister der Form die Aufgabe erfüllt, dem Menschen wenn er an die Schwelle des geistigen Erlebens herankam, Imaginationen zu geben, beendeten die Geister der Form diese Aufgabe in der Mitte des 13. Jahrhunderts. An ihrer Stelle übernahmen die Geister der Persönlichkeit diese Aufgabe, lösten sie aber von nun an ganz anders. Sie ließen den Menschen selbst die Imaginationen mit seiner Phantasiekraft schaffen, und erfüllten diejenigen Bilder, die sie als wahr ansehen konnten, mit ihrer Wirklichkeit.

    Es musste also in der Zeit um 1250 nicht nur die Mittelpunktstellung des Ich im historischen Werdegang begriffen werden, sondern es wollte dieses Ich auch tätig werden, wenn es in eine reale Beziehung zur übersinnlichen Welt treten wollte. In dem Moment, in dem die Rolle des Ich für die weitere Entwicklung begriffen werden musste, musste zugleich das Ich sich selbst als das Sich entwickelnde betätigen. Nur wer sich selbst entwickelt, kann Entwicklung denken.

    Ohne eine bewusste eigene Vorstellungstätigkeit war von nun an eine geistige Erkenntnis nicht mehr möglich. Weil der Quell der imaginativen Bilder versiegte, schufen Menschen, die diese Zeitnotwendigkeiten verstanden hatten, nämlich die sog. Rosenkreuzer, die Märchen und verbreiteten sie in den Völkern.

    Die anfängliche Unsicherheit in der Phantasieentfaltung führte nach 1250 in der spätmittelalterlichen Literatur zu einer auffälligen Zunahme der Phantastik. Es ist kein Zufall dass der letzte große mittelalterliche Dichter, Rudolf von Ems, 1251 starb. Walter von der Vogelweide war schon um 1230 gestorben. Und im Jahre 1244 war Jerusalem den Christen für Jahrhunderte verloren gegangen. Man kann sich unschwer vorstellen, welche Bedeutung der Fall Jerusalems für die Entwicklung der Phantasie hatte.

    Während sich die den Menschen zu seinem besten begleitenden Mächte um der Ausbildung der Phantasiekräfte zur Imaginationskraft willen zurückhielten, griffen andere unsichtbare Mächte, die sich davon einen Gewinn für sich erwarteten, in das menschliche Phantasieleben ein. Die phantastischen Szenen der spätmittelalterlichen Romane sind ein Ausdruck dieser Einmischung spiritueller Mächte, die den Menschen daran hindern wollten, zur Klarheit der Bewusstseinsseele zu kommen. Man nennt diese Mächte luziferische.

In dem soweit geschilderten können wir einige Ausgangspunkte der übersinnlichen Michaelschule erkennen. Michael, der zu den sich zurückhaltenden geistigen Mächten gehört, erfüllte und erfüllt seine Aufgabe seither so, dass er diejenigen Ideen und Bilder, die der Mensch sich von sich selbst macht, und die er seinem Wesen einzuverleiben sucht,  unterstützt, so dass sie mit seiner Hilfe den Leib besser durchdringen können. Das liegt ganz in der eben angedeuteten Strebensrichtung der Geister der Persönlichkeit. Michael wurde daher auch der „Erzengel des psychischen Idealismus“[1] genannt.


[1] Rudolf Steiner. Gut und Böse. Vortrag in Berlin. 24.6.1904. In: Ga. 92. Die okkulten Wahrheiten alter Mythen und Sagen. Dornach 1999. S.20.

    Vorbedingung für die Entstehung der Michaelschule war die Umschmelzung der vorchristlichen Mysterienweisheit in eine solche, die in das Wissen von den Taten  des Christus getaucht war. Das eben hatte Christian Rosenkreutz im Rahmen seiner Initiation im Jahre 1248 begonnen. Erst nachdem das geschehen war, konnte eine Schule, in der die Mysterien aus einem ichhaften Gesichtspunkt durchgenommen wurden, entstehen.

Die erste Phase der Michaelschule

    Hier wäre ein Kapitel über die erste Entwicklungsphase der Michael-Schule im Mittelalter am Platze, das ich später einfügen werde.

Impulse der Michaelschule in der Kultur um 1800

    Das Wirken des Zeitgeistes Michael in der Gegenwart hat sich also längerfristig vorbereitet in der übersinnlichen Welt. In verschiedenem Maße hat sich die Wirksamkeit Michaels in der äußeren Kultur offenbart. Bevor die Impulse des Erzengels in der Geistes-Wissenschaft Rudolf Steiners in begrifflicher Form auftraten, zeigten sie sich in der Form von imaginativen Bildern. Rudolf Steiner erwähnt als Beispiel dafür ‚Das Märchen‘ von Johann Wolfgang von Goethe wie auch dessen ‚Geheimnisse‘. Dass sich Rudolf Steiner der übersinnlichen Inspiration Goethes zu seinem Märchen schon sehr früh bewusst war, geht aus einem Brief an Richard Specht hervor: „Goethes ganzes Glaubensbekenntnis liegt in diesem Märchen, - und man kann es nicht erklären, ohne gewisse Dinge durchgemacht zu haben, die in der Zeit von 1790-1820 in Deutschland still und unsichtbar sich abspielten. Ich bin auf einer ganz besonderen Spur.[1]  Rudolf Steiner endet diesen Brief aus dem Jahre 1890 „…mit esoterischem Händedruck“. Dass Rudolf Steiner zumindest auch übersinnliche Vorgänge gemeint hat, liegt nahe, denn wie soll man heute „gewisse Dinge durchmachen, die in der Zeit zwischen 1790 - 1820 in Deutschland still und unsichtbar sich abspielten“? Offensichtlich hatte Rudolf Steiner 1890 bereits Einblick in Vorgänge, die sich hundert Jahre früher „still und unsichtbar“ abgespielt haben. Doch muss es auch Vorgänge auf der Erde gegeben haben, die mit den still und unsichtbar sich abspielenden verbunden waren.

    Rudolf Steiners Brief entstand vier Jahre vor der Veröffentlichung seiner „Philosophie der Freiheit“. Er lässt die Frage berechtigt erscheinen, ob man in der Biographie Rudolf Steiners wirklich von einer gradlinigen Entwicklung von der Philosophie zum Okkultismus sprechen kann.  

    Ein Jahr später, also 1891, hat Rudolf Steiner begonnen über Goethes Märchen zu sprechen, und zwar im Wiener Goethe-Verein. Es sollte aber noch fast ein Jahrzehnt dauern, bis er am 29. September 1900 zum ersten Mal „ganz esoterisch“ sprechen konnte, nämlich als er zu Michaeli vor den Berliner Theosophen über das Märchen sprach. Es war der Weltaugenblick, in dem das Kali Yuga abgelaufen war und das lichte Zeitalter eben anbrach. Auch in Hamburg stellte sich Rudolf Steiner bereits im Sommer 1901 mit Ausführungen zu Goethes esoterischer Weltanschauung vor. Es war wie es scheint der erste Vortrag außerhalb Berlins und es folgten weitere an anderen Orten. In Hannover sprach er z.B. erstmals im November 1901, und zwar wieder über Goethes Märchen. Er machte damit vor dem kleinen Kreis der Theosophen und vor aller Welt deutlich, woran er als Esoteriker anknüpfte.


[1] Rudolf Steiner an Richard Specht. Weimar 30.11.1890. Briefe, Band II, G.A.39. S.37.

    Goethe hatte seinen Impuls zum Märchen nicht allein einer einsamen Inspiration aus der Erzengelwelt verdankt, sondern auch Schillers „Ästhetischen Briefen“[1]. Schiller hatte ihm die Briefe zugeschickt, in denen er – der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – die Freiheitsfähigkeit des Menschen in eines jeden Künstlertum begründet. Die philosophischen, an Kants strengem Duktus geschulten Darlegungen Schillers, die in der Zeit zwischen 1791-1794 entstanden sind, hatte Goethe „wie einen köstlichen Trunk“ herunter geschlürft und an diese Lektüre anknüpfend entstand in seiner Seele das Märchen. Sowohl Schiller wie auch Goethe standen unter ein und derselben Inspiration, denn sie waren sich einig, dass sie von demselben sprachen.


[1] Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.

    Friedrich Schiller wiederum weist in den Ästhetischen Briefen darauf hin, dass er grundlegende Gedanken seines Buches in Vorlesungen Fichtes in ganz anderer Form wiederfinde. Dieser Hinweis ist bisher wenig beachtet worden: „Ich beziehe mich hier auf eine kürzlich erschienene Schrift ‚Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten‘ von meinem Freund Fichte, wo sich eine sehr lichtvolle und noch nie auf diesem Wege versuchte Ableitung dieses Satzes findet“, schreibt Schiller in einer Anmerkung zum 4. Brief. Er meint den zentralen Satz, wonach jeder individuelle Mensch einen reinen idealischen Menschen in sich trägt. In diesem Satz ist im Grunde ja von den höheren Wesensgliedern, von einem zweifachen Ich, die Rede.

    So zeigt sich, dass Fichtes Philosophie des Ich, Schillers ‚Ästhetische Briefe‘ und Goethes ‚Märchen‘ ein und derselben Inspirationsquelle entstammen. Die Freunde entzünden sich gegenseitig an dem, was in dem anderen lebt und durch alle drei tritt in dreifacher Weise dieselbe Inspiration zu Tage. Betrachten wir das Märchen etwas genauer.

"Das Märchen von der grünen Schlange"

   Seit Menschengedenken ist die Kluft, die zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten erlebt wird, als ein Strom oder Fluß dargestellt worden. Für die Ägypter war es der Nil selbst, der die Toten („die Westlichen“) von den Lebenden trennte. Auch zu der sumerisch babylonischen Unterwelt mußten die „Wasser des Todes“ mit Hilfe des Fährmanns Urschanabi überwunden werden. Die Griechen sprachen von vier Unterweltsflüssen, vom Styx und vom Acheron, vom Kokytos und Phlegeton. Vergils Äneis belegt im 6. Buch die Übernahme der griechischen Imagination in die bilderarme römische Vorstellungswelt: weil Äneas den goldenen Zweig vorweisen kann – lebendiges Gold – nimmt ihn Charon freundlich in den schwankenden Kahn und führt ihn hinüber.

   Genau dieses Bild stieg in Goethes Seele auf, als er 1794/5 mächtig von Schillers Ästhetischen Briefen angeregt sein „Märchen“ schrieb.  Der Dichter fügte das Märchen in seine „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ ein, in denen er die Gespräche von Flüchtlingen aus dem Elsaß schildert, einer adligen Familie mit einer Gruppe von ihr verbundenen bürgerlichen Flüchtlingen. Sie waren auf der Flucht vor den französischen Revolutionsheeren über den Rhein gekommen und erzählen einander nun Geschichten, z.T. selbsterlebte, z.T. gehörte, oder auch frei erfundene.

   Ähnliches gilt nun auch von der Ankunft des Menschen bei der Geburt. Doch weil die Frage nach dem nachtodlichen Dasein bedrängender ist als die nach der vorgeburtlichen Existenz des Menschen, sind auch die Bilder des nachtodlichen Daseins bekannter als die des vorgeburtlichen. An den Nilufern erzählte man sich, daß das Moseskind in einem Schilfkästchen auf dem Wasser angetrieben worden sei. Platon bezeugt die griechische Ansicht, daß die aus dem Reich des Vorgeburtlichen zur Wiederverkörperung schreitenden Menschen, bevor sie sich verkörpern dürfen, aus dem Lethefluß trinken müssen, wodurch sie ihre vorgeburtlichen Erlebnisse vergessen. Schließlich kennt immer noch nahezu jeder Mitteleuropäer das Bild, daß der Storch die Kinder bringt, nachdem er sie aus einem Teich gehoben habe.

   So führen gemäß diesem alten bildhaften Wissen die beiden spirituellen Wege, der Weg des Ostens durch das Tor der Geburt sowie der westliche über die Todesschwelle, zunächst an ein Wasser, an einen Fluß. Die östliche Überfahrt wird naturgemäß am Morgen des Lebens vollbracht, die westliche am Lebensabend.

    Die Rahmenerzählung erinnert ferner an Boccaccios Decamerone. In dieser italienischen Novellensammlung aus dem 14.Jahrhundert sind es eine Reihe von jungen Leuten, die vor einer in Florenz ausgebrochenen Pestepidemie aufs Land geflüchtet sind, und dort – unter Erzählungen – das Ende der Seuche abwarten. Tatsächlich hat sich Goethe auch 1794 während der Abfassung der Unterhaltungen mit Boccaccio beschäftigt.[1] Während sich aber Boccaccios junge Leute die Zeit mit dem Erzählen von humorvollen, bezaubernden und in Einzelzügen auch recht derben Liebesgeschichten vertreiben, kreisen die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ ausnahmslos um Grenzerfahrungen zum Übersinnlichen.


[1] Schiller an Goethe. 28.10.1794 und 19.3.1795.

   Die Reihenfolge der Erzählungen lässt eine bewußte Steigerung erkennen. Goethe beginnt mit einer Erzählung, in der ein leidenschaftlicher und zurückgestoßener Liebhaber die von ihm Verehrte nach seinem Tode heimsucht. Klägliche Schreie, Pistolenschüsse, Händeklatschen und schließlich feine schwebende Töne verfolgen sie anderthalb Jahre lang. Es ist eine Geschichte recht nach dem Herzen amerikanischer Spiritisten. Es folgen weitere einfache spukartige Phänomene, die immer unerklärt bleiben, und eine Klopfgeistergeschichte. Nach einer Reihe von weiteren Erzählungen gipfelt die Reihenfolge vorläufig in der Erzählung des Ferdinand, der nur von seinen Empfindungen geleitet eine wunderbare selbstgeführte seelische Entwicklung erkennen lässt. Er braucht keine Wunder, weil er den Entwicklungswillen in sich spürt. Er ist selbst das Wunder. Danach kommt als Abschluß das „Märchen“, das, wenn es diese Reihe fortsetzt, nur eine vollbewusste geistige Entwicklung, eine Initiationsgeschichte darstellen kann.

   Ganz in diesem Sinne versteht auch Rudolf Steiner die Einbettung des Märchens in die ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘. In dem Interesse, das die spiritistischen Vorgänge in den ersten Erzählungen wecken, sieht er einen Dämmerzustand des Erwachens der Seele zu ihren tieferen Fragen. Wenn die Sehnsucht nach einer unmittelbaren Erkenntnis der geistigen Welt sich nicht richtig versteht, dann interessiert sie sich für Gespenster. Goethe habe sich immer wieder gefragt: „Giebt es für die Menschenseele nicht eine Möglichkeit, sich von den Vorstellungen, die nur aus der sinnlichen Wahrnehmung kommen, zu befreien und in einem rein geistigen Anschauen eine übersinnliche Welt zu ergreifen? Es könnte ja wohl der Drang nach einer solchen Betätigung des Erkenntnisvermögens ein naturgemäßes menschliches Streben darstellen, das auf einem für die Sinne und den auf diese gestützten Verstand verborgenen Zusammenhang mit einer solchen Welt beruht. Und die Neigung zu Erlebnissen, welche den natürlichen Zusammenhang zu durchbrechen scheinen, könnte nur eine kindliche Abirrung von dieser berechtigten menschlichen Sehnsucht nach einer geistigen Welt sein.“ [1] Das Ziel dieser Sehnsucht zeigt das ‚Märchen‘.

   Goethe lässt – noch in der Dunkelheit des anbrechenden Morgens – selbstleuchtende Irrlichter aus dem Jenseits ins Diesseits von einem Fährmann übersetzen, der seine Gäste nur in dieser Richtung übersetzen darf. Das Tor der Geburt passiert man auf natürlichem Wege nur in einer Richtung.  Der angeborene Witz der Irrlichter lässt  sie den Kahn übermütig zum schaukeln  bringen. Sie achten ihre eigenen erhellenden Gedanken nicht. Kaum hervorgebracht, schütteln sie sie ab und lassen sie als geprägte Münzen (Begriffe) liegen. Den wahren Wert ihrer Gedanken erkennen sie nicht. Kaum angekommen, stellen die Irrlichter mit Bestürzung fest, dass sie dort, wo sie suchen, das Gesuchte nicht finden werden, dass sie wieder auf die andere Seite zurück müssen.    

 

[1] Rudolf Steiner. Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch sein ‚Märchen von der Grünen Schlange und der Lilie‘. (1899/1918). In: R.St. Goethes geheime Offenbarung. Dornach 1982. S.12-13.

   Eine grüne Schlange erzählt den Irrlichtern dann, dass man abends in der anderen Richtung hinübergelangt, indem man sich von dem Schatten des Riesen tragen lässt. Der Riese vermag als Inbegriff der den Erdentaten zugewandten Willenskräfte hinsichtlich des Übergangs über den Fluß gar nichts; doch sein Schatten, die Ermüdung des Tages,  trägt uns jeden Tag – wie am Lebensende – hinüber. Nur morgens und abends kommt man auf natürliche Weise herüber bzw. hinüber: im Aufwachen bzw. Geborenwerden und im Einschlafen bzw. Sterben.

   Nun lässt Goethe in seinem Märchen die Schlange überraschenderweise davon sprechen, dass es noch einen dritten Weg gibt, - einen Weg, der am hellichten Tage in der Mittagszeit gegangen werden kann. Seine Schilderung macht auf eine dritte spirituelle Strömung in der Welt  aufmerksam, die gerade in der Goethezeit in Mitteleuropa besonders stark hervorgetreten ist. Diesen dritten Weg in das jenseitige Land eröffnet in seiner Erzählung die Grüne Schlange auch praktisch. Jeden Mittag errichtet sie mit ihrem Leib eine Brücke über den Strom. Diejenigen, die im Märchen hinüber wandern, suchen allesamt den Anblick der schönen Lilie. 

   Die schöne Lilie wohnt nämlich jenseits des Flusses und der Jüngling, der sie liebt, kann sich mit ihr, die ihn auch liebt, nicht vollends verbinden. Täglich geht er auf dem mittäglichen Weg hinüber, den die Schlange für kurze Zeit baut, kann Lilie aber nur anschauen, ohne sie mit ins Diesseits nehmen zu können. Das Anschauen des hocherstrebten, geliebten Zieles, das er doch nicht erlangen kann, lähmt die Schwingen des edlen Jünglings. Berührt er sie, genauer gesagt: lässt er sich von ihr berühren, so muss er tot umfallen, d.h. er muss dann sein Eigenleben aufgeben.

  Die grüne Schlange aber, die in den Klüften lebt, hatte die geprägten Goldmünzen, welche die Irrlichter klingend abgeschüttelt hatten, sorgsam aufgesammelt und in sich aufgenommen. Dieses Gold hatte sie sich so einverleiben können, dass sie von innen her leuchtete. Die Schlange ist hier das Bild desjenigen in der Menschenseele, das sich fortwährend rege über den Boden hin fortbewegt. In der ‚Chymischen Hochzeit‘ wohnt sie in einem Schädel und tritt aus dem einen Auge heraus und in das andere wieder ein. Sie ist das gestaltende Denken. Man kann mit Gedanken so umgehen, daß man sie – kaum geboren – schon der Welt präsentiert und auf sie anwendet wie es die Irrlichter tun. Die grüne Schlange hingegen „verdaut“ die Gedanken: sie ruht, nachdem sie die Gedanken erstmals gedacht hat,  weiterhin denkend und fühlend auf ihnen und lässt sich von dem Licht der Gedanken von innen her verwandeln.

   Im Märchen hatte die Schlange schon seit langem die Möglichkeit geschaffen, für kurze Zeit in der größten Bewusstseinshelligkeit hinüber zu gelangen in das Reich unseres Ursprungs. Über den von ihr kurzzeitig mittags geschlagenen Bogen gelangte der Jüngling hinüber und konnte die Schöne Lilie wenigstens anschauen. Sich mit ihr im Diesseits zu vereinen war dem Jüngling aber auch durch diese Tagesbrücke noch verwehrt. Was er drüben gewahr wurde, konnte er nicht in das Diesseits übertragen.

   In Schillers „Ästhetischen Briefen“ fand Goethe – wie gesagt - die philosophische Anregung für sein imaginatives Bild: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen überein zu stimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“  Schiller schreibt nicht: „Jeder Mensch...“ sondern „Jeder individuelle Mensch ...“. Das von ihm im Weiteren Ausgesprochene gilt demnach nicht für jeden Menschen sondern nur für jeden individuellen Menschen. Was aber ein individueller Mensch ist, setzt er nicht voraus, sondern bestimmt es gerade im Folgenden. Denn individuell wird der Mensch dadurch, dass er „die große Aufgabe seines Daseins“ als seinen Willen ergreift. Er ist durch seine natürliche Entwicklung nicht identisch mit dem „reinen idealischen Menschen in sich“, aber er war es in der Anlage (vorgeburtlich) und wird es seiner Bestimmung nach werden (nachtodlich). Die Anlage steht am Ausgangspunkt jeder menschlichen Entwicklung, die Bestimmung am Ziel oder Ende. Auch hier werden wir leise auf das Tor der Geburt und das Tor des Todes gewiesen. Jenseits dieser beiden Tore ist die Einheit mit dem reinen idealischen Menschen – der Lilie – möglich.

   Im Beginne seines Daseins war der Mensch mit der schönen Lilie vereint und er wird es am Ende seiner Erdentage wieder werden. Die große Aufgabe seines Daseins ist es, im Dasein mit der unveränderlichen Einheit des reinen idealischen Menschen (der Lilie) übereinzustimmen. Niemand kann dem Menschen eine solche Aufgabe geben, nur er selbst. Stellt der Mensch sich selbst diese Aufgabe, dann wird er individueller Mensch. Wenn der Mensch (der Jüngling) eine Idee von sich zum Ideal erhebt, wenn er diese Idee liebt, dann strebt er danach, mit dem reinen idealischen Menschen überein zu stimmen – in allen seinen zeitlichen Abwechslungen. Jeder Mensch ist ein solcher Jüngling, ein Königssohn ohne Land – egal ob Mann oder Frau, ob schwarz, weiß oder gelb, ob Franzose, Russe oder Jude. Überall gibt es heute Einzelne, die danach trachten, ihr daseiendes Wesen mit der Lilie zu vereinen.   

   Dabei bildet das reine Denken für den Jüngling eine vorläufige Brücke, indem es ihm die Ideale bei hellstem Bewusstsein allererst sichtbar macht. Doch kann er sie zunächst nicht bleibend mit seinem Dasein verbinden. Zwar kann er sie immer wieder anschauen und die Sehnsucht neu entfachen, sich mit ihr dauernd zu vereinen, doch kehrt er immer wieder zurück auf das diesseitige Ufer, wo seine höhern Kräfte wie gelähmt erscheinen.

   Tatsächlich ist das Ideal der Ursprung des eigentlichen Menschen im Menschen. Die Idee will sich selbst – und indem sie sich selbst verwirklicht, wird sie ihr eigenes Ziel: sie ist Selbstzweck. Mit diesem Blick auf das Urbild der mitteleuropäischen Esoterik muss es hier ein Bewenden haben.

'Die Geheimnisse'

    Auch schon Goethes 1784 entstandenes Gedicht ‚Die Geheimnisse‘ verdankt sich einer rosenkreuzerischen Inspiration aus der Michael-Schule. Goethe kennzeichnet sein Gedicht in diesem Sinne, indem er über dem Tor des abgelegenen Heiligtums, zu dem der Bruder Markus im Gebirge den Weg findet, ein Rosenkreuz anbringt. Bruder Markus findet, wie Steiner sagt, „da das Kreuz, aber in besonderer Art: das Kreuz von Rosen umwunden. Und er spricht da ein bedeutungsvolles Wort, das nur derjenige verstehen kann, der da weiß, wie oft und oft jenes Kennwort in den geheimen Bruderschaften gesprochen worden ist: ‚Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?‘ Und in der Mitte des Kreuzes sieht er drei Strahlen wie von der Sonne ausgehen. Er braucht sich nicht in Begriffen die Bedeutung dieses tiefen Symbolums vor die Seele zu rufen. Es lebt in seiner Seele, seiner reifen Seele, Empfindung und Gefühl dafür. Seine reife Seele kennt alles, was darin liegt.“[1]


[1] Rudolf Steiner. ‚Die Geheimnisse‘ ein Weihnachts- und Ostergedicht von Goethe. Köln 25.12.1907.  In: G.A.98, S. 66.

    Vor der Abfassung dieser Dichtung hatte Goethe ebenfalls anregende Gespräche, und zwar mit Johann Gottfried Herder und Frau von Stein.[1] Herders große Historischen Ideen hatten Goethe begeistert. Herder hatte schon 1774 die Geistesgeschichte als eine „Epopee Gottes durch alle Jahrtausende, Weltteile und Menschengeschlechte“ begriffen, als einen „Gang Gottes über die Nationen“.[2] Indem Herder 1781 den Menschen zum höchsten Geschöpf in der „großen Gestaltenkette der Naturwesen“[3] machte, wurde der Mensch ihm zugleich zum untersten Glied einer Welt geistiger Wesen. Ein Mittelwesen wurde er. Auf dem fruchtbaren Acker solcher Gedanken konnte die Imagination der Zwölf, die durch den Dreizehnten in ihrer Mitte geeint wurden, Gestalt annehmen. Denn die zwölf, zu denen Bruder Markus kommt, sollten Repräsentanten der großen Kulturen und ihrer Religionen sein, die wiederum Ausdruck der Vielfalt der geistigen Welt waren. Goethe lebte auch in dieser Zeit in einem Kreis von Menschen, die von derselben Geistigkeit inspiriert waren wie er.


[1] Erich Trunz. Kommentar zu ‚Die Geheimnisse‘. In: Goethes Werke (sog. Hamburger Ausgabe). Bd. II, München 1976. S.653.

[2] Johann Gottfried Herder. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. 1774

[3] Johann Gottfried Herder. Drei Gespräche über die Seelenwanderung. ... 1781.

    Nun bezeichnet Rudolf Steiner die Frage ‚Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?‘ aber als ein Kennwort in den geheimen Bruderschaften. Wenn er das zu Recht sagt, muss er selbst das Kennwort kennen. Vor allem aber muss auch Goethe es gekannt haben. Und in der Tat ist Goethe 1780 von J.J.C. Bode in Weimar in die Loge Amalia aufgenommen worden.[1] 1782, also zwei Jahre vor der Abfassung der ‚Geheimnisse‘, ist er in einer Loge der Templerischen Strikten Observanz in Weimar in die Rittergrade erhoben worden. Da in den Rittergraden tatsächlich ein Raum, der dem von Goethe beschriebenen recht ähnlich ist, genutzt wurde, zeigt sich, dass Goethe wiederum einerseits seinen Genius an den Ideen seiner Freunde entzündete, aber andererseits auch an Erlebnissen, die er in einer Freimaurerloge gehabt hat. Diese Inspirationen flossen – sich gegenseitig ergänzend und beleuchtend – 1785 in ein einheitlich geformtes Kunstwerk ein: ‚Die Geheimnisse‘.


[1] Susanne B.Kellner (Hrsg.). Königliche Kunst. Freimaurerei in Hamburg seit 1737. Hamburg 2009. S.24

    Dabei ist zu berücksichtigen, dass damals das Wort ‚Geheimnisse‘ synonym gebraucht wurde mit dem Wort ‚Mysterien‘. So wurden z.B. die Mysterien von Eleusis vielfach als die Geheimnisse von Eleusis bezeichnet.[1] Unter diesem Gesichtspunkt könnten Goethes Stanzen auch den Titel tragen ‚Die Mysterien‘.


[1] Vgl. z.B.: [Anonym] Über die alten und neuen Mysterien. Berlin 1782. – Der Verfasser ist nach eigenem Bekunden an anderer Stelle der evangelische Konsistorialrat und Freimaurer Johann August Starck (1741-1816).

    Das Bild der zwölf Repräsentanten der großen Strömungen des menschlichen Geisteslebens, die von einem Dreizehnten in Harmonie gebracht werden, ruft natürlich das Bild des Abendmahls wach; aber es weckt auch die Erinnerung an die Initiation des Christian Rosenkreutz in der Mitte des 13. Jahrhunderts[1] und dessen Wiederkehr hundert Jahre später, um mit den Schülern der Zwölfe die Arbeit fortzusetzen.[2] Was von diesem Kreis als Symbolik erarbeitet worden ist, wurde im 17. Jahrhundert von Hinricus Madathanus Theosophus gesammelt und 150 Jahre später 1785 – zur Zeit der Abfassung der ‚Geheimnisse‘ – in Altona veröffentlicht.[3] 


[1] Rudolf Steiner. 27.9.1911 in Neuchâtel. In G.A. 130. Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. Dornach 1962. S.57-68. Hier S.61

[2] Rudolf Steiner. 28.9.1911 in Neuchâtel. In G.A. 130. Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. Dornach 1962. S.69-79. Hier S.69

[3] Die Lehren der Rosenkreuzer aus dem 16. Und 17.Jahrhundert. Erstes Heft. Aus einem alten Mscpt zum erstenmal ans Licht gestellt. Altona 1785. Neu hrsg. Von Walter Schneider. Verlag Engel & Co., Stuttgart 2006.

Michael hinter einem Chemiekolben, in dem ein Unterricht über die Wirkungen der sieben Planeten stattfindet. Geheime Figuren der Rosenkreuzer. 1.Heft. Altona 1785.

Symbolum

Des Maurers Wandeln

                                               Es gleicht dem Leben,

Und sein Bestreben

Es gleicht dem Handeln

Der Menschen auf Erden.

 

Die Zukunft decket

Schmerzen und Glücke

Schrittweis dem Blicke,

Doch ungeschrecket

Dringen wir vorwärts.

 

Und schwer und schwerer

Hängt eine Hülle

Mit Ehrfurcht. Stille

Ruhn oben die Sterne

Und unten die Gräber.

 

Betracht‘ sie genauer

Und siehe, so melden

Im Busen der Helden

Sich wandelnde Schauer

Und ernste Gefühle. 

                                              

Doch rufen von drüben

Die Stimmen der Geister,

Die Stimmen der Meister:

                                               Versäumt nicht zu üben

Die Kräfte des Guten.

 

Hier winden sich Kronen

In ewiger Stille,

Die sollen mit Fülle

Die Tätigen lohnen!

Wir heißen Euch hoffen.‘

 

[1] Johann Wolfgang von Goethe. Werke.(‚Hamburger Ausgabe‘). Bd.1, 10.Aufl. München 1974. S.340-41.

    Die sechs Strophen sind gewiss nicht leicht zu verstehen. Sie werden deshalb gerne als Weltanschauungslyrik qualifiziert oder disqualifiziert. In der dritten und vierten Strophe hat Goethe eine Situation geschildert, die für eine Situationsmeditation geeignet erscheint: ein Initiationsbild. In der ersten Strophe sagt Goethe, dass das Wandeln des Maurers dem Handeln der Menschen um uns herum gleicht. Sein Streben ist kein anderes als das aller Menschen. Damit weist er auf das Allgemeinmenschliche des Maurerischen Bestrebens hin. Was alle tun und suchen, das bestimmt auch das Tun und Suchen des Maurers. Was Goethe nicht sagt, ist, dass der Maurer weiß, was er tut und sucht. Das wird aber im Weiteren deutlich.

    Denn in der zweiten Strophe geht Goethe von der räumlichen zur Zeitenperspektive über. Wir sind im Zeitenstrom, aber die Grenzen zur Vergangenheit und zur Zukunft sind verschlossen. Mindestens die Zukunft ist verdeckt. Wir dringen dennoch „ungeschreckt“ vorwärts. Je mehr wir aber versuchen, aus voller Erkenntnis der Lebensbedingungen zu handeln, je bewusster wir uns ins Verhältnis zur Welt setzen, umso schwerer wird die Ungewissheit der Zukunft und die Unverständlichkeit des Schicksals empfunden. Daraus entsteht nun das berechtigte Streben nach einer Initiation. Und das ehrfürchtige Anschauen und Annehmen des Schicksals ist eine Voraussetzung ihres Gelingens.

    Und nun kommt die Andeutung der rituellen Initiation, die aber zugleich – wie wir sehen werden - ein imaginatives Bild der Einweihung in der heutigen Michaelschule ist. Goethe lenkt unseren Blick hinauf zu den Sternen, zum Himmelszelt, und dann hinab zu einem Grab oder „den Gräbern“.

    Man muss auf diesem Bild ruhen, muss mit ihm leben, um gewahr zu werden, was Goethe meint. Der Freimaurer wird sich an eine Situation erinnern, wo er am Boden lag und er über sich das Sternenzelt sah. In vielen Logenhäusern gibt es einen solchen Raum, an dessen Decke der Sternenhimmel nachgebildet ist.  

    Der physische Leib des Toten oder des in einen totähnlichen Zustand Versetzten liegt dem Sternenhimmel gegenüber. Es stehen sich gegenüber die Sterne mit ihrem Repräsentanten, dem Tierkreis, auf der einen Seite und das mikrokosmische Werk des Sternenhimmels: der physische Leib. Der Maurer erkennt den Zusammenhang der moralischen Wirkung der Sternbilder mit der Stärke des physischen Leibes.

    In der zweiten Situation liegt der zum Meister zu Erhebende in einem Sarg mit geschlossenem Deckel. Nachdem der Deckel geöffnet ist, wird er mit einem geschickten Griff aufgerichtet. Nach den Schauern und ernsten Gefühlen versteht der wiederaufgerichtete Mensch, der nun ein wieder aufgerichteter Tempel geworden ist, die Stimmen der Geister. Die Welt spricht mahnend zu ihm. Am verdichtetsten klingt ihre Sprache in den Stimmen „der Meister“.  Und die Geister und Meister rufen: Übe….! Übe….! Übe….!

   Wir finden uns heute im Tagesbewusstsein, dem Grab des Denkens, dem menschlichen Leibe gegenüber und wir greifen hinauf hinter uns, um die Sterne zum Leuchten zu bringen, die in die toten Gedanken hinein gestorben sind. Wir ruhen auf den Gräbern des Denkens und betrachten sie genauer. Aber dieses Ruhen und Betrachten als gestaltende, kraftvolle Tätigkeit ist dasjenige, was uns in das tätige Denken hinein aufwachen lässt. Wir richten uns auf, indem wir Quell und Tätigkeit des Denkens zu unserem Eigentum machen. In uns selbst finden wir die Kraft, die sich selbst als moralisches Wesen bestimmt, die sich selbst ihre Richtung gibt: den Ritter zwischen Tod und Teufel.

    Für dies Gedicht aus dem Jahr 1815 hat Rudolf Steiner eine Eurythmieform geschaffen. Sie besteht aus einem großen Fünfeck, in das fünf weitere Fünfecke einverwoben sind. Das Dominieren der Fünfecksform hängt damit zusammen, dass „die Eröffnung des Verständnisses für das mystische Fünfeck“ nach Rudolf Steiners Ansicht zu den zwei zentralen Aufgaben der okkulten Freimaurerei gehört.[1] Als zweite zentrale Aufgabe bezeichnet Rudolf Steiner „die Herstellung des Steines der Weisen“. Während das Ziel der Arbeit im Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad die Verwandlung des Seelenleibes und der Empfindungs- und Verstandesseele ist, haben die sog. Hochgrade die Aufgabe der Verwandlung des Ätherleibes (Geheimnis des mystischen Fünfecks) und des physischen Leibes (Herstellung des Steins der Weisen). Aber natürlich musste das, was in den oberen Graden ausgeführt werden sollte, in den unteren veranlagt werden, und das, was in den unteren Graden erreicht wird, in den Hochgraden bewahrt und vertieft werden.

     Damit ist nur gekennzeichnet, welche Aufgaben die Grade bzgl. der Menschenveredelung erfüllen sollten. Dass damit Aufgaben gegenüber dem Menschenumkreis, den Natur-Reichen und dem, was über dem Menschen steht, verbunden sind, ist evident. Mir scheint, Goethe hat darauf mit den drei Ehrfurchten hingewiesen.


[1] Rudolf Steiner. 16.12.1904 in Berlin. In GA 93. Die Tempellegende und die Goldene Legende. Dornach 1979. S.104.    

 

Lessings Erziehung des Menschengeschlechts

    Als ein weiteres Beispiel für den inspirierenden Einfluss der Michaelschule können einige Spätwerke Gotthold Ephraim Lessings angeführt werden, insbesondere natürlich seine 1780 vollständig gedruckte ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘. Rudolf Steiner spricht von einem direkten Einfluss des Christian Rosenkreutz, der „unsichtbar auf Lessing gewirkt hat und der ihn zu der Schrift inspirierte.[1] Lessing charakterisiert die Kulturen und ihre Religionen als menschenkundlich begründet. Die Religion des Alten Testaments entwickle andere Seiten des Menschenwesens als die der christlichen Religion. Für eine allseitige Entwicklung sei es notwendig, in beide einzutauchen. Das sei in einem Leben nicht möglich.


[1] Rudolf Steiner. 27.9.1911 in Neuchâtel. In G.A. 130. Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit. Dornach 1962. S.57-68. Hier S.67

    Platon hatte schon versucht, die Lehre von der Wiederverkörperung aus Erzählungen von Reanimierten sowie aus einer Untersuchung der Fähigkeiten des Denkens und der Erinnerung zu beweisen. So zeigte er z.B., dass ein Sklave ohne höhere Bildung mathematische Fähigkeiten besitzen kann, und – da alles Wissen Erinnerung ist – dass der Sklave sein Wissen aus einer Erinnerung an den  vorgeburtlichen Aufenthalt in der Ideenwelt haben müsse.

    Lessing hingegen findet ein moralisches Argument für die Wiederverkörperungsidee. Es wäre ungerecht, wenn nicht alle Menschen an allen großen Kulturen teilhaben könnten (§81 - 84). Er betrachtet die Weltgeschichte mit ihrem Ablauf von Kulturen und Religionen als eine pädagogische Einrichtung. Er hat schließlich sogar den Mut festzustellen, dass so wie das ‚Neue Testament‘ eine neue Seite der Menschheitsentwicklung zu der Phase des Alten Testamentes hinzugefügt habe, nunmehr die Zeit gekommen sei, in der die Menschheit wiederum ein neues Buch benötige (§85 - 86). Er spricht von einem „ewigen Evangelium“. An Lessings Erkenntnismut wird der Einfluss der Michaelschule wahrnehmbar. Ganz allein stemmt er sich gegen einen Wust von bürgerlichen unbegründeten Überzeugungen.

    Nun hatte Lessing 1777 bereits die ersten 53 Paragraphen seiner ‚Erziehung des Menschen-geschlechts‘ veröffentlicht. Darin war noch keine Rede von der Wiederverkörperung des Geistes gewesen. Lessing arbeitete an der Formulierung seiner ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ weiter und veröffentlichte sie anonym – er trat nur als Herausgeber auf - 1780 vollständig. Im zweiten Teil (§54-100) schlug er den Gedanken der Wiederverkörperung als roten Faden des Geschichtsverlaufs vor. Es handelte sich nicht um eine intellektuelle Spielerei, eine Spekulation eines Augenblicks. Lessings Wortwahl lässt erkennen, dass er von seinen Gedanken selbst tief betroffen und ergriffen ist. Er spürt den Anhauch des wehenden Geistes.  Dass Lessing die Frageform wählte, geschah meines Erachtens, um einen größeren Freiraum zu lassen. Dadurch wurden seine mutigen Äußerungen diskussionsfähig. 

    Mitten in dieser Zeit (1776-80) brachte Lessing auch die ersten drei seiner Freimaurergespräche ‚Ernst und Falk‘ zum Druck, die er im Oktober 1778 an den „ersten und würdigsten Freimäurer“ Ferdinand Herzog zu Braunschweig und Lüneburg schickte. Der zeitliche Zusammenhang dieser beiden späten Veröffentlichungen Lessings wirft bedeutsame Fragen auf. Lessing verfasste sie nebeneinander. Beide veröffentlichte er nicht unter seinem Namen und von beiden gab er zunächst nur einen Teil zum Druck. In dem unveröffentlichten Teil der ‚Erziehung‘ geht es um die Reinkarnation als roten Faden der Weltgeschichte, in dem von ihm nicht herausgegebenen Teil der Freimaurergespräche um den Zusammenhang des Templerordens mit der Freimaurerei. Lessings zögerliche Haltung kann nicht auf Unsicherheit in der Sache beruhen. Der Lessingforscher Helmut Göbel meint: „Es darf wohl angenommen werden, dass 1777 bereits die gesamte Schrift mit den 100 Paragraphen fertig war.“[1] Ähnlich äußert sich der Biograph Hugh Barr Nisbeth[2]

     Demnach hat Lessing drei Jahre mit der anonymen Veröffentlichung gewartet. Der Gedanke der Wiederverkörperung schwebte aber seit 1777 unveröffentlicht, aber niedergeschrieben, in Lessings Seele, während er seinen Nathan schrieb und in seinem fünften Freimaurergespräch für die Abstammung der Freimaurerei vom Templerorden eintrat. Der behauptete Zusammenhang mit dem Templerorden war zu dieser Zeit bereits heftig umstritten. Es gab keine vorlegbaren Zeugnisse und Lessing war einer der kritischsten Philologen seiner Zeit. So bleibt sein klares Einstehen für die Templer-Tradition erklärungsbedürftig. Wenn Lessing in diesen Jahren aber damit rang, den Gedanken der Wiederverkörperung als roten Faden der Weltgeschichte einzuweben, könnte er diesen roten Faden auch in der Beziehung zwischen Templern und Freimaurern gesucht haben. So nahe dieser Gedanke liegt, beweisen lässt er sich aus den bekannten Zeugnissen nicht.


[1] Helmut Göbel in: Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Achter Band. München 1979. S.707.  

[2] Hugh Barr Nisbeth. Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München. 2008. S.746.

     Wie im Falle der anderen michaelisch - rosenkreuzerisch inspirierten Persönlichkeiten hat auch Lessing seine Gedanken zur ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ vorab mit seinen Freunden geteilt und erörtert. Mendelssohn, Matthias Claudius, Bode, Lichtenberg und Hamann waren in Gespräche und Briefwechsel dazu eingebunden. Lessing hat auch Literatur über die wiederholten Erdenleben für die Wolfenbüttler Bibliothek angekauft.[1] Da er die Bücher bestellen musste, können sie nicht der Ursprung seines Interesses an dem Gedanken der Reinkarnation gewesen sein. Deren Ankauf war vielmehr Ausdruck eines in Wolfenbüttel bereits vorhandenen Interesses.

     Neben diesen zweifellos zu konstatierenden Einflüssen aus seinem Freundeskreis und seiner beruflichen Umgebung zeigt sich aber auch bei Lessing, dass bei der Entstehung der ‚Erziehung‘ die Erfahrungen, die er als Freimaurer gemacht hatte, eine Rolle gespielt haben. Lessing hatte, nachdem er nach Wolfenbüttel umgezogen war, im Herbst 1771 bei J.J.C. Bode, der dazumal noch Buchhändler in Hamburg war,  um Aufnahme in die älteste deutsche Loge ‚Absalom zu den drei Nesseln‘, die zur strikten Observanz gehörte, gebeten. Bode riet ihm davon ab, „… weil die Fortschritte in unserm Systeme zu langsam für Ihr Alter und für Ihren feurigen Charakter sind.“[2]  Lessing ließ aber nicht locker und fragte bei der Konkurrenz an, bei der Hamburger Loge ‚Zu den drei Rosen‘, die dem schwedischen System angehörte, das ebenfalls Hochgrade besaß und wie 'Absalom' an dem Templerischen Ursprung der Freimaurerei festhielt. Dieser Loge gehörte z.B. Matthias Claudius an. Lessing wurde am 14.10.1771 zum Lehrling, Gesellen und Meister gemacht.

    Könnte Lessing dem Gedanken der Wiederverkörperung in der Freimaurerei begegnet sein? Oder warum fiel es ihm so schwer, sich zu seiner ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ als Autor zu bekennen? Es ist bekannt, dass Lessing einen warnenden Brief des Großmeisters aus Berlin erhalten hat. Wenn er zuviel schreibe, könne es ihm wie Sokrates ergehen…


[1] Hugh Barr Nisbeth. Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München. 2008. S.758-760

[2] Zitiert nach Helmut Göbels Kommentar zu ‚Ernst und Falk‘ in G.E. Lessing. Werke Bd. VIII. München 1979. S.695 

 

Der Wilhelmsbader Konvent 1782

     Als nächstes müssen wir einen Blick auf den Freimaurerorden der ‚Strikten Observanz‘ werfen, der in den siebziger Jahren und bis zum Wilhelmsbader Konvent die freimaurerische Welt Mitteleuropas und Frankreichs dominierte. 

    Die Ereignisse auf dem Wilhelmsbader Konvent 1782 müssen als ein Erdbeben im mitteleuropäischen Geistesleben angesehen werden. Etwa 35 Teilnehmer waren dem Aufruf Herzog Ferdinands von Braunschweig, der die treibende Kraft hinter dem Konvent war,  im Sommer 1782 nach Wilhelmsbad bei Hanau gefolgt. Sie kamen aus ganz Europa, aus Lyon und Florenz, aus Kopenhagen  und Kassel.

    Auf der Tagesordnung stand vor allem die Klärung der Frage, die Lessing 1780 am Ende von Ernst und Falk behandelt hatte: Stammt der Freimaurerorden vom Templerorden ab? Das war seit der Einführung der ‚Strikten Observanz‘ zwanzig Jahre vorher behauptet worden ohne dass je ein genügender Beleg vorgelegt worden war. An diese Vorstellung hatten sich romantische Empfindungen geknüpft aber auch handfeste Interessen angeschlossen: Konnte man da nicht Besitzansprüche geltend machen?

   Da Beweise nicht beizubringen waren und die seelengeschichtlich gemeinten Aussagen auf so grobe Weise missverstanden wurden, verzichtete die Führung der strikten Observanz 1782 feierlich auf jeglichen Anspruch. Ferdinand von Braunschweig und Karl von Hessen gaben dem Drängen aufklärerisch gesonnener Freimaurer nach, die nicht länger bereit waren, die Ordensgeschichte auf bloße Versicherung hinzunehmen. Damit war die weitverbreitetste und einflussreichste freimaurerische Organisation jener Tage ohne jegliche historische Grundlage. Der Verzicht auf die Ordensmythe ließ die ‚Ritter‘ aber nun zu selbsternannten Rittern ohne Orden werden. Viele von ihnen glaubten daher auch nicht mehr daran, dass der Orden Geheimnisse besässe. Es schien alles Schwindel. Und viele Freimaurer wollten nun von Wegen übersinnlicher Erkenntnis auch nichts mehr wissen. Sie hielten die freimaurerische Organisation vor allem für eine politische Vereinigung.

    Für Karl von Hessen hingegen war der Verzicht auf die Ordensmythe ein Ausdruck von innerer Wahrhaftigkeit. Karl hatte die schöpferische Kraft für die Umformung des Freimaurerordens auf dem Wilhelmsbader Konvent 1782. Er musste allerdings sämtliche Rituale umarbeiten. Der Lyoner Seidenhändler Willermoz half ihm dabei. Worauf es ihm dabei ankam, beschrieb Karl in einem Brief vier Monate nach dem Konvent: „Das ganze Bestreben auf dem Konvent war, erstlich eine äußere, dem ganzen System oder Orden der vereinigten Logen anpassende, und angenehme Form zu geben, wodurch die Brüder zusammengehalten würden, und Ordnung eingeführt und befestigt würde. Zweitens, dass der Weg zur wahren Weisheit in dem Orden so gelegt wurde, dass er auch gänzlich heimlich und verborgen bliebe, denen, die nichts davon hören wollten, und also auch nicht sollten; dahingegen Drittens, diesen Weg durch Abfassung neuer Ritualien doch gründlich in allen Stücken des Ordens legen, so dass diese doch auch wirklich die Brüder auf dieser Bahn leiten konnten.“[1]


[1] Karl von Hessen an Freiherrn von Haugwitz. Gottorp 12.12.1782. In: Ludwig Hammermeyer. Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften. Heidelberg. 1980. S.147 

     Man muss diese Worte sehr genau hören. Der Landgraf sagt, er habe in den neuen Ritualen „den Weg zur wahren Weisheit“ gelegt, und zwar so, dass die die nichts davon wissen wollten, auch nicht darauf gestoßen wurden. ‚Der Weg zur wahren Weisheit‘, ist das nicht der Einweihungsweg? Für diejenigen aber, die ihn suchten, sollte er ein sicherer Weg sein. Karl scheint das im selben Brief weiter unten zu bestätigen: „Gott weiß, dass ich nicht mehr habe tun können, und dass mein inbrünstigster Wunsch für mich und meine Brüder gewiss ist, und stetshin sein wird, höhere Weisheit aus Osten zu erlangen.“ 

    Gibt Karl von Hessen damit nicht zu erkennen, dass es sein heißester Wunsch sei, für die Brüder geistige Erkenntnis zu erlangen?

    Der Ausdruck ‚aus Osten‘ ist nicht als äußere Himmelsrichtung zu verstehen. Karl wollte nicht Weisheit aus Indien erlangen. Das geht schon daraus hervor, dass er die Gemüter auf unsern Herrn und Heiland richten wollte. Der Begriff Osten meint den Ort, an dem das Licht über den Horizont steigt. Im Seeleninnern ist es die Pforte, an der sich die Seele dem intuitiven Erleben öffnet. Dieser Ort – es ist eigentlich kein Ort, weil das Erlebnis der Intuition raum- und zeitlos ist – weist auf den Übergang des Ich aus der Seele zum Geiste. Ihn hat man schon in der Antike mit dem Bild der im Osten aufgehenden Sonne verglichen. Man denke nur an Platons Höhlengleichnis.

    Aus diesem Bereich, dem ewigen Osten, wollte Karl von Hessen für sich und seine Brüder „höhere Weisheit“ gewinnen. Deutet sich da nicht eine Art von Geistesforschung an?  Tatsächlich hat Karl von Hessen in unregelmäßigen Abständen, wenn ihm etwas Neues eröffnet worden war, die Brüder eingeladen, daran teilzunehmen. Er sei bereit ihnen seine Erkenntnisse zu eröffnen. Soviel zur Charakteristik Karls von Hessen.

 

Der Kopenhagener Kreis

Johann Kaspar Lavaters Denken und Wirken ist eher aus seinem fühlenden Suchen zu verstehen als aus einer systematisch niedergelegten Theologie, die er nie abschließend formuliert hat. Das liegt nicht etwa daran, dass er ein Schwarmgeist gewesen wäre oder auch nur ein unsystematischer Kopf, sondern daran, dass er eine lebendige Erfahrung von Christus für das Fundament des Christentums hielt, die er in einer noch so richtigen Dogmatik nicht zu finden hoffte. „Im Zentrum seines Denkens und Wirkens stand, zumindest seit 1768, die Erfahrbarkeit des Transzendenten“, schreibt dementsprechend der Lavater-Forscher Horst Weigelt.[1]Ich will […] Gewissheit eines Gottes, der aller seiner unendlichen Erhabenheit ungeachtet, mir Beweise seines Daseyns für mich giebt“, schrieb Lavater selbst 1776. Lavater war der Ansicht, dass in dem Menschen als Bild Gottes Spuren der drei wesentlichen Eigenschaften Gottes zu finden sein müssten: Spuren der göttlichen Allmacht, Weisheit und Liebe. Jeder einzelne habe „… alle Kräfte der Gottheit wenigstens verschlossen, wenigstens schlummernd und unentwickelt in sich“.[2] Man setze nur Friedrich Schillers Wort , dass kurz gesagt, jeder individuelle Mensch einen reinen idealischen Menschen in sich trägt, und Rudolf Steiners wegweisende Aussage, dass in jedem Menschen Fähigkeiten schlummern, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann, daneben, um gewahr zu werden, dass sich in Lavater tiefere Seelenkräfte geregt haben, die er auf seine Weise versucht hat zu verstehen. Diesem tieferen Wesen des Menschen, so dachte Lavater, könne sich die Wesenheit Christi im Sichtbaren wie im unsichtbaren Intuitiven zeigen. Auch Lavaters Physiognomik beruht darauf, dass er in jedem Menschen diesen Funken suchte, der sich auch bis in die äußere Gestalt ausprägen musste – mehr oder weniger. Lavaters Physiognomische Fragmente erschienen in vier Bänden zwischen 1775 und 1778.  Sie machten ihn auf einen Schlag in Europa berühmt und gelten bis heute als sein Hauptwerk. Lavater versuchte, die Sprache der Erscheinungen zu lernen. Darin konnte sich Goethe mit Lavater verwandt fühlen. Und Lavater erwartete, dass der Schein sich zur Erscheinung verdichten würde. Dabei sah er sich in Übereinstimmung mit den Verfassern der Evangelien: „Es scheint mir alles Schwärmerey ausser Glauben an Christus, der sich auf sinnliche oder innerlich – intuitife Erfahrungen gründet. Nicht ein einziges Glaubensbeispiel führt die Schrift an, wo nicht sinnliche oder innerlich geistig-klare Erfahrung zum Grunde lag; Darum bitt‘ ich so oft – ‚Bist Du, so zeige mir, dass Du bist!‘“[3]

Diesen Mann hatten der dänische Staatsminister Andreas Peter Graf von Bernstorff und seine Frau Auguste nach Kopenhagen eingeladen, um einen kleinen Kreis von ‚seh-süchtigen‘ Seelen kennenzulernen. Als seh-süchtig hat der Theologe Chr. Janentzky Lavaters Christentum einmal bezeichnet.[4] Lavater konnte allerdings darauf hinweisen, dass die Schrift „nicht ein einziges Glaubensbeispiel anführt, wo nicht sinnliche oder innerlich geistig klare Erfahrung zum Grunde lag.“[5]


[1] Horst Weigelt. Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, S.74.

[2] J.K.Lavater. Entwurf einiger Gedanken zu einem Religionsbegriff. 1785. § 73. Zentralbibliothek Zürich. FA Lav. Ms.56, Nr.4a. Zitiert nach Horst Weigelt. Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991. S.75.

[3] Lavater. Hand-Bibliothek, 1791, Bd.2, S.164ff. Zitiert nach Horst Weigelt.  Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, S.80.

[4] Chr. Janentzky. Johann Caspar Lavater. Frauenfeld und Leipzig. 1928. S.46. Zitiert nach Horst Weigelt . J.K.Lavater. S.75.

[5] Lavater. Hand-Bibliothek, 1791, Bd.2, S.164 ff. Zitiert nach Horst Weigelt. Johann Caspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991. S.80

Horst Weigelt, der als Lavaterforscher diesem Kreis seine Aufmerksamkeit schenkte, schreibt über ihn: „In Kopenhagen bestand seit etwa 1789 ein Kreis, dessen Mitglieder angeblich mit Christus in einem medialen Kontakt standen. Das Haupt dieser sehr kleinen Geheimgesellschaft war Prinz Karl von Hessen-Kassel, der Schwager des geisteskranken Königs Christian VII. von Dänemark und Schwiegervater des Erbprinzen Friedrich. Als Königlicher Statthalter residierte er auf Schloss Gottorf in Schleswig, in dessen Territorium sich übrigens auch der geheimnisumwitterte Alchimist Graf von Saint Germain während seiner letzten Lebensjahre aufgehalten hatte. Mit einzelnen Mitgliedern dieses nur fünf Personen umfassenden Zirkels, vor allem mit dem dänischen Staatsminister Andreas Peter Graf von Bernstorff und insbesondere mit dessen Frau Auguste, hat Lavater seit 1791 in brieflicher Verbindung gestanden. Von ihnen hat er mancherlei über die Weissagungen erfahren, die diesen, wie sie behaupteten, zuteil geworden waren. Wie aus der leider nur äußerst fragmentarisch erhaltenen Korrespondenz hervorgeht, waren diese unter dem Siegel der Verschwiegenheit gemachten Mitteilungen jedoch sehr vage formuliert. Nur so viel scheint sicher zu sein, dass die Mitglieder dieses Zirkels, insbesondere Prinz Karl, meinten, mit Christus sowie mit Geistern in Verbindung zu stehen und auf vorgelegte Fragen aus einer weißen schwebenden Wolke konkrete Anweisungen zu erhalten. Allerdings mussten die Fragen so formuliert sein, dass das Orakel nur mit ja oder nein zu antworten brauchte. [1]


[1] Horst Weigelt. Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, S.58-59.

Was im Einzelnen in Kopenhagen geschehen ist, spricht Horst Weigelt nicht aus. Was er davon mitteilt, hat er überwiegend in den unveröffentlichten Teilen der eigenhändigen Beschreibung der Reise gefunden. Lavater hatte vor, diese Reisetagebücher zu veröffentlichen, doch gelangte er nur bis zur Herausgabe eines Teils der Hinreise.[1] Weigelt kam in einem früheren Buch schon einmal auf die Teilnahme Lavaters an den Kopenhagener Zusammenkünften zu sprechen. Dort spricht er nicht von einer Wolke, sondern von einem Lichtphänomen: „Hier, im Kopenhagener Kreis, dessen Mittelpunkt Prinz Karl von Hessen-Kassel ... gewesen ist, hoffte er durch ein Lichtphänomen mit Christus in realen Kontakt treten oder wenigstens dieses sehen zu können.“[2] An anderer Stelle formuliert Weigelt den Zweck der Reise so, Lavater habe „mit dem Lichtorakel in realen Kontakt kommen wollen“.[3]


[1] Reise nach Kopenhagen im Sommer 1793. Auszug aus dem Tagebuch. Durchaus bloß für Freunde von Johann Caspar Lavater. [1794] 449 S.

[2] Horst Weigelt. Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18.Jahrhundert. Göttingen 1988. S.116.

[3] Dito, S.172.

Diethelm Lavater, der Bruder J.C. Lavaters, erzählt in einem Brief von 1817, dass sein Bruder ihm einiges über Karl von Hessen mitgeteilt habe, spricht es aber nicht aus. Über die Sitzungen des Lichtorakels sagt er immerhin: „Was ich von seinem Licht oder Urim und Thumim und der damit nicht unmittelbar verbundenen Rotationslehre weiß, habe ich von meinem seligen Bruder…[1] Der Herausgeber der Briefe fügt hinzu, die Bedeutung der „Worte Urim und Tummim“ sei unsicher. Von Luther seien sie mit „Glanz und Wahrheit“ übersetzt worden. Wahrscheinlich handle es sich um eine Bezeichnung für ein altisraelisches Losorakel im Brustschild des Hohepriesters zur Befragung Gottes. Man hat vermutet, dass es sich um zwei verschiedene, möglicherweise edle Steine gehandelt hat, die in irgendeiner Weise am Brustschild des Hohenpriesters befestigt waren, wenn sie nicht für das Orakel gebraucht wurden. Damit ist auch nichts über den eigentlichen Losentscheid gesagt. Da an den anderen Stellen eher von Licht und von einer Wolke die Rede ist, nicht aber von Steinen, scheint die Bezeichnung mehr vergleichsweise gebraucht worden zu sein. Das Losorakel, das nur zweimal im Alten Testament erwähnt wird, hatte jedenfalls eine Eigenheit: es konnte den Willen der Gottheit nur mit Ja oder Nein beantworten. Und genau das wird auch von Karls Lichtwolken-Befragung gesagt.


[1] D. Lavater an J. v. Türckheim. 16.11.1817. Von der alten zur neuen Freimaurerei. S.451.

Marie Gisele bezeichnet die Kopenhagener Gruppe in Hanegraffs Dictionary ganz neutral als „Illuministen der Nordischen Schule“[1], eine Bezeichnung, die alles offen lässt.

Ich kann mich zu Zeiten des Gedankens nicht erwehren, dass es sich um eine Vorform der späteren spiritistischen Sitzungen gehandelt hat.


[1] Wouter Hanegraaff, Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. S.676.

Wenn man aber ein bisschen mit diesen Bildern lebt, dann werden die Aussagen sprechend und fügen sich zu einem Bild aus der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, in der man ja heute der Michaelschule begegnen darf. Das zeigt sich zum Beispiel in der Schilderung der Begegnung mit dem Hüter. Man kann denken an jenes sich erhellende wolkenhafte Gebilde, das in der anfänglich zu erlebenden Geistesfinsternis beginnt, sichtbar zu werden, wie es bei der Begegnung mit dem Hüter der Fall ist. Die heraustretende Gestalt könnte auch in Kopenhagen den Willen der geistigen Welt durch „weises Winken“ kenntlich gemacht haben.  

Natürlich erhebt sich die Frage, in welchem Verhältnis dieser Kreis zu den freimaurerischen Arbeitszusammenhängen stand, in denen Karl von Hessen eine so weitreichende und umfassende Tätigkeit entfaltete. Zu den freimaurerischen Arbeiten der „Strikten Observanz“ waren Frauen nicht zugelassen, während an den Zusammenkünften des Kopenhagener Kreises Frauen teilnahmen. Andererseits ist bekannt, dass an Cagliostros sogenannter ägyptischer Maurerei Frauen teilnehmen konnten. Jan A. M. Snoek hat im Vorwort eines Sammelbandes zur Beteiligung von Frauen an der Freimaurerei geschrieben, dass seitdem 1986 Hamill in seinem Buch  „The Craft. A history of English Freemasonry“ mit vielen Vorurteilen aufgeräumt hat, eine neue offene Situation in der Freimaurerforschung entstanden ist. Sie hat dazu geführt, dass Snoek den Forschungsstand zusammenfassen kann mit den Worten: „Frauen waren spätestens seit der Mitte des 18.Jahrhunderts strukturell Teilnehmer am freimaurerischen Unternehmen.“[1] Andreas Önnerfors veröffentlichte in diesem Band ein neu aufgefundenes Manuskript eines Rituals für Damen innerhalb der Strikten Observanz! Er sieht dieses Manuskript aus dem Jahre 1773 als einen Entwurf, einen Plan an, der nicht zur Ausführung gekommen sei.[2] Der Titel unter einem griechischen Delta-Buchstaben lautet: Maconnerie des Dames. 1ster Theil. Der Text ist in deutscher Sprache gehalten und umfasst einleitende Bemerkungen über die Absicht der Stiftung, kurze Beschreibung der Grade, Ordenszeichen u.s.w., die benötigten Gerätschaften und Bekleidungen, die Inneneinrichtung des Raumes, die Texte und Erläuterungen der Öffnung und Schließung der Loge, die Aufnahmevorgänge in die ersten fünf Grade, das Wahlverfahren und eine Gebührenordnung. Ein verwandter schwedischer Text, der allerdings nur bis zum dritten Grad führt, ist ebenfalls abgedruckt.[3]


[1] Alexandra Heidle & Jan A.M.Snoek [Hrsg.]. Women’s Agency and Rituals in Mixed and Female Masonic Orders. Leiden – Boston. 2006. Vorwort von Jan A.M. Snoek. S.VIII.

[2] Andreas Önnerfors. Maconnerie des Dames. The Plan oft the Strict Observance to establish a female branch. In: Alexandra Heidle & Jan A.M. Snoek. Women’s Agency and Rituals in Mixed and Female Masonic Orders. Leiden – Boston. 2006. S.89ff.

[3] Dito S. 115 -169 und 170-194. Englische Übersetzung danach.

Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob Karl von Hessen den Kopenhagener Kreis in irgendeinen freimaurerisch-rituellen Zusammenhang eingebettet hat. Als Ordensgroßmeister hatte er aber das Recht, Rituale selbst zu schaffen. Die Ereignisse auf dem Wilhelmsbader Konvent haben gezeigt, daß sich Karl in der Lage sah, selbst Rituale zu gestalten.     

Um der Erfüllung seines Wunsches näher zu kommen hatte Lavater 1793 den Landgrafen Karl und dessen Kopenhagener Kreis besucht, und war mit diesem Kreis zeitweilig in einen regen Briefverkehr getreten. Denn in Kopenhagen und Schleswig war man der Überzeugung mit Christus und seinem irdischen Repräsentanten Johannes in unmittelbarer Beziehung zu stehen. Lavater, der seine Tochter Annette mit nach Kopenhagen genommen hatte, war der einzige unter den Anwesenden, der die lichte Wolke nicht wahrnahm, von welcher Karl von Hessen sprach.

      Johann Kaspar Lavater machte sich mit gemischten Gefühlen auf die Heimreise. Karl von Hessen schrieb ihm bald darauf, wenn Lavater einmal wieder nach dem Norden heraufkomme, werde er vielleicht Gelegenheit haben, dem noch lebenden Johannes zu begegnen. Diese Hoffnung nährten die Kopenhagener Freunde über lange Zeit in ihm, sie schickten ihm sogar ein Griechisch geschriebenes Pergamentbillet, das von Johannes Hand stammen sollte.[1]


[1] Horst Weigelt. Johann Caspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991. S.58ff., hier S.62

    Nun teilt uns Rudolf Steiner mit, dass Johannes in Saint-Germain am Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich in der Nähe des hessischen Prinzen geweilt hat. Er war jahrelang sein Gast. Und Karl selbst erzählt uns, dass Saint Germain ihn jedenfalls soweit in sein Vertrauen gezogen habe, dass er ihm eröffnete, er sei ein Zeitgenosse des Mysteriums von Golgatha gewesen. Karl habe dem Grafen von Saint-Germain seine Betrübnis darüber mitgeteilt, dass er an ihm so gar nicht bemerken könne, dass er ein Christ sei. Daraufhin habe Saint Germain ihn gefragt, ob er das Bild von Annibale Caracci ‚Der Dornengekrönte', das in der Dresdner Galerie hänge, kenne. Und dann habe er gesagt: ‚So sah er aus!‘. Prinz Karl habe den Grafen darauf erstaunt gefragt: Ja, wieso können Sie das sagen? Die Antwort des Grafen: ‚Ich habe ihn ja gesehen!‘[1]


[1]

     Wenn man Karl nicht für einen Schwindler hält, liegt es nach alledem nahe, die Aussagen der Kopenhagener Mystiker so zu verstehen, dass sie J. C. Lavater in Aussicht stellten, er könne dem Grafen von Saint-Germain, der kein anderer als Johannes sei, begegnen. Lavaters Reise nach Kopenhagen fand im Jahre 1793 statt, der Briefwechsel setzte sich noch Jahre fort. Der Graf von Saint Germain wurde aber nach den Erinnerungen Karls von Hessen und nach der Eintragung im Kirchenbuch bereits 1784  in der Nikolaikirche in Eckernförde beigesetzt. Wie konnten die Teilnehmer des Kopenhagener Orakels unter diesen Umständen Lavater derartige Versprechungen machen?

     In seiner Darstellung zu den freimaurerischen Hochgraden weist Rudolf Steiner darauf hin, dass der Graf von St. Germain zwar offiziell 1784 gestorben war, dass er aber nachher noch an vielen Orten gesehen wurde: in Paris am 16.Oktober 1793 bei der Ermordung der Königin, am 9. November 1799 (beim Herannahen des 18. Brumaire, d.h. bei Napoleons Staatsstreich), am 21. März 1804, im Januar 1815 und um den 13. Februar 1820 (bei der Ermordung des Herzogs von Berri).[1]

Ferner wurde er gegen 1790 in Wien gesehen, wo er in einem Kreis freimaurerischer Eingeweihter die Aussage gemacht haben soll, er müsse sich nach Indien zurückziehen.[2] Ein weiteres Mal wurde er gesehen bei der Beerdigung des Landgrafen Karl von Hessen im August 1836[3]

   Wenn der Kopenhagener Kreis davon sprach, Lavater werde vielleicht die Gelegenheit haben, dem noch lebenden Johannes zu begegnen, dann hatte man in diesem Kreis ein Wissen von der Identität von Saint Germain und Lazarus-Johannes. 


[1] Zeugnis der Gräfin Adhemar. Vgl. Hella Krause-Zimmer. Christian Rosenkreuz. Sich kreuzende Lebenswege. Dornach 2009. S.183-184. 

[2] Hella Krause-Zimmer. Christian Rosenkreuz. Sich kreuzende Lebenswege. Dornach 2009. S.189-90.

[3] Hella Krause-Zimmer. Christian Rosenkreuz. Sich kreuzende Lebenswege. Dornach 2009. S.184.

 

Die Rotationslehre

    Diethelm Lavater (1743-1826) war Arzt und Apotheker in Zürich. 1765 wurde er auf dem Weg zum Studium nach Leipzig auf der Durchreise in Regensburg zum Freimaurer gemacht. 1771 wurde er in Zürich freimaurerisch aktiv und führte 1772 die Züricher Loge ‚La Discretion‘ der ‚Strikten Observanz‘ zu, wurde Meister vom Stuhl und schloss eine Reihe von Logen im Raum von Zürich und Basel der Provinz Oberdeutschland an. Er wahrte eine gewisse Autonomie für die Schweizer Logen und wurde deren „Gross-Prior“. Nachdem der Orden 1782 auf dem Wilhelmsbader Konvent auf alle historischen Ansprüche einer Fortsetzung des Templerordens verzichtet hatte, zog sich Diethelm Lavater in ein freimaurerisches Einsiedlerdasein zurück. Er nahm kaum noch an Logenarbeiten teil, gab aber sein Amt jahrzehntelang nicht auf, wodurch es auch niemand sonst ergreifen konnte. Diethelm Lavater hatte durch seinen berühmten zwei Jahre älteren Bruder Johann Caspar Lavater (1741-1801) viel über Karl von Hessen erfahren.

    „Ferner vertrat der Zirkel um Prinz Karl von Hessen eine Reinkarnationsvorstellung, die man als Rotation bezeichnete. So behauptete man, dass Auguste von Bernstorff früher einmal die große Sünderin Maria Magdalena gewesen sei.“[1] Schon in dieser ersten Mitteilung tritt neben die bedeutenden gedanklichen Vorstellungen zur Reinkarnation auch das fragwürdige Bild einzelner genauer und festlegender Zuordnungen von Inkarnationen.  


[1] Horst Weigelt. Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, S.58-59.

Die Bedeutung, die der Gedanke der Wiederverkörperung - man nannte es ‚Rotation‘ -  für den Freimaurerorden bzw. dessen Hochgrade, gehabt hat, ist wenig bekannt, geht aber deutlich aus dem Briefwechsel zwischen Diethelm Lavater und Karl von Hessen-Kassel hervor.[1]

    Karl von Hessen (1744-1836) verwaltete zur Zeit der Abfassung von Lessings ‚Erziehung‘ als dänischer Statthalter die Herzogtümer Schleswig und Holstein, d.h. das Land von der Elbe bis zur Mitte Jütlands. Er war Freimaurer und im Rahmen der Strikten Observanz 1782 verantwortlich für zwei Ordensprovinzen, nämlich Niederdeutschland und Oberdeutschland, grob gesprochen: von den Alpen bis zur Ostsee. Zugleich war er die rechte Hand (Koadjutor) des Fürsten Ferdinand von Braunschweig, des „ersten und würdigsten Freimäurers“, dem Lessing sein ‚Ernst und Falk‘ gewidmet hatte. Unter Karls Schutz und Freundschaft konnte der Graf von Saint-Germain seine letzten Jahre in Eckernförde und Louisenlund zubringen (1779-84).


[1] Von der alten zur neuen Freimaurerei. Briefwechsel und Logenreden von Diethelm Lavater nach 1800. Hrsg. und eingeleitet von Werner G. Zimmermann. Im Auftrag der Modestia cum Libertate. Zürich 1994.

    Johann Caspar Lavater erfuhr aus dem Kopenhagener Kreis, dass er in einem früheren Leben einmal Joseph von Arimathia gewesen sei. Tatsächlich hat Lavater ein Epos „Joseph von Arimathia“ geschrieben, das 1794 erschien.[1] Die Mitteilung dürfte daher im Zusammenhang mit seiner Reise nach Kopenhagen erfolgt sein und Lavater hat sie ernst genommen.


[1] Horst Weigelt. Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, S.88.

    Ferner wird berichtet, dass Karl von Hessen „allen Ernstes glaubte, in ihn sei die Seele Melchisedeks gefahren“[1]. Vor dem Hintergrund dieser Aussage ist es besonders interessant, dass er den jüdischen Mitgliedern des Ordens der ‚Asiatischen Brüder‘ empfahl eine rein jüdische Loge „Melchisedek“ zu gründen. Andere von ihm unter die Fittiche genommenen Logengründungen wie die Altonaer Loge ‚Carl zum Felsen‘ trugen nämlich seinen Namen.

   Eine weitere Behauptung bedarf noch der Überprüfung, denn von anderer Seite ist berichtet worden, Carl habe sich als eine Reinkarnation des Petrus angesehen.[2]

    Ebenso soll er überzeugt gewesen sein, dass seine Tochter Marie Sophie Friederike, die seit 1790 mit dem dänischen Thronfolger Frederick VI. verheiratet war, zur Zeitenwende die gleichnamige Mutter Jesu gewesen sei.[3]


[1] Paul Volquart. Geschichte Schleswig Holsteins. Bd.6. : Olaf Klose / Christian Degn. Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721 – 1830. Neumünster 1960. S. 269.

[2] Reiner von Hessen. Landgraf Carl von Hessen. Freimaurer zwischen Aufklärung und Okkultismus. In: Landgraf Carl von Hessen 1744 – 1836. Vorträge zu einer Ausstellung. Hrsg. von Reimer Witt und Heyo Wulf. Schleswig 1997. S. 35 - 62, hier S. 59. 

[3] Paul Volquart. Geschichte Schleswig Holsteins. Bd.6. : Olaf Klose / Christian Degn. Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1721 – 1830. Neumünster 1960. S. 269.

    Dass einzelne Zeitgenossen ihm zutrauten, konkrete Angaben über wiederholte Erdenleben zu machen, geht aus dem Briefwechsel Diethelm Lavaters mit Carl von Hessen hervor. Diethelm Lavater hatte durch seinen Bruder Johann Caspar Lavater einiges über den Landgrafen Carl gehört und das muss ihm den Mut gegeben haben, Carl zu bitten, ihm zu enthüllen, wer er, Diethelm Lavater, in seinen Vorinkarnationen gewesen sei. Er schrieb am 21.1.1824: „Sie liessen meine ehevor gemachten stillen Fragen – wer ich in meiner vorigen Existenz möchte gewesen sein – unbeantwortet, vielleicht weil sie zu allgemein waren; wenn ich aber nun die Perioden, in welchen ich gelebt zu haben glaube, [nenne] – dürften Sie vielleicht wohl die Namen (es sind biblische Namen) angeben zu meiner Bestätigung oder Prüfung: 1. zur Zeit der Sintflut, 2. zur Zeit Josephs in Ägypten, 3. zur Zeit und bei der Kreuzigung des Herren.“[1]


[1] 21.01.1824. Diethelm Lavater an Carl von Hessen. In: Von der alten zur neuen Freimaurerei. Briefwechsel und Logenreden von Diethelm Lavater nach 1800. Zürich 1994. S. 479.

    An Karl von Hessen richtete Diethelm Lavater die Frage, worum es in den neu von Karl von Hessen gestalteten Hochgraden gehe und die zweite Frage, was er von der Rotation halte.[1] Karl ging in seiner Antwort nicht so weit wie Diethelm Lavater es sich wünschte, aber er schrieb immerhin: „Was die Rotation betrifft, die eigentlich der Schlüssel ist, der alles begreiflich macht, so lege ich hier einen Zettel von einem kundigen, denkenden Ordensbruder an, der die darauf sich beziehenden Bibelsprüche mehrenteils enthält. …"[2] Damit drückte Karl deutlich aus, dass die Rotationslehre einen zentralen Platz in den damaligen Hochgraden hat.


[1] Diethelm Lavater an Carl von Hessen. 12.8.1819. In: Von der alten zur neuen Freimaurerei. S. 467 f.

[2] Carl von Hessen an Diethelm Lavater, Kassel, 1.9.1819. In: Von der alten zur neuen Freimaurerei. … S.469.

 

Mysteriengeschichte

    Diethelm Lavater war etwa 1780 mit der Rotationslehre bekannt geworden.[1] Ein Brief von 1801 an Jung-Stilling zeigt, dass dem Züricher Arzt in den achtziger Jahren der Gedanke „nicht nur nicht einleuchtete, sondern ganz widerstehend ekelte“.[2] 1801 diente er ihm schon „zur Freude, zur Beruhigung, zur Beleuchtung 1000 sonst unbegreiflicher Dinge in den Führungen Gottes, in den Schicksalen der Menschen“. Diethelm Lavater war aber nun nicht mehr mit einer allgemeinen Theorie der Wiederverkörperung zufrieden, er wollte wissen, wer er selbst früher gewesen war, zumindest zu welchen Zeiten er gelebt hatte. Derartige Fragen stellte er vielen Zeitgenossen: Gelehrten, Pfarrern, Seherinnen und Fürsten.


[1] D. Lavater an C. v. Hessen. 14.9.1823. Von der alten zur neuen Freimaurerei. S. 473-474.

[2] D. Lavater an J. H. Jung Stilling. 19.5.1801. Von der alten zur neuen Freimaurerei. S. 109.

     Über die Anschauungen Karl von Hessens wusste er von seinem Bruder. Er wußte wegen seines Rückzugs aus der Freimaurerei aber kaum etwas über die neu von Karl von Hessen eingerichteten Hochgrade. So konnte er am 16.11.1817 an J. v. Türckheim schreiben, woher Karl „seine Rotations-Lehre hat, weiß ich nicht. Soviel ist mir behauptet, dass sie unendlich beruhige, die vielen ganz unerklärbarsten Schicksale der Welt und einzelner Menschen ganz begreiflich mache und auch die unendliche Grösse der Weisheit und Güte Gottes anschaulich und begreiflich, aber auch sehr missbraucht werden könne."[1]  


[1] Diethelm Lavater an J.v.Türckheim. 16.11.1817. Von der alten zur neuen Freimaurerei. S. 452.

Es gibt eine längere Tradition mysteriengeschichtlicher Darstellungen. Seit etwa 1600 sind eine Reihe von ihnen an die Öffentlichkeit getreten. Michael Mayers Darstellung der verschiedenen Mysterienströme von 1617 und ihrer gemeinsamen Grundlegung der Alchemie mag da genannt werden.[1] William Warburtons ‚The Divine Legation of Moses demonstrated‘ [2] (1744) beschreibt die Entstehung der Mysterien vom Gesichtspunkt ihrer staatstragenden Rolle. Lessing hat dieses Buch für seine Erziehung des Menschengeschlechts herangezogen.  Es war im 18. Jahrhundert ein viel diskutiertes Buch. Bischof Warburton ist überzeugt, dass die Mysterien von den Herrschern zum Schutze der Staaten eingerichtet worden seien. In ihnen werde die der Masse nicht verständliche eigentliche Wahrheit aufbewahrt, damit wenigstens die Herrschenden Zugang dazu haben. Der anglikanische Bischof hat damit wohl etwas ausgesprochen, was bis heute im Westen zu den Grundlagen der Staatsräson gehört.


[1] Michael Maier. Symbola Aureae Mensae Duodecim Nationum … Frankfurt. 1617. 621 S. + Index. Nachdruck Graz 1972.

[2] The Works of the right Reverend William Warburton, D.D.

Johan Göransson veröffentlichte 1747 in Stockholm ein Buch, in dem er nachzuweisen suchte, dass die Buchstabenschrift und die „Heiligkeitslehren“, d.h. die Mysterienweisheit, aus dem Norden zu den anderen Völkern gekommen seien. [1]


[1] Is Atlinga; det år : De Forna Göters, hår uti Svea Rike, Bokståfver ok Halighets Låra, Tvåtusend Tvåhundrad år före Christum, utspridde ai all Land. Stockholm 1747.

Schließlich veröffentlichte der Theologe und Orientalist Johann August Starck 1782 eine Darstellung mit dem recht anthroposophisch klingenden Titel „Über Alte und Neue Mysterien“. Die Titelvignette des Buches über die alten und neuen Mysterien zeigt übrigens ein aufrecht stehendes Oval mit einer Szene unterm Sternenhimmel. Im untersten Bereich ist etwas Erde zu sehen. Auf ihr liegt ein Totenschädel, mit den Augenhöhlen dem Betrachter schräg zugewandt. Da der Unterkiefer nicht zu sehen ist, mag es sein, dass er aus der Erde hervor ragt. Hinter dem Schädel sind Pflanzen zu sehen. Die Anzahl der aus dem Boden hervortretenden Sprosse ist nicht auszumachen. Rechts des Kopfes steht ein einzelner Schössling, den man vielleicht als Akazienzweig deuten könnte, der ein wichtiges maurerisches Symbol wäre. Über diesem Ensemble steht hoch und mächtig am Himmel der Orion. Die beiden oberen Sterne Beteigeuze und Bellatrix, die drei Gürtelsterne, sowie die beiden unteren, von denen Rigel gut bekannt ist, sind abgebildet. Sie füllen den Hauptteil der Fläche des nächtlichen Ovals aus. Rechts, das heißt himmelskundlich im Westen, steht die schmale Mondsichel kurz vor Monduntergang. So schmal ist sie nur wenige Tage nach Neumond. Der Mond steht also nahe an der Sonne und es ist damit früher Abend angedeutet. Fragt man sich, wann das Sternbild des Orion am frühen Abend kurz nach Sonnenuntergang hoch im Süden steht, entdeckt man, dass das in unseren Breiten in der Zeit der Tag- und Nachtgleiche, genauer gesagt zum Frühlingsbeginn der Fall ist.

Man wird nicht fehlgehen, wenn man dieses Bild auch auf Goethes "Symbolum" bezieht.

Starck beschreibt die verschiedenen Mysterien nach den ihm bekannten Quellen. Er kennt mindestens so viele wie Frank Teichmann. Starck war der Ansicht, dass die alten Mysterien ihren Ursprung in Ägypten genommen hätten. Die neuen Mysterien – das sind für ihn die freimaurerischen, die die Templerweisheit erneuerten. Die Templer wiederum hätten ihre Weisheit von den vorchristlichen Essäern.

Titelkupfer aus: N.N. Über die alten und neuen Mysterien. Berlin. Bei friedrich Maurer. 1782.

Die interessanteste Darstellung stammt aber von Karl von Hessen. Es ist ein Vortrag von Karl überliefert, in dem er die Wanderung und Ausbreitung der Mysterien von Ägypten über Indien, Persien, Vorderasien, Griechenland, Hyperboräa, Skandinavien, Italien, Spanien und Nordafrika erzählt. Manches daran dürfte Phantastisch sein, anderes kommt Rudolf Steiners Darstellung des südlichen Mysterienstromes sehr nahe.  Ich lese Ihnen den Anfang seines Vortrags vor:

   „Sie wünschen Meine Bbr. aus meinem Munde einige Aufklärungen über den Orden, dessen Ursprung, Endzweck und Kenntnisse zu erhalten. Mit Vergnügen werde ich die undurchdringliche Decke, die über unsere aus dem Uraltertum bis zu uns gekommene Geheimnisse ausgebreitet ist, so viel es Mir Meine Pflicht erlaubt, aufheben und Ihnen über die Entstehung und Fortsetzung des Ordens einiges Licht mittheilen.

Was ist das Erste, was der angehende Freimaurer thut, nachdem er seine 3 geheimnisvolle Reisen vollendet hat? Er kniet vor dem Altar im Osten nieder, er legt die Hand auf die aufgeschlagene Bibel, auf das Evangelium St. Johannes am 1.Cap. 1.Vers, wo es heißt: ‚Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort; dasselbige war im Anfang bei Gott, alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.‘ Der Mstr. vom Stuhl giebt Ihm sein Ehrenwort, dass dieses Buch das Wort Gottes ist. Darauf schwört der angehende F.Mr. den schwersten Eid an den Allmächtigen Baumeister  aller Welten. Wer ist, wer kann nur allein seyn, dieser Allmächtige Baumeister, als das Wort, durch welches alles gemacht worden?

Auch die heidnischen Weisen kannten dieses Wort und seine hohe Bestimmung die Welt zu beglücken, sie nannten es den Logos. Plato spricht am deutlichsten davon. Eigentlich aber kommt diese Lehre von Zoroaster her. Vor ihm waren jedoch schon längst die Egyptischen Einweihungen und Mysterien gewesen. Die ältesten Geschichtsschreiber Herodotus, Strabo, Diodorus, Plutarch und andere mehr, gaben uns darüber manche Andeutungen und Nachrichten. Wir finden in der heil. Schrift der Weisheit und Kenntnisse der Egyptier auch mehrmals Erwähnung gethan. Ihre höchsten Misterien wurden von Osiris und Isis hergeleitet. Thocut, der der erste Hermes war, bestimmte solche vollkommen nach dem Tode Ochiris mit der Ichis. Daher wurden ihm die Misterien der Ichis genannt. Die Geschichte des Ochiris und seines so wichtigen Zugs in den damals noch unbekannten Ländern Asiens und Europas enthält die Nachrichten ihrer allerersten Kultur. Nach unsern Traditonen kam er aus dem Innern Afrikas durch Etiopien mit der Isis und seinem Freund Thocut, von vielen weisen Menschen begleitet nach Egipten, so damals Mizraim, nach dessen erstem König, der auch Menes von den Geschichtsschreibern genannt wird, hieß. Er fand Egypten in dem verworrensten Zustande; die von den Zeiten Mizraims gemachten, so löblichen Einrichtungen waren alle verdorben worden. Die Priesterschaft hatte den Dienst des wahren Gottes, der ihnen unter dem Namen Jao bekannt war, verkehrt, und sie waren sogar Abgötter worden, und opferten Menschen den Krocodilen und anderen Thieren. Und Osiris vertrieb die gottlosen Priester und übernahm selbst das oberste Priesterthum und wurde dafür von allen Völkern in und um Egypten anerkannt, und sie unterwarfen sich ihm als ihrem Herrn und König. Nachdem er nun Theben und eine Menge anderer Städte erbaut, auch die Dämme längst dem Wich [Nil] der damals Sihor genannt wurde, und die Wege und Kanäle in ganz Egypten, so zog er mit seinem Heere nach Indien zur See. Er schiffte sich im Roten Meer ein und lief mit seiner Flotte im Indus ein. Er fand daselbst ein ganz rohes, wildes, schwarzes Volk, das sich gar nicht in irgendeinen Umgang mit den Neuangekommenen einlassen wollte.  Er hatte die Musik in Egypten sehr vervollkommnet und führte mit sich eine Menge Ethiopier, die auf Flöten und andern Instrumenten spielten, auch waren viele Jünglinge und Mädchen, die da sangen. Diese Musik zog die Wilden sehr an. Und sie sammelten sich mehr und mehr um das Egypter Heer. Wurden auch immer zutraulicher und gelehriger, und er lehrte sie das Land zu bestellen und den Weinbau….“[1]


[1] Rede des Generalgroßmeisters gehalten in der Loge zu Kassel, 11.Juli 1817. In: Adolf Kallweit. Die Freimaurerei in Hessen-Kassel. Baden-Baden. 1966. S. 288ff.

 

Rudolf Steiners Anknüpfen an Karl von Hessen

    Am 16.12.1904 sprach Rudolf Steiner in Berlin bei Frl. Motzkus  „Über Hochgradmaurerei“. Es war ein Auftakt zu vielen ähnlichen Vorträgen.

Dann kommt die Episode, die die Gräfin Adhemar erzählt hat, und dann:  

"Auch in der Schule, die der Landgraf von Hessen begründet hat, handelt es sich wesentlich um diese zwei Dinge: um den Stein der Weisen und um die Erkenntnis des Pentagramms.
In einer etwas veränderten Gestalt lebt nun die damals von dem Landgraf von Hessen begründete Maurerei fort. Nämlich diese ganze Maurerei, wie ich sie geschildert habe, nennt man die des ägyptischen Ritus, des Ritus von Memphis und Misraim. Dieser führt seine Entstehung zurück auf den König Misraim, ..
."[1]


[1] Berlin 16.12.1904. GA.

Zunächst spricht Steiner ausführlich von Cagliostros Hochgrad-Maurerei. Es handelte sich um die zwei Aufgaben, auf die wir schon kurz hingesehen haben:


1. Unterricht zur Herstellung des Steines der Weisen
2. Um die Eröffnung des Verständnisses des sog. Fünfecks.


Steiner spricht dann über die Schüler Cagliostros und dessen Einrichtungen an verschiedenen Orten in Europa. Zuerst richtete Cagliostro in Lyon  die „Loge zur triumphierenden Weisheit“ ein , dann eröffnete er auch Schulen in Paris, Belgien und Petersburg "und einigen anderen Orten in Europa".
Dann spricht Steiner über den Grafen von St. Germain. Schließlich kommt er erstmals auf Karl von Hessen zu sprechen.

"Über Graf St. Germain können Sie lesen, dass er am Hofe des Landgrafen von Hessen gestorben ist und der dann einer der vorgerücktesten Freimaurer Deutschlands gewesen ist. Er hat ihn bis zu seinem Tode gepflegt."

Rudolf Steiner hat lange gesucht, bis er eine freimaurerische Strömung fand, an die er anknüpfen konnte. Er hat dann jene gewählt, die ihm schicksalsmäßig durch die Anfrage zweier tschechischer Freimaurer entgegenkam und die als Misraim-Strömung von Cagliostro, den Rudolf Steiner nicht für einen Betrüger hielt, und Karl von Hessen ausgegangen war.

Wir haben gesehen, dass in der Zeit zwischen 1770 und 1820 in der Freimaurerei sich eine Strömung geltend gemacht hat, die beanspruchte, ein uraltes Wissen weiterzutragen, aber ein Wissen, das nicht aus den alten Mysterien, sondern aus „neuen Mysterien“ hervorgehe. Zentraler Inhalt dieser „neuen Mysterien“ war die Verbundenheit des Menschen mit Christus. Ein Wissen von der Reinkarnation, genannt Rotationslehre, war dasjenige, das „alles erklärte“. Auch die Reinkarnationsreihen einzelner Menschen glaubte man erkannt zu haben. Insbesondere im Umkreis Lavaters und Karls von Hessen hatten sich damals demnach die Menschen, die einst im Umkreis Christi gelebt hatten, wieder versammelt. Man wusste in diesem Kreis auch um die Identität des Grafen von St. Germain mit Johannes. In diesem großen weit über Mitteleuropa, Nordeuropa und Frankreich verteilten Kreis war auch eine Mysteriengeschichte vorhanden. Karl von Hessen traute sich zu, den Ritualen einen Einweihungsweg einzuverleiben, den abgeneigte nicht bemerken, suchende aber wohl finden mussten. Eine umfassende menschenkundliche Kenntnis ist dazu nötig. Während in der geistigen Welt Michael die Geschichte der Mysterien mit den Michael-Schülern „durchgeht“, wurde unten auf der Erde von diesem Kreis dasselbe versucht. Man sprach sogar von alten und neuen Mysterien.

Am Beispiel von Sternenhimmel und Sarg haben wir gesehen, dass man wie in Goethes Märchen und in den Geheimnissen noch in Bildern blieb. Aber es waren die Bilder der Michael-Schule.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Michaelschule in der Zeit um 1800 - zumindest auch - in den Hochgraden der Maurerei Karl von Hessens, des Freundes Saint-Germains, gezeigt hat.

Frömmigkeit

Ich möchte enden mit einem Spruch, den Else Klink manchmal an ihre Eleven weitergegeben hat. Der Eurythmist Harald-Viktor Koch hat ihn mir in ihrer Handschrift zur Verfügung gestellt:

 

Alter Freimaurer-Spruch

 

Ohne Vorbehalt und ohne Sorgen

Leg‘ ich meinen Tag in deine Hand.

Sei mein Heute, sei mein gläubig Morgen,

Frage nicht nach meinen Sehnsuchtswegen,

Bin zu deinem Bau ein Stein

Wirst mich an die rechte Stelle legen,

deinen Händen bette ich mich ein.

Die Michaelschule und die Freimaurerei im 18.Jahrhundert. Vortrag von Rolf Speckner.
Die Michaelschule, in der Michael zwischen 1780 und 1820 in der geistigen Welt gewaltige imaginative Bilder vor seine Schüler hingestellt hat, hat sich später in der Anthroposophie in begrifflicher Form offenbart. Damals hat sie sich in den freimaurerischen Hochgraden ausgewirkt, besonders in den von Carl von Hessen geleiteten. An Carl von Hessen knüpfte Rudolf Steiner ab 1906 mit seinen maurereiähnlichen Riten an.
Die Michaelschule und die Freimaurerei i[...]
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